35. Kapitel
Siglufjörður,
Dienstag, 20. Januar 2009
Ari ging früh zur Arbeit, kämpfte gegen den Sturm an.
»Die Straße wird heute nicht mehr geräumt«, sagte Tómas als ungefragte Neuigkeit.
»Hoffentlich bald«, sagte Ari und versuchte zu lächeln.
»Die Vorhersage ist noch für die ganze Woche schlecht. Wir sitzen hier fest, ob es uns gefällt oder nicht.« Er lachte leise, ein unscheinbarer Witz.
Die Frau von der Versicherungsgesellschaft rief im Laufe des Vormittags an. Tómas hatte Ari gebeten, die Lebensversicherung genauer unter die Lupe zu nehmen, und am Tag zuvor hatte er die Versicherungsgesellschaft angerufen. Die Vertreterin, mit der er geredet hatte, wollte die Sache abklären und sich dann wieder melden.
»Entschuldige die Verzögerung, es war gestern bei mir so viel los«, sagte sie.
»Kein Problem.«
Es ist nur die Polizei in Siglufjörður, hier eilt gar nichts.
»Wir haben letzten Herbst einen Vertreter durch das Nordland geschickt, er war auch in Siglufjörður – er hat bei verschiedenen Firmen die Versicherung vorgestellt, darunter auch im Krankenhaus.«
»Hat die Frau, nach der ich dich gestern gefragt habe, eine Versicherung gekauft?«
»Ja, Linda Christensen, nicht wahr? Ja, sie hat eine Versicherung abgeschlossen. Ist sie verstorben?«
»Nein. Wir ermitteln da in einem Fall.«
»Na, hör mal, ist das die Frau, die man im Schnee gefunden hat? War das nicht in Siglufjörður?«
»Ich kann dazu nichts sagen, tut mir leid. Um welchen Betrag handelt es sich denn?«
»Zehn Millionen.«
»Und bekommt ihr Mann alles ausbezahlt, falls … falls sie stirbt?«
»Karl Steindór Einarsson, steht hier, aber sie sind nicht verheiratet, nicht einmal zusammen eingetragen. Er hat seinen Wohnsitz in Kópavogur.«
»Aber er bekommt das Geld, oder wie? Karl?«
»Ja, das ist eindeutig.«
»Es spielt wahrscheinlich keine Rolle, ob die Betreffende aufgrund eines gewaltsamen Verbrechens zu Tode gekommen ist …«
»Nein, das spielt keine Rolle.«
»Kannst du mir die Unterlagen schicken?«
»Ja, das sollte möglich sein. Ich werde sie einscannen lassen und dir im Verlauf des Tages per Mail zusenden. Ich hoffe, dass sie es überlebt, die Frau im Schnee.«
»Danke für die Hilfe.«
Ari drehte sich zu Tómas um.
»Zehn Millionen.«
Tómas schaute auf.
»Er bekommt zehn Millionen, wenn sie stirbt.«
»Glaubst du, dass er es war?«
»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wie er es denn angestellt haben soll.« Ari dachte nach. »Aber es sieht schlecht für ihn aus … davon zu profitieren, wenn sie sterben sollte.«
»Es gibt so vieles, das für Kalli in diesem Fall schlecht aussieht, aber er hat trotzdem von der ersten Minute an die Ruhe bewahrt.«
»Soll ich ihn noch einmal kontaktieren? Mit ihm über die Lebensversicherung reden?«, fragte Ari.
»Wir werden sehen, wir sollten uns nicht unnütz in etwas stürzen. Dieser Fall hängt sowieso in einer unmöglichen Warteschlaufe. Gerade so, als ob durch den verdammten Schnee alles ins Leere laufen würde.« Tómas wirkte ruhiger, als seine Worte verrieten, er war an die winterlichen Zustände gewöhnt, er ließ sich vom Wetter nicht beunruhigen. »Bei einem solchen Unwetter herrscht im Dorf so eine Art Ruhezustand, besonders, wenn die Straße versperrt ist.« Dann fügte er hinzu: »Das wird ein großer Unterschied sein, wenn der neue Tunnel erst fertiggebaut ist. Wir sollten jetzt schon den halben Weg bis in den Héðinsfjörður fahren können, wenn man an den Baumaschinen vorbeikäme.« Er lächelte.
Das war eine kurze Freude, die aber Aris Laune nicht besonders hob.
Vom Regen in die Traufe. Wenn ein Fjord noch abgelegener war als Siglufjörður, dann war es Héðinsfjörður.
»Wir sollten ihn auch nach den Geschichten fragen, die Sandra von Hrólfur gehört hatte; dass jemand im Theaterverein ein Geheimnis hatte«, sagte Ari nach einem kurzen Schweigen. »Sie ließ durchblicken, dass es sich möglicherweise um eine Affäre handelte, etwas in der Richtung.«
»Ja, Kalli kommt in diesem Zusammenhang besonders in Frage. Kalli und dieses Mädchen aus dem Westen. Ugla. Sie ist bestimmt schon weit herumgekommen«, sagte Tómas.
Ari spürte, wie die Wut in ihm hochstieg. Er versuchte, in Gedanken bis zehn zu zählen, sich nichts anmerken zu lassen.
Er stand schnell auf und fuhr gleichzeitig vor Schmerz zusammen. Die Schulter.
»Zum Teufel«, entfuhr es ihm leise.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Meister?«
»Ja, ja – es ist nur die verdammte Schulter. Sie tut mir weh seit …« Er zögerte. »… seit bei mir eingebrochen wurde.«
Klang besser als: Seit ich zu Hause im Wohnzimmer umgefallen bin.
»Na hör mal, du musst das untersuchen lassen.«
»Das wird schon wieder.«
»Du musst sie umgehend anschauen lassen.« Die Stimme klang etwas befehlender. »Wir können keinen verletzten Mann im Dienst gebrauchen, du könntest in irgendwelche Handgreiflichkeiten verwickelt werden.«
»Okay. Ich schaue noch diese Woche im Krankenhaus vorbei.«
»Nein, du gehst sofort hin. Keine Widerrede.«
***
Die Zeit verstrich so langsam. So unglaublich langsam. Sie hatte heute Morgen versucht, das Licht anzuzünden, sich ans Fenster zu setzen und zu lesen, aber sie konnte sich nicht konzentrieren. Die Vorfreude war zu groß. Es dauerte nicht mehr lange, nur noch kurze Zeit, bis sie zusammen sein würden. Sie beide. Allein zu Hause.
Sie verbarg das Beweisstück unter dem Bett. Das war ein gutes Versteck, das wusste sie aus eigener Erfahrung aus alten Tagen. Als sie flüchten musste.
Er würde mit ihr so zufrieden sein. Sie hatte es beiseitegeschafft, so dass er sich nicht zu beunruhigen brauchte. Sie ging das Gespräch in Gedanken immer wieder durch; als sie ihm davon erzählte, wie sie es angestellt hatte – wie sie versucht hatte, es noch besser zu machen, obwohl es misslungen war. Warum nur zum Teufel war es ihr misslungen? Sie konnte so wütend auf sich selbst werden. Hoffentlich wurde er nicht wütend.
Nein, er würde natürlich zufrieden sein. Zufrieden mit ihr.
Und dann … und dann würde sie ihn nach Hause einladen, zum Abendessen.
Sie schien vor Aufregung beinahe zu sterben.
***
Tómas hatte im Krankenhaus angerufen und den Arzt gebeten, Ari zu untersuchen, obwohl er keinen vereinbarten Termin hatte. Es nutzte nichts, dagegen Einwände zu erheben. Ari schlenderte zum Krankenhaus, Tómas wollte den Geländewagen bei der Wache haben, falls etwas passierte. Die Schneewehen bewegten sich vor ihm, wo auch immer er zu gehen versuchte. Obwohl der Sturm sich ein klein wenig gelegt hatte, schneite es immer noch, und die Schneeflocken raubten ihm den Blick, obwohl sie ihn nicht mit so viel Kraft angriffen, wie schon so oft vorher.
Er nahm Platz im Wartezimmer, der Arzt war beschäftigt. Er versuchte, sich zu entspannen, in diesem Moment bereitete ihm alles andere mehr Bedenken, als seine Schulter. Er blätterte in den Klatschheftchen, die meisten waren abgegriffen und nicht mehr aktuell. Nach einer Weile stand er auf und fragte, ob Guðrún Schicht habe.
»Ja«, antwortete die Empfangsdame.
»Könnte ich ein Wort mit ihr wechseln, während ich warte?«
»Ich werde sie holen lassen.« Die Polizeiuniform tat das ihre.
Sie setzten sich an einen kleinen Tisch hinten im Wartezimmer, etwas vom Empfang und dem einzigen Patienten entfernt, der ebenfalls auf den Arzt wartete. Es war am besten, kein Risiko einzugehen.
»Entschuldige, dass ich dich einfach so bei der Arbeit störe«, sagte er und lächelte. Sie lächelte ebenfalls. Eine ältere Dame, eine freundliche Erscheinung.
»Mach dir keine Sorgen«, sagte Guðrún. »Was kann ich für dich tun?«
»Ich wollte dich nach dem Testament fragen, das Hrólfur Kristjánsson aufsetzen ließ – wenn ich das richtig verstanden habe, warst du eine Zeugin.«
»Ja, das ist richtig – es war zu Hause bei Þorsteinn und Snjólaug. Ich habe einfach nur unterschrieben.«
»Ich vermute, dass alles korrekt abgelaufen ist. Hrólfur war hoffentlich selbst anwesend, nicht wahr?«
»Doch, doch, selbstverständlich.«
»Wusstest du, wer ihn beerben würde?«
»Nein, zum Glück nicht – das ging mich nichts an.«
Sie errötete.
»Hast du irgendjemandem gegenüber erwähnt, dass Hrólfur ein Testament verfasst hat?«
»Nein, das habe ich nicht. Er legte besonderen Wert darauf, dass es geheim bleiben sollte. Ich nehme so etwas ernst.«
»Natürlich. Daran habe ich nicht gezweifelt.«
»Wurde er … ermordet?«
Ari hatte keine Gelegenheit, das zu beantworten. Er wurde aufgerufen, bedankte sich bei Guðrún für das Gespräch und eilte zur Konsultation zum Arzt.
Nichts Ernstes, aber eine schlimme Verstauchung, sagte der Arzt. Das sollte in ein paar Tagen wieder besser werden. Er verordnete Ari, sich mindestens ein paar Tage freizunehmen; was aber noch schlimmer war, er sollte den Arm in eine Armbinde stecken, um die Schulter zu entlasten.
Ari wollte am liebsten ablehnen, hatte aber die Kraft nicht dazu. Nicht jetzt. Er ging mit einem in eine Armbinde verpackten Arm hinaus, entschlossen, sie sich vom Leib zu reißen, sobald er auf der Wache angekommen wäre.
Vielleicht. Aber vielleicht war es auch in Ordnung, die Schulter etwas ruhen zu lassen.
Als er eine kurze Strecke in Richtung Wache zurückgelegt hatte, drehte er sich plötzlich um und schlug erneut die Richtung zum Krankenhaus ein.
Er wollte noch einer Sache auf den Grund gehen. Hoffte darauf, dass er möglicherweise der Wahrheit über den Einbruch einen Schritt näherkommen könnte.
***
Die Vermutung bestätigte sich – auch wenn er immer noch nicht wusste, warum bei ihm eingebrochen worden war. Auf dem Weg zur Wache überlegte er sich verschiedene Möglichkeiten. Nun war er etwas besser gelaunt und positiver gestimmt. Ihm kam als Erstes die Kamera in den Sinn. Er war so aufgeregt, dass er beinahe schon vergessen hatte, dass sein Arm in einem Dreieckstuch hing – und dass der Arzt ihm Ruhe verordnet hatte.
Er setzte sich direkt vor den Bildschirm, ohne Tómas zu begrüßen, und schaute sich die Bilder aus dem Theater an.
»Der Pfarrer hat jetzt eine Armbinde?«
Tómas lächelte kollegial.
»Was … ja. Genau. Es ist eine schlimme Verstauchung. Ich muss ein paar Tage lang eine etwas ruhigere Kugel schieben.«
»Das habe ich schon vermutet. Du tauschst einfach mit Hlynur, ich werde ihn bitten, morgen zu kommen und diese Woche zu übernehmen, und du trittst deinen Dienst dann am Wochenende wieder an.«
»Ich finde es besser, einfach bei der Arbeit zu sein. Ich habe zu Hause nichts zu tun.«
Außer an die Arbeit zu denken, an Ugla und an Kristín.
»Wir gehorchen dem Arzt.« Die herzliche Miene erinnerte Ari an seinen Vater; etwas in dem Stil hätte auch er gesagt.
»Abgemacht. Aber ich werde sicher wie ein grauer Kater hier sein.«
»Wie du willst. Du bist einfach nicht im Dienst, das ist klar.«
Er schaute wieder auf den Bildschirm, schaute die Fotos an. Er wollte noch damit warten, Tómas von seiner Vermutung zu berichten. Zu versuchen, etwas weiterzukommen.
Was hatten sie übersehen? Er schaute dieselben Fotos immer und immer wieder an.
Nichts. Er wurde erneut von Hoffnungslosigkeit übermannt.
Das Einzige, das ihm in den Sinn kam, war, sie Ugla zu zeigen – war sie nicht der einzige Mensch, dem er vertrauen konnte? Vielleicht würde ihr etwas auffallen. Aber das war nicht so einfach. Dann müssten sie über ihre Situation reden … und womöglich auch über das Testament – und sehr wahrscheinlich war es an und für sich eine unmögliche Idee, ihr die Bilder vom Tatort eines möglichen Verbrechens zu zeigen, in einem Fall, in dem sie selber … ja, unter Verdacht stand.
Er speicherte die Bilder auf einer CD und steckte sie sich in die Tasche.
Er beschloss, zuzuschlagen. Ugla zu treffen. Zu hören, was sie zu den Geschichten beizutragen hatte.
***
Er hatte sich mit den Jahren verändert, war reifer geworden. Als er zurückschaute, bereitete es ihm Mühe zu verstehen, wie er damals so sein konnte, ja, boshaft, als er jünger war. Boshaft und widerwärtig.
Er war für sein Alter schon immer groß gewesen, stark – doch anstatt sich das zunutze zu machen, um den Kindern in der Schule zu helfen, die Hilfe brauchten, fand er ein Ventil für seine Energie mit Hänseleien. Hänseleien war allerdings nicht das richtige Wort. Das war ein sehr unscheinbares Wort dafür, was heutzutage Ausgrenzung genannt wurde. Er erwachte nachts manchmal schweißgebadet, rief sich alte brutale Taten in Erinnerung und dachte bei sich: Ich werde dafür in der Hölle landen.
Diese Zeiten waren schon längst vergangen; er war jetzt ein erwachsener Mann geworden. An einen neuen Ort gezogen, in den Norden nach Siglufjörður. Zuweilen versuchte er, diese Jahre zu vergessen, es fiel ihm aber schwer, die Gedanken an diejenigen zu ignorieren, die er am allerschlimmsten behandelt hatte. Er erinnerte sich an alle Namen, hatte versucht, sie alle aufzuspüren, nachdem er zur Vernunft gekommen war. Hatte um Vergebung gebeten. Die meisten hatten das gut aufgenommen, wenn auch einige besser als andere. Manche schienen sich gänzlich erholt zu haben, zumindest äußerlich betrachtet, andere aber waren abgestumpfter, erteilten die Vergebung nur widerwillig.
Er hatte außer einem alle erreicht. Konnte ihn im Telefonbuch nicht finden, beim amtlichen Einwohnermeldeamt auch nicht … fand ihn nicht, bis ihm einfiel, in alten Zeitungen im Internet zu suchen – dort tauchte der Name bei den Nachrufen auf. Er las sie immer und immer wieder, man konnte es zwischen den Zeilen lesen, dass der Mann sich das Leben genommen hatte. Der kalte Schweiß trat ihm auf die Stirn, als er das realisierte. Daran war kaum die Ausgrenzung schuld … kaum er. Kaum, nach all der Zeit. Er hatte noch immer keinen Kontakt mit den Angehörigen des Mannes aufgenommen. Er wollte aber dennoch mit ihnen reden – sich vergewissern, dass etwas anderes der Grund für den Selbstmord gewesen war – zögerte aber. Befürchtete, dass er im Gegenteil eine Bestätigung dessen erhalten würde, was er vermutete.
Warum war er so gewesen … so böse?
Er hatte es geschafft, mit einem alten Schulkameraden, dem es aufgrund der schlechten Behandlung durch ihn ganz mies ergangen war, eine gute Beziehung aufzubauen. Der war jetzt Journalist im Süden. Sie hatten sich vor einigen Jahren auf einen Kaffee getroffen, um über vergangene Zeiten zu reden, und danach noch zwei-oder dreimal. Das schlechte Gewissen war manchmal unerträglich, er wollte alles tun, um diesem Mann das Leben zu erleichtern. Er wollte denjenigen helfen, denen er immer noch helfen konnte, wollte seine Reue zum Ausdruck bringen. In gewissen Fällen – ja, mindestens in einem – war es zu spät.
Manchmal musste er die Regeln etwas zurechtbiegen, um alte Sünden wettzumachen. Er bereute es in der Tat nicht, dass er dem Journalisten die Informationen zugespielt hatte. Das war das Mindeste, was er hatte tun können. Das waren die ersten großen Neuigkeiten im Dorf, seit er nach Norden gezogen war – er konnte nicht anders, als seinem alten Schulkameraden die Gelegenheit zu geben, als Erster diese Nachricht zu verkünden.
Auch wenn er Tómas anlügen und sich sein endloses Gemurre anhören musste.
Hlynur schaute zum Fenster hinaus; er hatte heute keinen Dienst. Er saß eine Weile da und schaute zu, wie sich der Schnee auftürmte. Die Schneeverwehungen wurden immer höher, die Dunkelheit umhüllte alles.
***
»Das sieht nicht gut aus.« Tómas runzelte die Stirn, er hatte gerade ein Telefongespräch geführt. Ari saß immer noch auf der Wache, hatte zu Hause nichts zu tun.
»Nanu? Was?«
»Linda. Sie ist immer noch nicht wieder bei Bewusstsein, die Ärzte im Süden stellen keine Veränderung fest, eher im Gegenteil – ihr Zustand scheint sich zu verschlechtern.«
»Haben sie Kalli informiert?«
»Ja, sie stehen regelmäßig mit ihm in Kontakt.«
»Und wie hat er reagiert?«
»Er sagte, dass er bei der erstbesten Gelegenheit in den Süden fahren wird. War soweit besonnen, sagte der Arzt. Ich glaube eher, dass das nicht das richtige Wort ist.« Er schaute Ari mit ernster Miene an, beinahe als ob er darauf warte, dass Ari übernehme.
»Sie ist ihm egal.« Ari beobachtete die Reaktion seines Vorgesetzten.
Tómas nickte.
»Ich glaube, dass du da recht hast. Ich verstehe es einfach nicht«, sagte Tómas.
»Er hält irgendetwas zurück«, sagte Ari, wandte sich wieder dem Rechner zu und hörte Tómas etwas vor sich hin murmeln, vielleicht zu ihm, vielleicht zur Tasse. Er hält etwas zurück. Er suchte eine Mailadresse auf der Liste der Partner der Polizei im Ausland. Es war Zeit geworden, um alle möglichen Informationen über diesen Mann zusammenzustellen.
Er schrieb die Mail in Eile und schickte sie ab. Nun galt es abzuwarten. Falls das etwas bringen würde, könnte er Karl mit einem starken Trumpf in der Hand begegnen.
Noch immer tauchte Ugla in seinen Gedanken auf.
Ugla und Karl? War das das Geheimnis, das Hrólfur aufgedeckt hatte?
Nein, zum Teufel nochmal. Nicht Ugla.
Einen Augenblick lang zweifelte er an seinem Urteilsvermögen; aber nur einen Augenblick. Er schloss Ugla aus.
Aber was war mit Anna? Er rief sich die Begegnung mit ihr in Erinnerung. Sie hatte sich gewiss in höchstem Maße seltsam benommen, als er sie besuchte. Sie hatte offensichtlich etwas zu verbergen, genau wie Karl. Hatten sie vielleicht gemeinsam etwas zu verbergen? Im selben Augenblick erinnerte er sich, dass er keinen der beiden bei Hrólfurs Leichenmahl gesehen hatte. Das musste aber auch nichts bedeuten … oder doch?
Hatte Karl Hrólfur die Treppe hinuntergestoßen, um seine Affäre mit Anna zu verbergen?
Oder Anna selbst?
»Ich habe mir auch überlegt«, sagte er dann und wandte sich Tómas zu, »ob diese Geschichte über Hrólfur wahr sein kann, dass er ein Kind hat, das während oder nach Ende des Krieges geboren wurde.«
»Das bezweifle ich, Meister. Aus der Gruppe derer, die im Theaterverein sind, wäre es am ehesten Nína, obwohl das ziemlich unwahrscheinlich ist.«
»Nína?«
»Ja, sie ist etwas älter als ich, wahrscheinlich um 1945 geboren.«
»Wie kommst du gerade auf sie?«, fragte Ari.
»Entschuldige, Meister. Manchmal gehe ich einfach davon aus, dass du genau dasselbe weißt wie ich – alles über alle …«
Komm zum entscheidenden Punkt.
Ari schaute Tómas ungeduldig an, der die Augenbrauen hob und sagte: »Nína ist bei ihrer Mutter und ihrem Stiefvater aufgewachsen, auch wenn gesagt wurde, dass sie sein Kind sei. Die Mutter war mit ihm zusammengezogen, kurz nachdem sie schwanger geworden war. Ich habe keine Ahnung, wer der eigentliche Vater von Nína war. Ihre Mutter wohnte während der Kriegszeit im Süden, wenn ich mich richtig erinnere. Irgendein Soldat, vermute ich.«
***
Ari schaute am Abend bei Ugla vorbei. Er ließ es bleiben, sie nach dem Erbe zu fragen. Brauchte sie allem Anschein nach nicht zu fragen. Er vertraute ihr.
Er spürte an ihrer Art, dass ihre Verbindung sich veränderte, sich in etwas verwandelte, das er nicht erwartet hatte, als sie sich kennenlernten. Sie sprachen aber nicht darüber; sie schien schüchtern zu sein, und das entsprach ihm sehr – er hatte es noch vor sich, mit Kristín zu reden. Sich darüber klarzuwerden, was er wollte.
Er versuchte, sich selber einzureden, dass Kristín nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Alles wäre zwischen ihnen zu Ende. Sie hatten nur wenig miteinander geredet, und sie schien mit ihren Gedanken weit weg bei den seltenen Telefonaten, die sie miteinander geführt hatten.
Ugla begrüßte ihn freundlich, lächelte. Anziehend, wie immer. Er fühlte sich wohl bei ihr. Es überkam ihn immer eine Ruhe, wenn sie in der Nähe war. Sie trieb ihn vorwärts in der Dunkelheit und Einsamkeit. Die Straße war immer noch gesperrt, und eine andere Lawine, kleiner als die erste, war am Abend runtergekommen. Die Vorhersage war schlecht – die Leute aus Siglufjörður mussten noch etwas länger ausharren.
Er kam direkt auf das Thema zu sprechen und zeigte ihr die Fotos. Legte ihr seine Vermutungen dar und bat sie zu schauen, ob sie auf den Fotos irgendetwas Ungewöhnliches entdecken konnte.
Sie betrachtete sie, nahm sich etwas Zeit, schaute ein Foto genauer an. Da war etwas nicht so, wie es hätte sein sollen. Eine Kleinigkeit – aber dennoch interessant.
Es überraschte Ari dagegen wirklich, die Namen derer zu hören, die daran beteiligt waren. Er musste sich offensichtlich weitere Informationen beschaffen, um ein deutlicheres Bild von der Sache zu bekommen – oder war er jetzt vielleicht völlig auf dem Holzweg?
Er verabschiedete sich von Ugla mit einem Kuss. Freute sich darauf, sie wiederzusehen. Spürte Schmetterlinge im Bauch wie ein Schuljunge.