20. Kapitel
Siglufjörður,
Sonntag, 11. Januar 2009
Ugla saß am Klavier und spielte einen alten isländischen Schlager, ein leichtes Stück aus der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, das sie auswendig kannte und Hrólfur besonders gefallen hatte. Sie spielte es beinahe unbewusst, während sie auf Ari wartete – er war etwas spät.
Es bereitete ihr immer noch Mühe zu glauben, dass Hrólfur tot war. Er schien im Vergleich zu seinem Alter so fit zu sein … Zum Teufel nochmal, warum nur hatte er auf dem Weg die Treppe hinunter nicht aufgepasst? Dann könnte sie ihn noch immer zum Kaffee besuchen. Dann erinnerte sie sich an den Streit … hatte er etwa mit einem Missgeschick geendet? War Hrólfur vielleicht sogar gestoßen worden?
Sie musste allerdings gestehen, dass er an diesem Abend schon ziemlich getrunken hatte. Sie hatte stets versucht, ihn zu meiden, wenn er sich ein Gläschen genehmigt hatte – der Alkohol verstärkte seine Nachteile, seine Fehler –, und er hatte schnell begriffen, dass sie ihn unter diesen Umständen nicht hatte treffen wollen. Lud sie nie zum Kaffee ein, außer wenn er stocknüchtern war. Sie wusste genau, dass sie ihn noch unglaublich vermissen würde – manchmal war er in seinem Auftreten richtig unangenehm gewesen, doch tief drinnen war er lieb wie ein Lamm. Plötzlich dachte sie über sich selbst nach. Hrólfur hatte im Theaterverein stets seine schützende Hand über sie gehalten – dessen war sie sich vollkommen bewusst. Und was jetzt? Würde ihre Stellung sich ändern? Im Augenblick würde man ihr die Hauptrolle kaum wegnehmen, doch vielleicht das nächste Mal. Es wäre möglich, dass dann Anna nächstes Jahr die Hauptrolle bekommen würde.
Die Premiere war verschoben worden. Úlfur hatte allen am Samstag eine E-Mail geschickt. Zwei Wochen Frist. Die Mail war kurz und klar, kein Wort unnötig vergeudet.
Selbstverständlich blieb nicht viel mehr übrig, als die Premiere zu verschieben. Ugla hätte die Sache allerdings hinter sich bringen wollen – sie hatte sich die ganze Woche auf die Vorstellung vorbereitet, genau wie auf eine schwierige Prüfung –, und nun musste sie auf einmal zwei Wochen länger warten.
Sie blickte kurz zur Uhr an der Wand. Spürte, dass sie sich auf Ari freute; nicht nur, weil er ihr einziger Schüler war. Sie freute sich darauf, mit ihm zu plaudern. Seine Anwesenheit hatte etwas Beruhigendes. Sie konnte auch nicht von der Hand weisen, dass er gut aussah, durchtrainiert – und dennoch war es etwas anderes, warum sie sich zu ihm hingezogen fühlte, etwas Undefinierbares und Ungreifbares. Er schaffte es auf irgendeine Art, mit den Augen und dem Mund gleichermaßen zu lächeln. Stand sie etwa auf ihn? Die Auswärtige hatte sich in den Auswärtigen verguckt? Nein, kaum … und doch – sie hatte es sich bis dahin noch gar nicht überlegt. Sie wusste nicht einmal, ob er nicht eine Freundin hatte im Süden; sie hatten nie darüber gesprochen, er hatte aber auch kein einziges Wort darüber verlauten lassen. Trug zumindest keinen Ring.
Sie erschrak, als sie das Klopfen an der Tür vernahm. Eine halbe Stunde zu spät. Sie lächelte; immerhin war er gekommen.
Sie erschrak zu Tode, als sie die Tür öffnete, und vergaß alle Formalitäten: »Ja, aber … was ist denn passiert?«
Er trug ein großes Pflaster auf der Stirn, über der linken Augenbraue, und weitläufige blaue Flecken umsäumten das Pflaster.
Ari lächelte. »Ich wünschte, ich könnte dir sagen, dass ich in einen Kampf mit einem Kriminellen verwickelt worden bin«, sagte er. »Willst du mich nicht hereinbitten?«
»Du bist viel zu spät, aber komm rein in die gute Stube.«
Als sie sich gesetzt hatten, fragte sie erneut: »Was ist denn eigentlich passiert?«
»Ich bin gestolpert.«
Sie hatte das Gefühl, dass etwas mehr dahinter steckte; sie schwieg und wartete.
»Vorletzte Nacht ist jemand bei mir eingebrochen … oder, ja – wie nennt man denn eigentlich einen Einbruch, wenn das Haus nicht verschlossen ist?«
»Die Leute hier mögen es nicht, ihre Häuser abzuschließen. Auch zu Hause in Patreksfjörður nicht. Hast du ihn erwischt?«
»Nein«, Ari zeigte auf das Pflaster, »ich bin in der Dunkelheit hingefallen, landete auf dem Wohnzimmertisch – schwankte ein wenig; dann blutete es in Strömen aus der Wunde – ich musste die Blutung stoppen und konnte ihn nicht verfolgen, elender Nichtsnutz. Ich glaube nicht, dass hier jemand schon jemals in so einer Situation gewesen ist.«
»Vielleicht nur Auswärtige.« Sie lächelte.
»Vielleicht.«
»Ist es genäht worden?«
»Nein … ich habe einfach versucht, es mit einem Pflaster abzudecken, ich denke, das wird schon wieder.«
»Nichts Schlimmes?«
»Hoffentlich nicht. Ein kleiner Schmerz im Kopf – mir tut die Schulter viel mehr weh, da ich blöd auf ihr gelandet bin.«
»Weißt du, wer das war?«
»Nein, keine Ahnung. Ich habe Tómas davon erzählt, doch er nahm es nicht sehr ernst, um ehrlich zu sein. Meinte, dass so was manchmal vorkäme, dass ein paar der Polizei wohl Bekannte einfach in das falsche Haus schlichen, wenn sie einen zuviel über den Durst getrunken hätten – er sagte, dass ich es einfach auf sich beruhen lassen solle; dass ich dankbar sein solle, dass er nicht zu mir ins Bett geschlichen sei, auf dem Weg ins Bett zu seiner Frau!«
Sie lächelte.
»Und was denkt Tómas …«, sie zögerte und fuhr dann fort, »… was denkt er über Hrólfur?«
»Hrólfur?«
»Ja – war es nur ein Unfall?«
Er zögerte. Sie realisierte, dass es möglicherweise schwierig für ihn war, über einen Fall zu reden, der gerade untersucht wurde.
Er antwortete mit einer Frage: »Ja, war es das nicht?«
»Was glaubst du?«
»Tómas ist sich sicher. Ganz sicher. Er möchte am liebsten nicht viel Aufhebens darum machen. Ich glaube, er findet es fast etwas unangenehm; ein bekannter Schriftsteller fällt die Treppe hinunter – betrunken …«
»Wie Jónas?«
»Wie Jónas.«
»Aber was denkst du denn?«, fragte sie erneut.
Er legte den Kopf in seine Hände, als ob er das Kopfweh mildern wolle. »Ich habe es mir eigentlich noch nicht wirklich überlegt.«
»Es war sicher dieser Streit«, sagte sie schließlich.
»Streit?«
»Ja, zwischen Úlfur und Hrólfur.«
»Nanu, davon habe ich nichts gehört«, sagte Ari. »Worüber haben sie denn gestritten?«
»Alles und nichts, eigentlich. Doch es wurde ständig schlimmer, je länger der Abend dauerte. Sie waren oben auf dem Balkon, alle beide – miesepetrig und genervt. Hrólfur hat sich unglaublich in alles eingemischt; er hatte ganz offensichtlich getrunken – und Úlfur nervte wegen allem. Zum Schluss war es ein richtig lauter Streit. Ich kann mich noch gut daran erinnern, was Úlfur gesagt hat …«
Sie zögerte einen Moment, fuhr dann aber fort.
»… du schweigst vielleicht, wenn du tot bist. Da schwiegen alle. Úlfur machte kurz darauf eine Probenpause; eine Essenspause – und dann, ja … als wir wiederkamen, war Hrólfur tot.«
»Du glaubst doch nicht etwa …«
Sie wurde sich auf einmal bewusst, was ihre Worte eigentlich aussagten.
»Nein, das kann nicht sein – außer vielleicht, ja, außer vielleicht, dass es unbeabsichtigt … ein Unfall …« Sie schwieg einen Moment und sagte dann: »Úlfur ging allerdings als Letzter, wenn ich mich richtig erinnere. Es war keiner mehr im Saal oder im Foyer, als Kalli und ich raus gingen – wir sind gemeinsam nach Hause gegangen, er wohnt nicht weit von hier, in der Þormóðsgata. Ich erinnere mich, dass Anna schon gegangen war, Pálmi war bereits draußen – aber Úlfur war noch oben auf dem Balkon bei Hrólfur … Er ist wahrscheinlich kurz nach mir gegangen.«
»Ja«, sagte Ari. »Das war es wahrscheinlich.«