17. Kapitel
Siglufjörður,
Freitag, 9. Januar 2009
Hier passiert nie etwas.
Das Foyer des Kinos war großartig, die Plakate öffneten den Zugang zu einer Welt vergangener Zeiten, die Geschichte hing in der Luft – hier in Siglufjörður war die Kunstgöttin in schlechten wie in guten Zeiten stets zugegen gewesen. In den goldenen Jahren des Dorfes waren vom Theaterverein verschiedene Stücke auf die Bühne gebracht worden, als so viel Hering im Meer herumschwamm, dass Tag und Nacht gesalzen werden musste. Hier waren auch Stücke inszeniert worden, als der Hering schon längst wieder verschwunden war, als Wohlstand nichts anderes mehr als ein Begriff im Wörterbuch der Dorfeinwohner war. Auf der Bühne waren Romanzen entfacht worden und Liebesglühen erloschen, dort hatten Menschen gelebt und waren dort gestorben – ja sogar ermordet worden, vor einem vollen Saal von Zuschauern.
Es hatte seit der Kaffeezeit ununterbrochen geregnet, doch nun hatte sich der Himmel etwas aufgehellt. Ari war kein besonders interessierter Theaterbesucher, hatte aber die Spannung, die einem guten Stück folgte, doch auch schon miterlebt. Die Spannung in der Luft war manchmal richtig greifbar – doch das war nur gerade mal ein feiner Hauch, verglichen mit der Stimmung im Kino an diesem Freitagabend. Es gab keine Vorstellung auf der Bühne, und der Saal war leer. Das Einzige, was vor Tómas und ihm, die beide an diesem Abend Dienst hatten, aufgetaucht war, war ein bewegungsloser Körper. Ein toter Körper, daran gab es keinen Zweifel. Tómas versuchte dennoch, den Puls zu erspüren, doch vergeblich.
Beim Theaterverein hatte man zweifelsohne auch schon früher einmal Blut gesehen, zumindest so etwas, das in den Augen der Zuschauer wie Blut ausgesehen hatte. Das Blut, das aus der Wunde am Kopf des alten Mannes geflossen war, wirkte trotz allem erschreckend unwirklich. Als ob es hier nichts zu suchen hätte. Wie Ketchup in einem billigen Gruselspiel.
»Er ist die Treppe heruntergefallen«, sagte Ari.
»Das kann jeder sehen«, sagte Tómas mit barschem Ton, die gute Laune, die ihn sonst Tag für Tag auszeichnete, war verschwunden. Er schien sich vollkommen bewusst zu sein, dass es sich hier um eine ernsthafte Angelegenheit zu handeln schien, die es noch mit sich bringen würde, Aufmerksamkeit zu erregen.
Auf dem Boden lag die berühmteste Persönlichkeit des Dorfes, der Schriftsteller Hrólfur Kristjánsson, der zu seiner Zeit einer der bekanntesten Autoren des Landes gewesen war. Obwohl er in den letzten Jahren und Jahrzehnten vielleicht etwas in Vergessenheit geraten war, herrschte dennoch kein Zweifel darüber, dass sein Tod eine Titelschlagzeile auf der ersten Seite sein würde. Es war offensichtlich, dass Hrólfur getrunken hatte; der Alkoholgeruch war stark.
»Zum Teufel nochmal«, sagte Tómas halblaut. »Sie dürfen das nicht preisgeben, die verdammten Journalisten. Du wirst darüber nicht mit den Medien sprechen, das weißt du.« Seine Stimme klang entschlossen.
Ari nickte mit dem Kopf; wusste nicht wirklich, wie er sich verhalten sollte. Tómas war normalerweise väterlich, freundlich – es lag Jahre zurück, seit Ari eine wirkliche Vaterfigur um sich gehabt hatte. Ein gutes Jahrzehnt war vergangen, seit er seinen Vater verloren hatte, weswegen er weder väterliche Zuneigung noch Schelte gewohnt war. Er versuchte, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, machte weiter damit, die Tatsachen aufzunehmen. Hrólfur lag auf dem unteren Absatz der Treppe auf dem Rücken, der Kopf berührte den Boden bei der letzten Stufe.
»Er ist offensichtlich rückwärts gefallen«, sagte Ari. »Das deutet vielleicht darauf hin, dass er gestoßen worden ist.«
»Keine Dummheiten, zum Teufel.« Tómas schien sich allerdings nicht ganz sicher zu sein. »Keine verdammten Dummheiten, Junge.«
Ari fuhr zusammen.
»Konzentriere dich einfach darauf, Fotos zu machen.«
Ari machte Fotos von der Leiche, ging dann ins Foyer und machte Bilder von dem, was ihm gerade vor Augen kam. Nína saß im Kartenverkauf und verfolgte alles mit. Ari war in Gedanken bei der Schelte, die er von Tómas abgekriegt hatte; wollte versuchen, alles richtig zu machen. Sich zu beweisen.
Er steckte die kleine Digitalkamera in die Jackentasche und ging in Richtung Saal, blieb in der Tür stehen und sagte zu Tómas: »Sollten wir nicht die … naja, die Spezialisten dazu rufen?«
»Polizeibeamte aus dem Süden, meinst du? Das ist ein ganz normaler Unfall. Der alte Mann hat …« – er senkte die Stimme – »… hat einfach einen Schluck zu viel genommen. Gestresst, müde – morgen haben sie Premiere bzw. morgen sollte die Premiere sein. Einfach ein ganz gewöhnlicher Unfall. Wir brauchen keine Spezialeinheit herzurufen, die uns dabei hilft, das festzustellen.«
Ari sah, dass Nína sich in der Zwischenzeit dem Kinosaal genähert hatte; sie schien sich kein Wort davon entgehen lassen zu wollen, was die Polizei diskutierte. Sie war abgesehen von ihnen die Einzige im Kinogebäude. Sie wich ihrem Blick aus, als ob sie vertuschen wollte, dass sie gelauscht hatte, zog ihren zerschlissenen roten Mantel an, holte ihren gepunkteten Regenschirm, der an einem Haken in der Garderobe hing, ging in den Kinosaal, holte tief Luft und schaute Tómas an. »Ist es in Ordnung, wenn ich nach Hause gehe? Ich glaube, mir wird schwarz vor Augen – ich habe vorher noch nie eine Leiche gesehen.«
»Ist der Krankenwagen unterwegs?« Tómas richtete seine Worte an Ari, drehte sich dann aber zu Nína um: »Tut mir leid – wir müssen noch mit dir reden, bevor du gehst. Willst du dich nicht einfach setzen und ein bisschen entspannen?«
Sie lächelte ihn müde an und seufzte.
Ari antwortete Tómas zustimmend, der Krankenwagen sei unterwegs, und dann fügte er hinzu: »Dürfen sie den Toten entfernen?«
»Ja, warum nicht – hast du ihn nicht von allen Seiten abgebildet? Das ist an und für sich nicht verdächtig. War noch jemand hier?« Die Frage war direkt an Nína gerichtet.
Sie antwortete nicht, schien in Gedanken woanders zu sein.
Tómas sah sie an und räusperte sich. »Nína – war sonst noch jemand hier, als es passierte?«
»Wie bitte …«, sie zögerte, schaute nach rechts und nach links.
Tómas starrte sie an, seine Geduld schien am Ende.
»War sonst noch jemand anders hier?« Die Stimme dröhnte laut, ein donnernder Bass.
»Ja …«, sie schien nachzudenken. »Nein, ich meine – ich glaube nicht. Ich war in der Essenspause unten im Keller – es gibt unter der Bühne einen Keller, hinter der Bühne führt da eine Treppe hinunter. Ich habe ein bisschen aufgeräumt, wir bewahren die Kostüme und anderes dort im Keller auf, und anschließend habe ich mich auf das alte Feldbett gelegt, das da steht. Ich hatte schon gegessen, hatte während der Probe gegessen; ich war bereits nach Mittag hergekommen und hatte mir für den Tag etwas zu essen mitgenommen. Doch es war sonst keiner im Haus in der Essenspause heute Abend außer mir und Hrólfur, der alleine auf dem Balkon saß.«
»Und bist du sicher, dass keiner hier war, als du die … die Leiche hier gefunden hast?«, fragte Tómas.
Ari hatte sich so gut es ging schon umgeschaut, ob sonst jemand da war außer Nína, als Tómas und er eintrafen. Er war in den Keller hinuntergegangen und hatte auf dem Balkon nachgesehen, wo ein paar alte Stühle und wenige Tische standen. Auf einem Tisch lag eine alte Zeitung; der Tisch, an dem wahrscheinlich Hrólfur und Úlfur gesessen hatten.
»Ja, das ist ganz sicher – ich hatte niemanden gehört.«
»Und weißt du, ob er getrunken hat?«, fragte Tómas.
»Ja, er hatte eine kleine Flasche bei sich – einen kleinen Flachmann. Deswegen vermute ich, dass er in der Essenspause nicht weggefahren ist – schlechtes Wetter, und er war mit dem Wagen da.«
Ari wollte Nína gerade eine Frage stellen, als Tómas ihm zuvorkam.
»Das ist gut so, du darfst jetzt nach Hause gehen und dich ausruhen. Wir werden uns morgen bei dir melden, falls wir noch mehr Fragen haben. Wird sonst niemand mehr hier später erwartet?«
»Doch, Úlfur hat allen eine Stunde frei gegeben, um etwas zu essen. Sie werden bald wieder ins Haus kommen, in ungefähr zehn bis fünfzehn Minuten.«
Die Türen wurden aufgerissen, bevor Tómas das Wort noch einmal ergreifen konnte. Während die Sanitäter das Foyer betraten, verabschiedete sich Nina. Tómas nickte ihnen zu und deutete mit einer Handbewegung in den Saal hinein. Worte waren überflüssig. Sie machten sich ohne Zögern an die Arbeit.
»Ari, kannst du draußen bitte Wache stehen? Die Leute werden wohl bald aus der Pause zurückkommen, es ist nicht nötig, die Leute jetzt ins Haus zu lassen – wir sollten sie wissen lassen, dass es einen Unfall gegeben hat … dass Hrólfur die Treppe hinuntergefallen ist und dabei sein Leben gelassen hat …«