34. Kapitel

Siglufjörður,

Montag, 19. Januar 2009

Sie saß allein in der Dunkelheit. Nicht zum ersten und auch nicht zum letzten Mal.

Keine Probe heute – sie blieb lieber zu Hause, als alleine im Kino zu sein. Es war ohnehin unwahrscheinlich, ihn vor der nächsten Probe dort anzutreffen, zudem war es schwierig, mit den Krücken im Schnee vorwärts zu kommen. Verflixtes Unglück, sich das Bein zu brechen.

Sie fühlte sich in der Dunkelheit wohl, da wurde sie von niemandem gesehen, und auch sie sah niemanden. Sie war in den letzten Tagen komplett verwirrt gewesen. Es war ihr einiges misslungen – und sie konnte keinen dafür verantwortlich machen, außer sich selbst. Verdammtes Missgeschick. Aber sie hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, vielleicht würde es nicht ans Licht kommen – vielleicht würde sie nicht dafür verantwortlich gemacht werden, obwohl sie ihr Vorhaben nicht hatte durchführen können. Sie hatte ihr Bestes getan.

Sie zählte die Tage, die Minuten – die Zeit wurde immer kürzer, bis sie ihn treffen würde. Eines Tages würde sie ihren ganzen Mut zusammennehmen und etwas sagen. Sie hatte sich immer vor seiner Reaktion gefürchtet, vor seiner Zurückweisung. Wenn man so wollte, fürchtete sie vielleicht nur seine Nähe, es hatte ihr schon immer Mühe bereitet, über ihre Gefühle zu sprechen. Vielleicht wäre es anders gewesen, wenn ihre Mutter damals etwas unternommen hätte, etwas anderes, als sie nach Reykjavík zu schicken. Das war eine äußerst einfache und billige Lösung gewesen.

Aber jetzt würde es nicht mehr lange dauern, bis sie es von sich geben würde. Nun verband sie ein Geheimnis. Es war schwierig, demjenigen ein Nein zu sagen, mit dem man ein Geheimnis teilte, nicht zuletzt, wenn es sich bei dem Geheimnis um Mord handelte.

***

Er konnte sich nicht vorstellen, mit Ugla zu reden. Nicht sofort. Und doch konnte er nicht aufhören, an sie zu denken.

Þorsteinn hatte damit gewartet, die Erben über das Testament aufzuklären, hatte aber geplant, sie später am selben Tag zu kontaktieren.

Er fragte sich ohne Unterlass, ob Ugla über das zu erwartende Erbe Bescheid gewusst hatte. Konnte er in diesem Dorf überhaupt jemandem vertrauen?

Tómas hatte ihn gebeten, die Sache zu verfolgen; bei den Erben nachzufragen, nachzuhaken.

Pálmi machte einen müden Eindruck, als er zur Türe hereinkam. Er schien nicht besonders verwundert zu sein, Ari zu sehen.

Er hörte Stimmengemurmel aus der Küche, die alte Dame aus Dänemark unterhielt sich offensichtlich mit ihrem Sohn.

»Du möchtest wahrscheinlich über das Erbe reden«, sagte Pálmi ohne Einleitung. »Þorsteinn hat mich angerufen.«

»Ja, wenn du Zeit hast.« Ari versetzte sich im Nu in die Rolle eines Pfarrers, höflich, warmherzig. Das war aber nur eine Rolle, nur ein Spiel.

Sie setzten sich ins Wohnzimmer.

»Hast du etwas davon gewusst?«, fragte Ari.

»Von dem Erbe? Nein, damit hätte ich nie gerechnet.« Es lag aber irgendwie etwas Unruhiges in seinem Blick, etwas, das schwierig zu definieren war.

»Hat er das nie durchblicken lassen?« Ari gab noch nicht auf.

»Nein, nie.« Wieder dieser gleiche Gesichtsausdruck. »So wie ich Þorsteinn verstanden habe, ist es vermutlich von geringem Wert. Heutzutage springt bei diesen Büchern nicht mehr viel heraus.«

»Es ist wohl eher symbolisch, wenn es denn etwas ist?«

»Was, ja. Das kann man wohl sagen.« Immer noch dieser unstete Blick.

Ari schwieg. Wartete.

Pálmi gähnte.

»Entschuldige, ich bin ziemlich abgespannt.«

»Es dauert nicht mehr lange, bis zur Premiere, nicht wahr? Lange Proben?«

»Ja, nein, nein – einfach viel zu tun. Sie sind immer noch hier, die Dänen, wie du vermutlich hören kannst – lassen mich nicht schlafen.« Er versuchte, ein Lächeln hervorzuquetschen. »Sie kommen nicht aus dem Dorf wegen der Lawine.«

»Hast du irgendeine Idee, warum Hrólfur dich auserkoren hat? Zumal er ja im Süden Verwandte hat?«

»Nein, keine Ahnung.« Immer noch müde. Immer noch einen seltsamen Ausdruck im Gesicht. »Vielleicht wollte er, dass die Rechte in der Hand einer Person aus Siglufjörður bleiben – und es gibt eigentlich nur noch wenige hier, die er gut kannte.«

»Úlfur hat den Weinkeller bekommen.«

»Úlfur?« Verwunderung.

»Ja.«

»Nun, tja also – die Flaschen werden dann erwartungsgemäß also im Dorf bleiben. Hat er vor, sie zu verkaufen?«

»Ich habe noch nichts von ihm gehört«, sagte Ari und stand auf.

Die alte Dame und ihr Sohn kamen gerade aus der Küche, als Ari im Eingang stand und auf dem Weg nach draußen war. Er grüßte sie.

»Wie kommen die Ermittlungen voran?«, fragte Mads auf Englisch.

»Ganz gut«, antwortete Ari. »Bleibt ihr lange im Dorf?«

»Wir hatten eigentlich geplant, heute zu fahren, doch wahrscheinlich werden wir ein paar Tage länger bleiben müssen, weil das Wetter ja so schlecht ist.« Er machte ein bedrücktes Gesicht.

Seine Haltung deutete darauf hin, dass er sich lieber in heißeren und helleren Gefilden aufgehalten hätte.

***

Ari hatte Hrólfurs Verwandten im Süden angerufen, der aufgrund der guten Nachricht auf Wolke sieben schwebte – er sagte natürlich, dass er seinen Verwandten vermisse, gestand Ari aber, dass seine Frau und er gerade ihre Wohnung verloren hätten. Es deutete nichts darauf hin, dass der Verwandte eine weitere Verbindung zum Dorf hatte oder zu denen, die an besagtem Abend bei der Probe gewesen waren – doch es durfte nichts ausgeschlossen werden. Úlfur stand als Nächster auf dem Programm, Ugla musste jetzt erst einmal warten. Er konnte sie noch nicht treffen, nicht sofort.

»Verzeih die Fragen neulich, es war ein eher ungeeigneter Ort, da im Hot Pot«, sagte Ari zu Úlfur. Demut war manchmal von Erfolg gekrönt.

Sie saßen am Küchentisch in Úlfurs Haus in der Nähe des Rathauses. Ari hatte Tómas um ein paar Infos zum Regisseur gebeten; dem früheren Diplomaten mit lokalen Wurzeln, der seinen Vater schon sehr jung bei einem fürchterlichen Schiffsunglück verloren hatte, und wieder nach Norden gezogen war, als seine Mutter im hohen Alter verstorben war. Er hatte nur wenige Freunde im Dorf. »Geschieden … eher einsam, denke ich«, hatte Tómas mit erstaunlich besorgter Miene gesagt.

»Mach dir nichts daraus, lieber Pfarrer.« Úlfur beugte sich vor und schlug Ari leicht auf die Schulter. Die schmerzende Schulter. Verdammt. Er musste sie untersuchen lassen.

Der Schneesturm peitschte an das Küchenfenster, doch das Wetter schien keinen schlechten Einfluss auf Úlfur zu haben. Er schien im Gegenteil ziemlich guter Laune zu sein.

»Du wirst lange an diesem Wein zu trinken haben«, sagte Ari.

»Soviel ich weiß, handelt es sich um eine Unzahl von Flaschen.«

»Ja, und bestimmt ist die eine besser als die andere.«

»Das hat dich doch hoffentlich positiv überrascht.«

»Das kann man wohl sagen. Ich hatte ganz ehrlich von dem Kerl gar nichts erwartet. Doch genau so war Hrólfur zu Lebzeiten; er musste immer das letzte Wort haben.« Úlfur lächelte. »Ich bereue es so sehr, mich an diesem Abend mit ihm gestritten zu haben. Manchmal ging er mir richtig auf den Wecker.«

»Ja, ihr wart nicht immer einer Meinung, nicht wahr?«

»Nein, wahrlich nicht.«

»Genau. Er war zum Beispiel unzufrieden mit deinem Stück.«

»Ja«, antwortete er, da es so offensichtlich war. Doch dann bemerkte er es und war beleidigt.

»Was meinst du damit?«

»Schreibst du nicht auch Theaterstücke?«

»Doch, woher zum Teufel weißt du das?«, fragte er erregt.

»Ich glaube, dass er nicht sehr begeistert davon war.«

»Ja, er war von Pálmis Werken weit mehr beeindruckt«, sagte Úlfur, der sich etwas beruhigt hatte, stattdessen nun aber einen verlegenen Eindruck machte.

»Nun, dann also.« Ari stand auf und sagte höflich: »Aber das wird ab jetzt ja kein Problem mehr sein.«

»Problem? Was meinst du?« Úlfur schien erneut sauer zu werden.

»Na, dein Stück. Hrólfur wird dir jetzt nicht mehr im Weg stehen, um es auf die Bühne zu bringen.«

Úlfur stand so abrupt auf, dass der Stuhl beinahe rückwärts umgefallen wäre.

»Was zum Teufel willst du damit andeuten, Junge? Glaubst du, dass ich einen Mann getötet habe? Glaubst du, dass ich einen Mann getötet habe, einfach nur, um mein Stück auf die Bühne zu bringen?«

»Wir sollten den Wein nicht ganz vergessen«, sagte Ari und grinste.

Was ist bloß in mich gefahren?, dachte er bei sich, als er zur Tür ging, ohne sich zu verabschieden.

Er gab dem Wetter die Schuld. Das passte gerade so gut.