22. Kapitel
Siglufjörður,
Montag, 12. Januar 2009
Dicker Schnee verhüllte am Montagmorgen den Rathausplatz, es war noch nicht einmal sieben Uhr.
Pálmi Pálsson ging über den Platz und nickte Úlfur zu, der aus der entgegengesetzten Richtung kam. Úlfur war klein gewachsen und kräftig gebaut, mit einer feinen, runden Brille, die gut zu seinem Gesicht passte. Das Gesicht war aufgedunsen, und er hatte tiefe Ringe unter den Augen. Er nickte ebenfalls. Pálmi ging seines Weges, über den Platz und zur Brücke hinunter. Er hatte es sich angewöhnt, morgens dort spazieren zu gehen. Er hatte mit dieser Gewohnheit vor drei Jahren angefangen, als er sich von der Grundschule verabschiedet hatte. Die Lehrer und Schüler hatten ihm am letzten Schultag ein schönes Abschiedsfest bereitet. Es war ein Freitag gewesen, der letzte Schultag des Frühlingssemesters, und wahrscheinlich war der Frühling schon im ganzen Lande angekommen, außer in Siglufjörður. Die Berge waren noch immer schneeweiß. Es lag genug Schnee auf den Bergen, um deutlich zu machen, dass der Sommer noch weit entfernt war, aber dennoch zu wenig, als dass man sich mit den Skiern die Hänge hinabgleiten lassen könnte. Pálmi fuhr immer noch Ski, obwohl er bereits dreiundsiebzig Jahre war.
Dreiundsiebzig Jahre. Er konnte es kaum glauben. Die Gesundheit war bestens, und mehr noch betonten seine Bekannten und Freunde gerne, wie jung er doch aussähe. »Du scheinst keinen Tag älter als sechzig zu sein, lieber Pálmi – wie machst du das bloß?« Das Haar war zwar ergraut, aber dennoch respektvoll. Wenn er in den Spiegel schaute, sah er dagegen, dass er kein junges Lamm mehr war; die Adern traten hervor, er war sehr schmal im Gesicht, hatte beinahe eingefallene Wangen. Er war sehr dankbar für seine robuste Gesundheit, schien gute Gene von seinen Eltern mitbekommen zu haben. Seine Mutter war allerdings nicht älter als sechsundsechzig geworden. Hatte plötzlich einen Schlaganfall bekommen. Pálmi hatte sich in jüngeren Jahren davor gefürchtet, dass er denselben Weg gehen würde, dass ihn dasselbe Schicksal einholen könnte, doch diese Furcht hatte er schon längst überwunden. Er hatte bereits seit Jahrzehnten in der Grundschule unterrichtet, als seine Mutter im Sommer 1983 plötzlich verstarb. Sie hatte in einer alten Wohnung in der Innenstadt gewohnt und sich hartnäckig geweigert, zu Pálmi zu ziehen, der sich ein Haus in der Hvanneyrarbraut mit Aussicht über den Fjord gekauft hatte. Da wohnte er bis zum heutigen Tag.
Nein, diese guten Gene schienen von seinem Vater zu stammen, der zwar selbst kein langes Leben gehabt hatte, da er mit 24 Jahren an Tuberkulose gestorben war. Er hatte sich seinem Vater immer sehr nahe gefühlt, obwohl er sich nicht deutlich an ihn erinnern konnte. Er besaß einige wenige Fotos von seinen Eltern, die in den Jahren 1936 und 1937 aufgenommen worden waren und auf denen beide gemeinsam zu sehen waren. Das war kurz bevor sein Vater die Familie verlassen und beschlossen hatte, sich eines Besseren zu besinnen und seine Abenteuer in Dänemark zu suchen – Pálmi war damals gerade mal ein Jahr alt. Sein Vater hatte Frau und Sohn alleine in Siglufjörður zurückgelassen, aber dennoch hatte er bei seiner Mutter nie eine Verbitterung ihm gegenüber verspürt. »Er brauchte seine Freiheit«, hatte sie einmal gesagt. Ihre positive Einstellung hatte unwillkürlich zur Folge, dass Pálmi stets liebevoll an seinen Vater dachte. Sie hatte seinen Vater geliebt, zumindest damals.
Es war aber nicht einfach für sie gewesen, mit einem Kind in diesen schweren Zeiten allein und verlassen in einem abgeschotteten Fjord im Norden des Landes zurückzubleiben. Sein Vater war dann in der Großstadt an Tuberkulose erkrankt, wie so viele andere, und viel zu früh verstorben, gerade mal ein gutes Jahr, nachdem er ins Ausland gezogen war.
Pálmi war in der Grundschule beliebt gewesen. Versah seinen Beruf mit Eifer und verbrachte die Sommerferien zum größten Teil mit Bergtouren und Reisen über das Hochland. Er war sein ganzes Leben lang nur dreimal ins Ausland gefahren, jedes Mal auf Schulexkursion mit seinen Schülern. Er verspürte kein besonderes Bedürfnis, die Welt zu bereisen. Diese Gene hatte er wohl von seiner Mutter geerbt – sie war äußerst bescheiden gewesen, hatte ihr ganzes Leben sehr sparsam gelebt, jede Krone zur Seite gelegt. Deswegen war Pálmi sehr überrascht gewesen, als er erfuhr, dass das Erbe gerade einmal knapp für die Beerdigung ausreichte.
Pálmi war seit jeher ein großer Einzelgänger gewesen. Ein geschickter Lehrer, doch es fiel ihm schwer, außerhalb der Arbeit Freunde für sich zu gewinnen. Auch die Liebe hatte allzu lange auf sich warten lassen, viel zu lange – nun war es wohl zu spät, nicht wahr? Vielleicht war es seine eigene Schuld; er hatte gezögert – hatte den Schritt nicht gewagt. War in jüngeren Jahren verliebt gewesen, hatte die Gelegenheit aber sausen lassen. Traute sich nicht. Dachte manchmal mit Trauer und Reue zurück – versuchte aber dennoch, den Schmerz nicht jeden Tag überhandnehmen zu lassen. Sozusagen von Natur aus hatte er es sich angewöhnt, nicht zu oft zurückzuschauen; das war einfach zu schmerzhaft.
Was seine sämtlichen Gedanken in Anspruch genommen hatte, seitdem er pensioniert war, war das Schreiben. Er erwachte früh morgens, in aller Herrgottsfrühe, und schrieb jeden Tag ein wenig in seinem Büro, am Fenster, mit der Aussicht über den Fjord. Nach dem Abendessen setzte er sich erneut an den Computer, der zwar alt war, aber seinen Zweck noch erfüllte, und schrieb noch eine Stunde oder länger. Im Winter, wenn die Abende dunkel und manchmal schwer waren, hatte er die Gewohnheit, ein paar Teelichter anzuzünden und sie vorsichtig in alten Marmeladegläsern auf das Fensterbrett zu stellen. Wenn er vor dem Computerbildschirm saß, schaute er manchmal durch die bezaubernde Hitze, die von den Kerzen ausströmte in die Dunkelheit, auf das Meer und die Halbinsel auf der anderen Seite des Fjords hinaus.
Er war schon weit gekommen mit seinem Roman und hatte nebenher noch drei Theaterstücke verfasst. Es ging ihm leicht von der Hand, die Stücke zu schreiben. Sie waren eine leichte und angenehme Abwechslung von seinem Roman. Das Erste war eine Art Farce, das Nächste schon ein bisschen dramatischer und das Dritte – und das beste, wie ihm schien – war sogar ziemlich dramatisch, aber doch immer wieder mit einer witzigen Pointe dazwischen versehen. Das war es, was die Leute wollten. Lachen und weinen gleichzeitig. Sein neuestes Werk hätte am Samstag uraufgeführt werden sollen.
Er stand an der Brücke und schaute über die Mitte des Fjords.
Seine Gäste waren noch nicht wach. Die alte Frau und ihr Sohn. Warum, verflixt nochmal, hatte sie unbedingt zu Besuch nach Island kommen müssen? Sie übernachtete bei ihm im Souterrain – neunzig Jahre alt, auf Pilgerfahrt in Island in der Begleitung ihres Sohnes. Hatte ihn nur aus einem einzigen Grund gebeten, bei ihm zu Gast sein zu dürfen: weil sie nämlich seinen Vater während dessen Jahr in Dänemark gekannt hatte. »Ich möchte unbedingt die Gelegenheit nutzen, um Siglufjörður zu besuchen, dein Vater hat von diesem Ort immer so schön geredet«, hatte sie am Telefon in ihrem klaren Dänisch gesagt. Pálmi sprach selbst ganz gut Dänisch, nachdem er die Sprache jahrzehntelang unterrichtet hatte. Er hatte sie gewarnt, dass man zu dieser Jahreszeit mit jedem Wetter rechnen müsse – dass es nicht sicher sei, dass sie es bis nach Norden schaffen würden. »Ich muss es halt einfach versuchen – ich möchte den Fjord mit eigenen Augen sehen, bevor ich sterbe. Ich werde zu Silvester in Reykjavík sein – möchte mir die Feuerwerke ansehen«, sagte sie mit kindlicher Vorfreude. »Dürfen wir dich gleich nach Neujahr ein paar Tage besuchen … falls das Wetter es zulässt?«
Was konnte er da schon anderes als ›ja‹ sagen?
Eine ganze Woche. Sie wollten nächsten Montag wieder nach Süden fahren. Eine ganze Woche.
Es war noch immer windstill. Pálmi wusste nur zu gut, dass an einem Ort wie diesem ein Sturm früher oder später unvermeidlich war.