1. Kapitel

Reykjavík,

Frühling 2008

Es war noch immer hell draußen, obwohl es bereits auf Mitternacht zuging. Die Tage wurden länger und länger. Zu dieser Jahreszeit gab es nichts Besseres, als dass jeder Tag, heller als der Tag zuvor, die Hoffnung auf bessere Zeiten mit sich brachte. Und es war auch im Leben von Ari Þór Arason hell geworden. Kristín, seine Freundin, war endlich zu ihm in seine kleine Wohnung in der Öldugata eingezogen. Das war nichts anderes als eine logische Folge davon, was sich vorher abgespielt hatte. Sie hatte ohnehin die meisten Nächte bei ihm verbracht, außer wenn Prüfungen bevorstanden, dann saß sie oft bei ihren Eltern und lernte in Ruhe bis spät in die Nacht, so dass es sich nicht mehr lohnte, zu ihm herüberzukommen.

Kristín kam ins Schlafzimmer, frisch geduscht, das Handtuch um die Hüften gewickelt. »Ach du lieber Himmel, bin ich müde – ich verstehe manchmal nicht, warum ich mich für dieses verdammte Medizinstudium entschieden habe.«

Ari saß an seinem kleinen Schreibtisch im Schlafzimmer und blickte zu ihr hoch. »Du wirst eine phantastische Ärztin werden.«

Sie legte sich mitten aufs Bett, auf die Decke, und räkelte sich. Auf der weißen Bettdecke sah ihr blondes Haar wie eine Krone aus. Wie ein Engel, dachte Ari und betrachtete sie, wie sie die Arme ausstreckte und sie in weichen Bewegungen wieder heranzog.

Wie ein Schneeengel.

»Danke, Liebling. Und du wirst ein phantastischer Polizist.« Und fügte dann hinzu: »Du hättest aber trotzdem das Theologiestudium vorher abschließen sollen.«

Das wusste er selber auch; brauchte es nicht auch noch von ihr zu hören. Zuerst war es die Philosophie – auch dieses Studium hatte er abgebrochen –, dann die Theologie. Auch die hatte er aufgegeben, um sich anschließend an der Polizeischule anzumelden. Ari hatte es nie geschafft, wirklich Wurzeln zu schlagen, war stets auf der Suche nach etwas Originellem, etwas Spannendem. Für Theologie hatte er sich nur aus einem inneren Konflikt heraus entschieden, denn an die Existenz eines Gottes glaubte er definitiv nicht. Dieser Gott, der ihn um eine unbeschwerte Jugend gebracht hatte, als er dreizehn war – als seine Mutter starb und sein Vater spurlos verschwand. Erst als er Kristín kennengelernt und es schließlich vor zwei Jahren geschafft hatte, das Rätsel um das Verschwinden seines Vaters zu lösen, hatte er ein gewisses inneres Gleichgewicht gefunden. Und da hatte sich auch die Idee in seinem Kopf festgesetzt, eine Bewerbung bei der Polizeischule abzugeben. Er würde mit Sicherheit einen besseren Polizisten als Pfarrer abgeben. Denn während dieser Ausbildung musste man auch eine bessere körperliche Verfassung vorweisen. Um die Schultern war er jetzt viel kräftiger als zuvor; er stemmte Gewichte, schwamm und lief – so gut in Form war er bei der Lektüre der dicken theologischen Schwarten, in denen er Tag und Nacht gelesen hatte, nicht gewesen.

»Ja, ich weiß«, antwortete er ein wenig irritiert. »Ich habe die Theologie nicht aufgegeben – habe nur eine Pause eingelegt.«

»Du solltest einfach das Studium schnell zu Ende bringen, solange du alles noch frisch in Erinnerung hast – es ist schwierig nach ein oder zwei Jahren den Faden wieder aufzunehmen«, meinte sie. Ari wusste allerdings, dass sie in diesem Moment nicht aus eigener Erfahrung sprach. Sie hatte stets alles zu Ende gebracht, was sie begonnen hatte. Sie absolvierte eine Prüfung nach der anderen, nichts konnte sie aufhalten, und nun würde sie ihr Studium bereits nach fünf statt nach sechs Jahren abschließen. Er empfand aber keinen Neid, sondern nur Stolz. Er war sich bewusst darüber, auch wenn sie es nie besprochen hatten, dass sie früher oder später ins Ausland ziehen müssten, damit sie dort ihr weiteres Studium absolvieren konnte.

Sie schob sich ein dickes Kissen unter den Kopf und schaute in Aris Richtung. »Stört es dich nicht, den Schreibtisch im Schlafzimmer stehen zu haben? Ist diese Wohnung nicht allmählich zu klein für uns?«

»Zu klein? Nein, ich finde sie toll – ich will auf keinen Fall aus der Innenstadt wegziehen.«

»Nein, schon gut, hat ja auch keine Eile.« Sie lehnte sich zurück, der Kopf verschwand im Kissen.

»Die Wohnung ist nun wirklich groß genug für uns beide.« Ari erhob sich. »Wir müssen uns einfach nur noch enger zusammenkuscheln.« Er kroch aufs Bett, schälte sie aus ihrem Handtuch, legte sich vorsichtig auf sie und küsste sie zärtlich. Sie erwiderte den Kuss, umschlang seine Schultern und zog ihn noch enger zu sich.