31. Kapitel
Siglufjörður,
Samstag, 17. Januar 2009
Die Straßenverhältnisse forderten dem kleinen Polizeigeländewagen alles ab. Wäre es vielleicht nicht doch besser gewesen, zu Hause zu bleiben und nach und nach im Haus eingeschneit zu werden, während die Schneewehen höher und höher wurden? Die Häuser sahen im Schneetreiben alle gleich aus, verschwommene Einfamilienhäuser hinter dichtem Schneegestöber. Nach einem misslungenen Versuch, bei dem Ari den Wagen bereits geparkt und dann gesehen hatte, dass es die falsche Hausnummer war, fand er zum Schluss das richtige Haus. Es schien ziemlich geräumig zu sein; ein Einfamilienhaus mit zwei Stockwerken, einem Keller und einer Doppelgarage.
Es gab keinen Zweifel daran, dass Anna nervös war wegen seines Besuchs, obwohl sie ihr Bestes tat, um es zu verbergen. Sie begrüßte ihn mit Handschlag, mit verschwitzter Handfläche und einem künstlichen Lächeln; der Blick war unstet, sie vermied es, ihm direkt in die Augen zu sehen.
Die Kellerwohnung war klein und eher düster, alle Fenster waren verdunkelt.
»Es ist am besten, die Vorhänge zuzuziehen«, sagte Ari, um das Eis zu brechen, »dann braucht man sich wenigstens den ganzen Schnee nicht anzuschauen, der sich vor dem Fenster so ansammelt.«
Sie lachte verlegen.
»Ja … nein, nein – ich mag den Schnee. Könnte am Fenster sitzen und ihn ununterbrochen anschauen. Ich wollte, ich wäre immer noch sieben oder acht und könnte hinausgehen und mich auf einem Schneebob die Hänge hinuntergleiten lassen.«
»Ja, genau.« Er wünschte, er könnte dem Schnee ebenfalls so viel Positives abgewinnen.
Sie setzten sich an den Küchentisch, der wahrscheinlich auch als Esszimmertisch diente, wenn man so wollte, ein dunkelbrauner Holztisch; eine Topfpflanze, die er nicht beim Namen nennen konnte, stand darauf.
»Soll ich die Vorhänge öffnen?« Sie wollte aufstehen.
»Nein, ganz und gar nicht – das ist schon in Ordnung so. Ich bleibe nicht lange – muss dir einfach nur ein paar Fragen stellen wegen Hrólfur.«
Sie sagte nichts.
»Wir haben heute eine Information erhalten, nach der Hrólfur vielleicht etwas entdeckt hatte, von dem er, tja, besser nichts erfahren hätte.«
Sie nickte mit dem Kopf.
»Hast du irgendein Gefühl, ob da so etwas war? Versucht jemand, in eurer Truppe etwas zu verbergen?«
Ihre Augen schnellten hoch, doch sie versuchte, Ruhe zu bewahren, verneinte.
»Bist du sicher?« Er fixierte sie mit seinem Blick, sie schaute weg, rieb die Hände aneinander.
»Ganz sicher.« Sie legte eine Hand auf den Tisch und hob sie gleich wieder hoch, nasser Schweiß blieb zurück. »Ganz sicher«, wiederholte sie und versuchte, den Schweiß mit dem Ärmel wegzuwischen, so dass es nicht auffiel.
»Glaubst du, dass jemand ihn gestoßen hat? Wollte jemand den alten Mann loswerden?« Seine Stimme klang fester, obwohl er sich jetzt selbst ziemlich mies fühlte, und das nur aus dem Grund, weil sie sich ziemlich mies fühlen musste. »Irgendein Geheimnis, das es zu bewahren galt – koste es, was es wolle?«
Sie stand auf. »Entschuldige, ich hole mir nur rasch ein Glas Wasser.« Sie ging zum Spülbecken und drehte den Wasserhahn auf, bevor sie antwortete: »Es tut mir leid, das kann ich mir nicht vorstellen.«
»Seid ihr immer gut miteinander ausgekommen, Hrólfur und du?«
»Ja, klar.«
Ari glaubte zu wissen, wo es bei Anna einen Schwachpunkt gab, und peilte ihn direkt an.
»Spielst du die Hauptrolle in dem Stück, das ihr gerade probt?«
»Nein.« Kurz und markant.
»Nanu? Entschuldige, ich habe gedacht, dass … wurde sie dir vorgezogen, die Auswärtige?«
»Ugla?«
»Ja, Ugla, genau.«
Ari wartete darauf, dass sie sich wieder setzen würde. Sie klammerte sich am Wasserglas fest.
»War es Hrólfur, der das entschieden hat?«
»Ja … ich denke, dass es eine gemeinsame Entscheidung war – von Úlfur und ihm.«
»Du warst damit bestimmt nicht einverstanden.«
Sie hielt das Glas noch immer fest umklammert.
»Nein.«
Ari schwieg. Wartete.
»Nein«, wiederholte sie. »Es war sehr ungerecht. Sie hat es nicht verdient. Hrólfur hat sie natürlich sehr gemocht.«
»Wie das denn?« Ari konnte aufatmen, es war also doch möglich, in diesem Dorf etwas geheim zu halten. Anna hatte allem Anschein nach nichts von seiner Freundschaft mit Ugla mitgekriegt.
»Sie hatte ja die Wohnung bei ihm gemietet. Ich glaube, dass er sie mit der Zeit wie eine Art Tochter betrachtete.«
»Hatte er keine Kinder?«
Die Frage kam anscheinend für sie gänzlich unerwartet. »Nein, ich dachte, dass ihr das wisst.«
Ari wechselte wieder zum ersten Thema.
Das Eisen schmieden, solange es heiß ist.
»Man könnte also sagen, dass deine Situation in gewisser Weise besser geworden ist, seit er tot ist.«
»Wie meinst du das? Glaubst du, dass ich ihn gestoßen habe?« Anstatt wütend zu werden, wurde sie offensichtlich noch nervöser.
»Nein, wirklich nicht.« Es reizte ihn, sie geradeheraus zu fragen, ob sie es denn getan habe, hielt sich aber zurück. Er durfte seiner Laune nicht einfach freien Lauf lassen. Musste sich selber eingestehen, wie unwahrscheinlich es war, dass ein junges Mädchen einen alten Mann die Treppe hinunterschubste, um die Hauptrolle in einem Stück eines Amateur-Provinztheaters in einem kleinen Dorf auf dem Lande zu ergattern. Aber es war offensichtlich, dass sie etwas zurückhielt. Hatte es etwas mit Hrólfurs Entscheidung zu tun, ihr die Hauptrolle nicht zu geben? Wollte sie dieses Gesprächsthema umgehen? Wollte sie einfach nicht zugeben, dass sie Hrólfur nicht mochte? Oder steckte etwas anderes dahinter? Irgendein anderes Geheimnis, das kein Tageslicht vertrug?
Schließlich trank sie einen Schluck Wasser. Den ersten Schluck. Ari hätte gerne ein Glas Wasser angenommen, wenn sie ihm eines angeboten hätte. Es war heiß in der kleinen Wohnung, alle Fenster waren geschlossen.
Er hatte bemerkt, dass sie die Kleider gewechselt hatte; er konnte sich nicht mehr erinnern, was genau sie bei der Beerdigung getragen hatte, aber auf alle Fälle etwas anderes als den roten Wollpulli und die schwarze Sporthose, die sie nun trug. Ari war dagegen in seinem schwarzen Anzug gefangen wie in einem Albtraum.
Es war nun genug der aufdringlichen Fragen. Er musste die Situation etwas entspannen; hoffte, dass sie von sich aus etwas sagen würde. »Studierst du noch oder arbeitest du?«
»Ich arbeite. Ich habe die Uni im letzten Sommer abgeschlossen.«
»Habe ich dich nicht neulich im Supermarkt gesehen?«
»Doch, ich arbeite dort – und im Krankenhaus.«
»Dann kennst du wohl auch Linda?«
»Ja, wir arbeiten zusammen – wie geht es ihr eigentlich?«
Sie schien aus ehrlicher Sorge heraus zu fragen.
»Man kann es jetzt unmöglich schon sagen, wie es weitergeht.«
»Habt ihr irgendeine Idee, wer das gewesen sein könnte?«
»Das untersuchen wir gerade«, antwortete Ari kurz angebunden.
»Hat er es getan? Kalli?«
Ari versuchte, aus der Frage etwas herauszulesen. Vielleicht einfach nur Neugierde.
»Nein, er ist unschuldig.«
»Nanu … bist du da ganz sicher?«
»Ja, es deutet alles darauf hin, dass er sich zu diesem Zeitpunkt woanders aufgehalten hat. Warum fragst du?«
»Ja … eigentlich einfach so … ich habe einfach nur überlegt … überlegt wegen dieser Lebensversicherung.«
»Lebensversicherung?«
»Ja … aber dann ist das ja in Ordnung, wenn er unschuldig ist.«
»Von welcher Lebensversicherung sprichst du?«, fragte Ari streng.
»Diesen Herbst kam ein Vertreter in das Krankenhaus, hat Lebensversicherungen verkauft. Wir haben alle eine Versicherung abgeschlossen.«
»Weißt du, wer sie ausbezahlt bekommt, wenn sie … wenn sie stirbt?«
»Ja, Kalli bekäme das. Linda und ich haben das damals besprochen, als wir beschlossen haben, zuzuschlagen.«
»Und weiß Kalli davon?« Vielleicht war sie nicht die richtige Person, um danach zu fragen, doch er versuchte es einfach.
»Das weiß ich nicht«, antwortete sie, etwas aufgeregter, als die Situation es verlangt hätte.
»Handelt es sich um einen hohen Betrag?«
»Einige Millionen Kronen, wenn ich mich richtig erinnere.«
Der Fall nahm immer wieder eine neue Wendung – immer wieder aufs Neue zeigten die Speere auf Kalli. Auf den Mann mit dem scheinbar perfekten Alibi. Zum Teufel nochmal. Ari verabschiedete und bedankte sich; obwohl ihm nichts angeboten worden war, hatte er doch eine reichhaltige Kost in Form von Informationen erhalten.
Der Winter kam ihm entgegen, als er die Tür öffnete. Der Winter, in seiner ganzen Pracht oder mit all seiner Ungemütlichkeit.
Eiskalte Dunkelheit umschloss ihn.