40. Kapitel

Siglufjörður,

Mittwoch, 21. Januar 2009

Es dauerte nicht mehr lange bis zur Premiere.

Da wollte sie die Sache endlich in Angriff nehmen.

Sie hatte schon viel zu lange gewartet. Sie hatte sich nur deshalb beim Theaterverein freiwillig gemeldet, um dem Mann nahe sein zu können, den sie so sehr liebte.

An manchen Tagen war sie sich sicher, dass auch er sie liebte, glaubte, seine Miene lesen zu können, seine Äußerungen genau zu verstehen; aber an anderen Tagen quälte sie sich mit lauter Zweifeln. Nun war zumindest die Zeit gekommen, um es zu versuchen.

Sie wollte mit ihm auf der Party nach der Premiere reden.

Ihn einladen … ja, zu einem Date. Wie die Jugendlichen.

Sie selbst hatte ihre Jugendjahre verpasst. Sie hatte viel zu lange auf das Leben gewartet, es war an ihr vorbeigerauscht wie eine Landschaft, die man von einem Fahrzeug aus, das die Nationalstraße viel zu schnell entlangfährt, aus dem Fenster an sich vorbeirauschen sieht.

Nína spürte, wie die Vorfreude in ihr aufkeimte.

Sie war so gespannt.

***

Als Ari zur Polizeiwache kam, geschunden an Körper und Seele, wagte er es endlich, über die Schulter zu schauen.

Da war niemand.

Hlynur starrte Ari an, als er in die Wache gestrauchelt kam, kalt und durchnässt. Es brauchte einen Moment, bis er einen verständlichen Satz herausbrachte.

»Kalli … verdammt … hat versucht, mich zu töten. Er ist äußerst gefährlich. Ich habe herausgefunden, dass er Pálmis Mutter umgebracht hat … und eine Frau in Dänemark.«

»Ganz ruhig, mein Pfarrer.« Hlynur nahm die Neuigkeiten mit erstaunlicher Ruhe auf, als ob er Ari in diesem Zustand erwartet hätte. »Setz dich und nimm einen Schluck Kaffee. Ich habe Tómas angerufen.«

»Tómas?« Ari setzte sich und nahm die Kaffeetasse entgegen, die Hlynur ihm reichte. »Hast du ihn bereits angerufen?«

»Kalli hat vor ein paar Minuten hier angerufen.«

»Kalli?«, rief Ari. »Weswegen zum Teufel nochmal?«

Hlynur legte seine Hand vorsichtig auf Aris Schulter – die gesunde Schulter – und sagte: »Er hat angerufen, weil er eine Klage einreichen möchte.«

»Eine Klage?« Ari schien es nicht mehr länger im Griff zu haben, ganze Sätze zu bilden. Es überwältigte ihn. Er versteckte sein Gesicht in den Händen und seufzte.

Wollte der Mörder ihn anklagen?

»Aber entspann dich«, sagte Hlynur freundschaftlich. »Mach dir keine Sorgen, wir wissen alle, wie Kalli ist, das wird ihm niemand glauben. Wir müssen allerdings die Anklageschrift weiterleiten, wegen der Formalitäten.«

Ari war sprachlos.

Hlynur setzte fort: »Er hat gesagt, dass du einfach reingekommen bist und ein Verhör begonnen hättest, obwohl er offensichtlich schon getrunken hatte und du nicht mal im Dienst seist. Er will dich wegen Körperverletzung anklagen. Hast du ihm eine reingehauen, Ari?«

»Er wollte mich töten!« Ari stand auf und schleuderte die Kaffeetasse zu Boden. Die Tasse zersprang in tausend Stücke, und der Kaffee spritzte alles voll.

»Er wollte mich töten, der verfluchte Mörder. Hast du mich gehört?«

»Wir sollten auf Tómas warten«, sagte Hlynur mit warmherziger Stimme. »Soll ich nicht eine weitere Tasse Kaffee für dich holen?«

***

Karl hatte schon eine Weile im Verhörraum auf der Polizeiwache gesessen. Tómas war so schnell wie möglich gekommen und hatte mit Ari geredet. Als er die wichtigsten Punkte erfahren und sich ein Bild gemacht hatte, bat er Ari, nach Hause zu gehen und sich auszuruhen, versuchte, ihn zu beruhigen, wusste aber, dass der junge Polizeibeamte aus dem Süden leider zu viele Fehler gemacht hatte an diesem Abend. Er war aber trotz allem ganz schön begabt …

Im Anschluss hatte Tómas Karl zur Aufnahme eines Protokolls gebeten und Hlynur bei ihm eine Hausdurchsuchung durchführen lassen.

Karl war ruhig und gefasst gewesen, antwortete nur einsilbig oder schwieg einfach; ab und zu beriet er sich mit dem ihm zugeteilten Anwalt, der dem Verhör per Telefon beiwohnen durfte.

Er weigerte sich hartnäckig, sich zu Pálmis Mutter und ihrem Tod zu äußern.

Tómas brachte das Gespräch auf Linda.

»Wir haben Reste von dunkelblauer Wolle an dem Messer gefunden … Du hast einen dunkelblauen Wollpulli getragen an dem Tag, als du die Leiche gefunden hast. Linda hatte eine Lebensversicherung abgeschlossen – du hättest einen direkten finanziellen Profit, wenn sie stürbe. Sag mir …« Tómas schaute Karl ernsthaft an. »Sag mir«, wiederholte er, »warum ich dich nicht hier und jetzt wegen Mordversuchs festnehmen sollte.«

Karl schwieg einen Augenblick und bat dann darum, mit dem Verteidiger allein in einem Raum reden zu dürfen. Nach diesem Zweiergespräch schien er bereit zu sein, sich zu diesem Thema zu äußern.

»Sie hielt das Messer umklammert, als ich sie gefunden habe. Du kannst mir nicht einfach eine Körperverletzung unterschieben, verdammt.«

Tómas schwieg, wartete.

»Ich weiß nicht, was über mich gekommen ist – ich habe das Messer im nächsten Garten versteckt, um, ja, ihr Ansehen zu retten.«

»Und weil du wusstest, dass du keine einzige Krone bekommen würdest, wenn sie sich das Leben genommen hätte.«

»Davon hatte ich keine Ahnung.« Er grinste und wusste zweifelsohne, dass bei der Hausdurchsuchung kein Exemplar von Lindas Vertrag gefunden worden war.

Tómas fragte nichts zur vermeintlichen häuslichen Gewalt. Da hatte die Polizei nichts in der Hand als Vermutungen und Leifurs Erzählungen von den Streitigkeiten zwischen Karl und Linda. Gemäß den letzten Neuigkeiten schien leider nichts darauf hinzudeuten, dass Linda wieder zu Bewusstsein kommen würde und gegen ihn aussagen könnte.

Tómas glaubte, nicht genug in der Hand zu haben, um einen Haftbefehl zu beantragen. Karl durfte am Ende des Verhörs wieder gehen, wurde aber angewiesen, im Dorf zu bleiben, falls die Polizei ihn nochmals kontaktieren musste.

»Ich komme ja nicht weg, alle Wege sind verschlossen«, sagte er und ging dann in die Dunkelheit hinaus.