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Auf dem Heimweg begann es zu regnen, und als Reuben sich in sein Zimmer einschloss, goss es bereits in Strömen, aber es wehte kein Wind – typisches Spätherbstwetter im nördlichen Kalifornien. Es gefiel ihm ganz und gar nicht, denn es bedeutete, dass die «Regenzeit» begonnen hatte und die nächste klare Nacht, in der man Mond und Sterne sehen konnte, vielleicht erst im April kommen würde.
Er hasste den Regen ohnehin. Zu Hause angekommen, zündete er das Kaminfeuer an und dimmte das Licht in seinem Zimmer, damit die lodernden Flammen dem Raum etwas Behaglichkeit verliehen.
Allerdings glaubte er zu wissen, dass ihm das nicht das Geringste bedeuten würde, sobald er sich wieder verwandelte. Falls er sich wieder verwandelte.
Was kümmert mich der Regen überhaupt?, fragte er sich. Er dachte an Kap Nideck und versuchte sich den Redwoodwald im Regen vorzustellen. Irgendwo auf seinem Schreibtisch lag eine Karte von dem Grundstück, die Simon Oliver ihm zugeschickt hatte. Dort hatte er zum ersten Mal gesehen, wie groß das Areal war. Das Haus befand sich südlich einer schroff aufragenden Klippe, die den Redwoodwald offenbar nach Osten hin schützte, genau wie die Ostseite des Hauses. Der zum Grundstück gehörende Strand war klein, und wie zugänglich er war, konnte man der Karte nicht entnehmen. Jedenfalls hatte der Erbauer des Hauses die bestmögliche Stelle gewählt, denn es überblickte das Meer und den Wald.
Er würde später darüber nachdenken. Zuerst musste er sich verbarrikadieren und die offenen Fragen klären.
Auf dem Heimweg hatte er sich ein getoastetes Sandwich und eine Flasche Wasser gekauft und machte sich nun hungrig darüber her, während er «Werwolf», «Legenden von Werwölfen», «Werwolf-Filme» und so weiter googelte.
Dummerweise hörte er die ganze Zeit das Gespräch am Esstisch, unten im Haus.
Celeste war immer noch wütend darüber, dass der Observer ihn von der Entführungsgeschichte abgezogen und ihn stattdessen auf diese «saudumme Wolfsmenschen-Sache» angesetzt hatte. Auch Grace fand es unmöglich, aber am meisten beklagte sie, dass ihr Sohn nicht in der Lage war, sich für seine ureigensten Interessen einzusetzen. Dieser schreckliche Überfall in Mendocino war das Letzte, was ihr Baby gebrauchen konnte. Phil murmelte, vielleicht würde aus Reuben doch noch ein richtiger Schriftsteller und als solcher könne er «alles verwerten, was ihm passiert».
Das ließ Reuben aufhorchen, und er notierte sich den Satz auf dem Notizblock, der neben der Tastatur lag. Ach Dad!
Doch das Komitee zur Lenkung von Reubens Leben hatte noch mehr Mitglieder.
Rosy, die von allen geschätzte Haushälterin, war am Morgen aus dem Urlaub zurückgekehrt, den sie, wie jedes Jahr, in Mexiko verbracht hatte. Sie sagte, sie werde es sich niemals verzeihen, dass sie nicht da war, als Reuben sie am meisten brauchte. Sie war felsenfest davon überzeugt, dass es der «loup garoo» war, der ihm das angetan hatte.
Reubens bester Freund, Mort Keller, war ebenfalls anwesend. Offenbar hatte man ihn extra zu dem Treffen gebeten, nicht ahnend, dass Reuben sich in seinem Zimmer einschließen und sich weigern würde, mit jemandem zu reden. Das machte Reuben besonders wütend. Mort stand kurz vor seiner Doktorprüfung in Berkeley und hatte keine Zeit für solchen Unsinn. Er hatte Reuben zweimal im Krankenhaus besucht, und das war in Reubens Augen schon viel, weil Mort nicht viel mehr als vier Stunden Schlaf pro Nacht bekam und mit den Vorbereitungen auf die mündlichen Prüfungen alle Hände voll zu tun hatte.
Nun aber musste sich Mort – genau wie Reuben – die «ganze Geschichte» anhören. Wie Reuben sich seit jener tragischen Nacht in Mendocino verändert und sich, so Grace, bei der offenbar tollwütigen Bestie mit irgendetwas angesteckt habe.
Angesteckt – das war stark untertrieben. Was für ein Wesen lebte dort oben im Wald von Mendocino? Konnte es sprechen? Aufrecht gehen? Oder war es … Reuben wollte nicht weiterdenken.
Natürlich konnte es sprechen. «Mord! Mord!» Er hatte immer gewusst, dass nicht er derjenige gewesen war, der die Polizei alarmiert hatte. Es war «die Bestie» gewesen, die sein Telefon benutzt hatte.
Der Gedanke erleichterte ihn sehr. Es war also kein primitives, gedankenloses Monster. Nein, es war ein moralisches Wesen, genau wie der Wolfsmensch in der Gasse von North Beach. Wenn das stimmte, wusste es vielleicht, was gerade mit demjenigen passierte, den es in Marchents Haus beinahe getötet, dann aber im letzten Moment losgelassen hatte.
War das gut oder schlecht?
Die Stimmen aus dem Esszimmer gingen ihm auf die Nerven.
Er stand auf, legte eine CD mit einem Klavierkonzert von Mozart in den Player neben seinem Bett und drehte die Lautstärke voll auf.
Es funktionierte. Er konnte die anderen nicht mehr hören. Auch die anderen Stimmen hörte er nicht mehr, das Gemurmel der Stadt, das er neuerdings ständig im Ohr hatte. Er drückte auf Repeat und entspannte sich.
Das Feuer brannte, der Regen trommelte an die Fenster, die wunderbare Musik Mozarts durchdrang das Zimmer, und Reuben fühlte sich zum ersten Mal wieder beinahe normal.
Einen Moment lang jedenfalls.
Dann recherchierte er weiter und stieß auf einen lesenswerten Beitrag nach dem anderen, aber wenig davon überraschte ihn. Er hatte gewusst, dass der Glaube an Werwölfe von vielen als eine Geisteskrankheit betrachtet wurde, bei der sich die Betroffenen für Werwölfe hielten und sich folglich wie diese zu verhalten versuchten. Andere hielten es für eine Art dämonische Gestaltwandlung, bei der Menschen tatsächlich zu Werwölfen wurden und es blieben, bis jemand sie mit einer silbernen Kugel erschoss, worauf sich der Wolfskörper dann im Sterben zu einer menschlichen Gestalt zurückverwandelte, sodass der Sterbende einen ganz seligen Gesichtsausdruck bekam und bis in alle Ewigkeit in Frieden ruhen konnte.
Was die Filme betraf, so hatte Reuben selbst einige gesehen, so viele sogar, dass es ihm selbst schon peinlich war. Es war leicht, die einschlägigen Szenen auf YouTube zu finden, und als er sich welche aus Ginger Snaps – Das Biest in Dir und dann Jack Nicholsons Wolf – Das Tier im Manne ansah, wurde ihm etwas Schreckliches klar.
Was er hier sah, war zwar reine Fiktion, aber es zeigte die Phase der Transformation, in der er sich gerade ganz real befand, als eine Phase des Übergangs, eine Phase, die noch nicht abgeschlossen war. Nur zu Beginn der Transformation war in manchen Werwölfen noch etwas Menschliches vorhanden. Aber am Ende von Wolf beispielsweise war Jack Nicholson vollständig zu einem vierbeinigen Tier geworden, das ausschließlich im Wald lebte. Und am Ende von Ginger Snaps war aus dem bedauernswerten Wolfsmädchen ein abscheuliches Schweinswesen geworden.
Aber die Kreatur, mit der ich es zu tun habe, kann doch sprechen, dachte Reuben. Sie konnte sogar telefonieren. Sie hatte eine Nummer gewählt und Hilfe geholt. Wie alt sie wohl war? Wie lange geisterte sie schon im Redwoodwald von Mendocino herum? Und was, zum Teufel, wollte sie dort?
Was hatte Celeste neulich gesagt? Dass es in der Gegend schon immer Wölfe gegeben hatte? Da waren die Einheimischen allerdings ganz anderer Meinung. Einige von ihnen hatten im Fernsehen versichert, dass es schon lange keine Wölfe mehr in ihren Wäldern gab.
Also gut, die Filme gaben keine Antworten auf seine Fragen. Er hätte es wissen müssen. Eins ließ ihn allerdings aufhorchen: In manchen Filmen wurde es als ein «Geschenk» bezeichnet, wenn ein Mensch die Fähigkeit erhielt, sich in einen Wolf zu verwandeln. Das gefiel ihm. Ein Geschenk. Tief in seinem Inneren empfand er es nämlich genauso.
In den Filmen diente dieses Geschenk allerdings meist keinem höheren Zweck. Meist blieb unklar, warum Film-Werwölfe ihre Opfer angriffen. Sie schienen wahllos zuzuschlagen, noch nicht einmal weil sie Hunger oder Durst hatten, denn sie tranken das Blut der Opfer nicht und fraßen sie nicht auf. Im Grunde verhielten sie sich überhaupt nicht wie Wölfe. Ihr Verhalten erinnerte eher an Tiere, die … tollwütig waren. In The Howling – Das Tier kopulierten diese Wesen zwar gern, aber abgesehen davon war nicht auszumachen, welchen Vorteil es für sie haben sollte, als Werwölfe zu leben. Sie heulten den Mond an, konnten sich hinterher an nichts erinnern, und früher oder später wurden sie erschossen.
Auch das mit den Silberkugeln war Unsinn. Wenn es dafür eine wissenschaftliche Erklärung gab, wollte er nicht Reuben, der Wolfsmensch, sein!
Wolfsmensch. Von allen Begriffen für das Phänomen gefiel ihm dieser am besten. Auch Susan Larson hatte ihn benutzt. Er hoffte, dass Billie seine Artikelüberschrift nicht ändern würde.
Ist es falsch, dass ich mich als Wolfsmensch fühle? Noch einmal versuchte er, Mitleid für den Vergewaltiger zu empfinden, den er getötet hatte, aber es gelang ihm nicht.
Gegen acht machte er Pause, stellte das Klavierkonzert ab und versuchte, die Stimmen aus eigener Kraft zu ignorieren.
Es war gar nicht so schwierig, wie er befürchtet hatte. Celeste war nicht mehr im Haus. Sie war mit Mort Keller in ein Café gegangen. Mort war schon immer ein wenig in sie verliebt gewesen, und Grace und Phil unterhielten sich gerade darüber. Sonst redeten sie nicht viel. Grace war von einem Experten in Paris angerufen worden, der sich für die «Wolfsmorde» interessierte, aber sie hatte kaum Zeit gehabt, um mit dem Mann zu sprechen. Dieses Gespräch im Esszimmer war gut auszublenden.
Reuben rief die Fotos auf, die er letzte Nacht im Badezimmer gemacht hatte. Er hatte sie in einer mit Passwort geschützten Datei abgelegt. Sie anzusehen war ebenso beängstigend wie erregend.
Er wollte, dass es wieder passierte.
Es war eine Tatsache, der er sich stellen musste. Er freute sich auf das nächste Mal, wie er sich noch nie auf etwas gefreut hatte, nicht mal auf seine erste Nacht mit einer Frau oder auf Weihnachten, als er acht war. Er konnte es kaum erwarten.
Er dachte daran, dass es gestern erst um Mitternacht begonnen hatte. Also googelte er weiter zum Thema Werwölfe in der Mythologie. Es war faszinierend zu sehen, was für eine große Rolle Wölfe in fast allen Kulturen spielten, so faszinierend wie die Werwolfgeschichten selbst. Eine mittelalterliche Geschichte über eine dörfliche Gemeinschaft, die sogenannte Bruderschaft des Grünen Wolfs, faszinierte ihn besonders. Dort wurde beschrieben, wie die Landbevölkerung wild um Scheiterhaufen tanzte, auf denen ein symbolischer «Wolf» verbrannt wurde.
Er wollte schon Feierabend machen, als ihm noch einmal die Geschichten des französischen Autorenduos aus dem neunzehnten Jahrhundert einfielen, Der Wolfsmensch und andere Erzählungen. Vielleicht sollte er sie einmal lesen. Sie waren nicht schwer zu finden, und im Nu hatte er sie bei Amazon bestellt. Dann kam er auf die Idee, dass man die Geschichten vielleicht auch online lesen konnte.
Auch das war kein Problem. Bei horrormaster.com fand er sie zum kostenlosen Download. Er wollte die Geschichten nicht ganz lesen, sondern nur einen Blick hineinwerfen, in der Hoffnung, ein Körnchen Wahrheit in all den Phantasiegebilden zu finden.
Es war um die Weihnachtszeit des Jahres 18–. Ich logierte im Gasthof zum Schwan in Fribourg, lag im Bett und schlief, als mein Freund Gideon Sperver ins Zimmer gestürmt kam und rief:
«Es gibt Neuigkeiten, Fritz! Ich bringe dich nach Nideck.»
Nideck!
Der nächste Satz lautete: «Du kennst doch Nideck! Der Wohnsitz des Barons ist das vornehmste Schloss im ganzen Land, eine Hommage an den Ruhm unserer Vorväter.»
Reuben traute seinen Augen kaum. Marchents Nachname in einer Geschichte mit dem Titel «Der Wolfsmensch».
Er unterbrach die Lektüre und googelte «Nideck». Tatsächlich! Einst hatte es eine Burg dieses Namens gegeben, heute war es eine berühmte Ruine in den elsässischen Vogesen, zwischen Oberhaslach und Wangenbourg. Doch das war nicht der Punkt. Der Punkt war, dass dieser Name vor weit über hundert Jahren in einer Kurzgeschichte über einen Werwolf benutzt worden war. 1876 war sie ins Englische übersetzt worden, kurz bevor sich die Nidecks in Mendocino County angesiedelt und das riesige Haus am Meer gebaut hatten. Eine Familie, die laut Simon Oliver aus dem Nichts gekommen war.
Reuben war wie vor den Kopf gestoßen. Aber er sagte sich, dass es ein Zufall sein musste. Ein Zufall, den vor ihm bloß noch niemand bemerkt hatte.
Aber noch etwas hatte ihn stutzig gemacht. Reuben scrollte noch einmal zum Anfang zurück. Sperver. Irgendwoher kannte er diesen Namen. Er musste etwas mit Marchent und Kap Nideck zu tun haben. Aber was? Er konnte sich nicht daran erinnern. Dabei sah er den Namen praktisch vor sich, in Tinte geschrieben. Doch wo war das gewesen? Dann fiel es ihm plötzlich ein. Es war der Nachname von Felix Nidecks engstem Freund und Mentor, Margon. Margon, der Gottlose. Stand dieser Name nicht auch unter dem großen gerahmten Foto über dem Kamin? Warum hatte er sich die Namen nicht notiert? Trotzdem war er sich sicher. Er erinnerte sich auch daran, dass Marchent den Namen ausgesprochen hatte. Margon Sperver.
Nein, das konnte nun doch kein Zufall mehr sein. Ein Name – okay. Aber zwei? Unmöglich. Doch was, um alles in der Welt, hatte das zu bedeuten?
Ein Schauder durchfuhr ihn.
Nideck.
Was hatte Simon Oliver gesagt? Er hatte gar nicht wieder aufgehört zu reden und geklungen, als wollte er sich selbst beruhigen – und nicht so sehr Reuben.
«Es ist keine Familie, die man als alt bezeichnen könnte. Der Name taucht erst um 1880 auf. Nach Felix’ Verschwinden wurde ausgiebig nach jemandem gesucht, der etwas über ihn wissen könnte. Ohne Erfolg. Natürlich sind im neunzehnten Jahrhundert viele erstmals ins Licht der Öffentlichkeit getreten, Männer, die wirtschaftlich erfolgreich und dadurch auf dem gesellschaftlichen Parkett plötzlich jemand waren. Wie dieser Holzbaron Nideck, der aus dem Nichts kam und sich ein riesiges Haus baute. So etwas war damals ganz normal. Jedenfalls brauchen Sie keine Angst zu haben, dass plötzlich ein Erbe auftaucht und Ihnen das Anwesen streitig macht. Es gibt keinen.»
Reuben starrte auf den Bildschirm.
Warum ausgerechnet dieser Name? Warum hatte Felix’ Vorfahre ihn gewählt? Der Gedanke, dass er diese Werwolfgeschichte kannte und der Name daher stammte, war absurd. Und dass dann mehr als hundert Jahre später … Nein, Unsinn! Und wenn sein Freund zehnmal Sperver hieß. Es konnte einfach nicht sein. Auch Marchent hatte ja nichts von einem Familiengeheimnis gewusst.
Er sah Marchents strahlendes Gesicht vor sich, hörte sie lachen. Sie war so erfrischend und hatte so viel innere … Was? Selbstgewissheit? Zufriedenheit?
Was aber, wenn das Haus nun doch ein dunkles Geheimnis barg?
Während der nächsten Viertelstunde überflog Reuben den Rest der Kurzgeschichte Der Wolfsmensch.
Sie war unterhaltsam und typisch neunzehntes Jahrhundert. Hugh Lupus hieß der Werwolf, der Schloss Nideck heimsuchte, weil ein Fluch auf der Familie lastete. Andere faszinierende Figuren, wenn für Reubens Zwecke auch uninteressant, waren ein Zwerg, der das Schlosstor bewachte, und eine mächtige Hexe, die auf den Namen «Schwarze Pest» hörte. Sperver war ein Jäger im Schwarzwald.
Was sollte das alles mit seinen eigenen Erlebnissen zu tun haben? Er war nicht bereit zu glauben, dass Kap Nideck verflucht war und im Bann eines Werwolfs stand.
Aber was wusste er schon?
Ausschließen konnte er es nicht.
Wieder musste er an das große Foto über dem Kamin in Marchents Bibliothek denken, an die Männer, die in irgendeinem Tropenwald standen, an Felix Nideck und seinen Mentor Margon Sperver. Marchent hatte noch mehr Namen genannt, aber Reuben konnte sich nicht daran erinnern. Trotzdem war er sich sicher, dass sie in der Kurzgeschichte nicht auftauchten.
Ihm würde wohl nichts anderes übrigbleiben, als sich weiter durch die Werwolfliteratur zu lesen. Also bestellte er sich noch ein paar Bücher mit Legenden und Gedichten, dazu einige Anthologien und Aufsatzsammlungen, alles per Expresslieferung zum nächsten Tag.
Er wusste, dass er nach einem Strohhalm suchte.
Felix war schon lange tot. Wahrscheinlich war auch Margon längst tot. Marchent hatte lange genug nach ihnen gesucht. Das Tier, was immer es war, war aus dem angrenzenden Wald gekommen und durch die eingeschlagenen Fenster des Esszimmers ins Haus eingedrungen. Es hatte die Schreie gehört, sie waren ja laut genug gewesen. Und es hatte das Böse gerochen, wie man das Böse eben riechen kann.
Alles andere war romantischer Unsinn!
Plötzlich machte es Reuben ganz traurig, dass Felix tot war. Vielleicht war es doch kein Zufall, dass sein Name in der Geschichte über einen Wolfsmenschen auftauchte. Was, wenn tatsächlich ein mutierter Cousin von ihm im Wald hinter dem Haus lebte … als eine Art Wächter oder guter Geist des Hauses?
Reuben merkte, dass er müde wurde.
Dann wurde ihm plötzlich ganz warm ums Herz. Das Feuer brannte, vor dem Fenster floss der Regen glucksend in die Regenrinne. Ihm war durch und durch warm, und er fühlte sich regelrecht beschwingt. Die Stimmen der Stadt murmelten leise vor sich hin und gaben ihm das Gefühl, mit der ganzen Welt verbunden zu sein. Hmmm. Es war das Gegenteil der Entfremdung, die er empfunden hatte, als er vorhin beim Observer mit ganz normalen Menschen gesprochen hatte.
«Vielleicht gehörst du jetzt zu ihnen», flüsterte er. Die Stimmen bildeten einen einheitlichen Klangteppich. Einzelne Worte, Schreie, Bitten drangen nicht an die Oberfläche.
Gott, wie muss es sich anfühlen, du zu sein und alle Menschen jederzeit zu hören, überall auf der Welt, wie sie betteln, flehen und nach allem Möglichen rufen.
Reuben sah auf die Uhr.
Es war kurz nach zehn. Sollte er einfach in seinen Porsche steigen und nach Kap Nideck fahren? Die Fahrt war nicht schlimm. Ein paar Stunden durch den strömenden Regen. Irgendwie könnte er sich bestimmt Zutritt zum Haus verschaffen, zur Not eine der kleineren Scheiben einschlagen. Wo war das Problem? In wenigen Wochen würde ihm das Haus ohnehin gehören. Die entsprechenden Dokumente waren alle unterschrieben. Er hatte sogar schon die Bezahlung des Hauspersonals übernommen, die Kosten für Strom, Wasser und dergleichen. Es gab also keinen Grund, nicht hinzufahren.
Und der Wolfsmensch dort im Wald? Würde er von Reubens Anwesenheit Wind bekommen? Würde er riechen, dass der, den er gebissen und dann verschont hatte, zurückgekehrt war?
Alles in ihm schrie danach, nach Kap Nideck zu fahren.
Dann erschreckte ihn etwas. Eigentlich war es kein Geräusch, sondern etwas wie … ein Vibrieren, als führe ein Wagen mit dröhnender Musik am Haus vorbei.
Er sah einen dunklen Wald, aber es war nicht der Wald von Mendocino. Nein, es war ein anderer, ein nebliger, dichter Wald, den er kannte. Seine Alarmglocken schrillten.
Er stand auf und öffnete die Terrassentür.
Es war windig und bitterkalt. Der Regen klatschte ihm auf Gesicht und Hände – der reinste Jungbrunnen.
Die Stadt schimmerte unter einem Regenschleier. Jedes hell erleuchtete Hochhaus war ein Schmuckstück. Reuben hörte eine Stimme, die ihm ins Ohr zu flüstern schien: «Verbrenne ihn! Verbrenne sie alle!» Es war eine unkultivierte, hasserfüllte Stimme.
Sein Herz klopfte wie wild, jeder Muskel in seinem Körper schien sich anzuspannen. Ein Schauder lief über seine Haut. Fontänengleich schoss es in ihm hinauf und drückte sein Kreuz durch.
Es hatte wieder angefangen. Sein Wolfsfell begann zu sprießen, die Mähne auf seinem Kopf wuchs, bis sie ihm auf die Schultern hing. Wellen orgiastischer Lust durchfluteten ihn, ließen ihn jede Vorsicht vergessen, und ein beglücktes Jauchzen entfuhr seiner Kehle.
Seine Hände wurden zu Klauen. Er riss sich die Kleider vom Leib und schleuderte seine Schuhe fort. Dann fuhr er sich mit den Klauen über das dichte Fell an Armen und Brust.
Die Geräusche der Nacht waren jetzt viel deutlicher, der Chor der Stimmen wurde lauter und mischte sich mit Glockenschlägen, Musikfetzen und verzweifelten Gebeten. Er hatte das unwiderstehliche Bedürfnis, der Enge des Hauses zu entfliehen und in die Dunkelheit zu springen, egal, wo er landen würde.
Moment! Fotografiere es! Geh zum Spiegel und halte es fest. Doch dafür hatte er keine Zeit, denn er hörte wieder die hasserfüllte Stimme: «Wir verbrennen dich bei lebendigem Leib, alter Mann!»
Reuben sprang aufs Dach. Der Regen konnte ihm nichts anhaben.
Er sprintete in Richtung der Stimme und ließ ganze Straßenzüge in Windeseile hinter sich. Die größeren Häuser dienten ihm als Absprungbasen, über die kleineren flog er hinweg. Mühelos sprang er über breite Straßen. Es ging Richtung Meer.
Die Stimme wurde lauter, und eine zweite gesellte sich hinzu. Dann schrie das Opfer plötzlich: «Ich verrate euch nichts. Selbst wenn ich sterben muss, verrate ich euch nichts.»
Reuben wusste jetzt, wo er war. Er hatte seine Höchstgeschwindigkeit erreicht, als er durch Haight-Ashbury jagte. Vor sich sah er das große dunkle Rechteck des Golden Gate Park. Das musste der Wald sein, den er gerade gesehen hatte, der urwaldartige Teil des Parks mit seinen versteckten Höhlen. Natürlich, das war’s!
Er stürzte sich in den Park. Zuerst hastete er über das nasse Gras, dann schwang er sich in die würzig duftenden Bäume.
Bald sah er den zerlumpten alten Mann, der vor seinen Verfolgern zu fliehen versuchte, durch einen Tunnel, der von Farnkraut halb verborgen war. Andere zerlumpte Menschen hockten unter regennassen Planen und durchweichten Pappen.
Einer der Angreifer packte den Fliehenden an der Schulter und zog ihn auf eine kleine Lichtung. Ihre Kleidung war vollkommen durchnässt. Der andere Angreifer war stehen geblieben und versuchte, zusammengerollte Zeitungen in Brand zu setzen, aber der Regen löschte die Flammen.
«Das Petroleum!», schrie der Mann, der das Opfer festhielt.
Der alte Mann versuchte sich nach Kräften zu wehren, schlug und trat um sich. «Aus mir kriegt ihr nichts heraus!», schrie er verzweifelt.
«Dann nimmst du dein Geheimnis mit ins Grab, alter Mann.»
Der Geruch von Petroleum mischte sich mit dem Geruch des Bösen, als der zweite Angreifer seine Fackel tränkte und eine Flamme aufloderte.
Mit entsetzlichem Gebrüll stürzte sich Reuben auf den Fackelträger und senkte seine Klauen so kraftvoll in dessen Hals, dass er ihm beinahe den Kopf abgerissen hätte. Reuben hörte sein Genick knacken.
Dann wandte er sich dem anderen Angreifer zu, der das zitternde Opfer losgelassen hatte und über die Lichtung rannte, um sich im dahinterliegenden Wald zu verstecken.
Reuben holte ihn ein. Sein Mund öffnete sich wie von allein. Er wollte nur eins: diesem Mann das Herz herausbeißen. Sein Mund lechzte nach ihm. Doch nein! Nicht die Zähne einsetzen, denn sie konnten dem Gebissenen vielleicht die Wolfsgabe verleihen. Nein, das durfte er nicht riskieren. Sein Knurren klang wie ein Fluch, als er an dem hilflosen Mann zerrte. «Du hättest ihn bei lebendigem Leibe verbrannt, nicht wahr?» Er schlug seine Klauen in den Mann und riss ihm das Fleisch vom Gesicht und die Haut von der Brust. Als Nächstes fuhren seine Klauen in die Halsschlagader des Mannes, und das Blut spritzte heraus. Der Mann sank auf die Knie und fiel vornüber, während seine Jeansjacke von Blut durchtränkt wurde.
Reuben eilte zurück. Das Petroleum hatte sich übers Gras ergossen und brannte, züngelte und rauchte in den Regen, sodass die ganze Szenerie in ein gespenstisches Licht getaucht wurde.
Der alte Mann hockte zusammengekauert am Boden, hatte schützend die Arme um den Körper gelegt und schaute mit angstgeweiteten Augen zu Reuben auf. Reuben sah, dass der peitschende Regen ihm zusetzte, aber er selbst spürte den Regen nicht.
Er ging auf den Mann zu und streckte eine Pfote nach ihm aus, um ihm aufzuhelfen. Eine große Ruhe war über ihn gekommen, ein Gefühl von Macht. Das Feuer, das in seiner Nähe tobte, wärmte ihn, konnte ihm aber nichts anhaben.
Im Unterholz herrschte reges Treiben, und aufgeregtes Geflüster drang an Reubens Ohr. Der Tenor war Angst, nackte Angst.
«Wo wollen Sie jetzt hin?», fragte Reuben.
Der alte Mann zeigte auf den dunklen Eichenwald. Reuben hob ihn hoch und trug ihn unter die schützenden Äste, wo der Boden trocken war und frisch duftete. Das dichte Blattwerk bildete einen Vorhang, hinter dem sich eine Hütte aus zusammengestückelten Teerpappen befand, von Gestrüpp und hohem Farn halb verborgen. Reuben legte den Mann in seine Liegestatt aus Lumpen und Wolldecken und deckte ihn zu.
Es roch nach Dreck und Whisky, und die Aromen der nassen Erde und Pflanzen mischten sich darunter, ebenso der Geruch von Käfern und Insekten.
Schnell entfernte sich Reuben und erklomm wieder die Baumwipfel. Er hangelte sich von Ast zu Ast, bis der Wald in Richtung Stanyan Street, wo ein unablässiger Verkehrsstrom den östlichen Rand des Golden Gate Park passierte, wieder dichter wurde.
Er flog nahezu über die breite Straße, als er in die hohen Eukalyptusbäume des Panhandle-Park sprang.
In größtmöglicher Höhe bahnte er sich seinen Weg und sog den würzigen Duft der schmalen blassgrünen Eukalyptusblätter ein. Er folgte dem Grünstreifen mit geschmeidigen Bewegungen und begann vor Lust beinahe laut zu singen. Bald schwang er sich dann wieder auf die Dächer der hügelig ansteigenden Masonic Avenue.
Wer hätte ihn in der Dunkelheit und bei diesem Wetter bemerken sollen? Der Regen war sein Freund. Selbst auf den schlüpfrigen Dachziegeln fand er sicheren Halt und eilte auf ein weiteres Waldgebiet zu, den Buena Vista Park.
Aus dem vielstimmigen Chor der Stimmen, die er ständig hörte, war wieder eine hervorgetreten: «Sterben! Lass mich sterben! Töte mich!»
Diese Worte wurden zwar nicht ausgesprochen, aber eine gequälte Kreatur dachte und empfand sie, das konnte Reuben deutlich wahrnehmen.
Er landete auf dem Dach des Hauses, in dem sich das Opfer befand. Die vierstöckige Villa stand auf dem Hügel, der zu dem kleinen Park führte. An Regenrinne und Fenstersimsen ließ er sich die Hauswand hinab, bis sich hinter einem Fenster eine grauenvolle Szenerie auftat: Eine alte Frau, nur noch Haut und Knochen, blutete aus mehreren Wunden. Sie war an ein Messingbett gefesselt. Das Licht einer schwachen Lampe fiel auf ihr schütteres graues Haar und ihre wunde Haut.
Vor ihr stand ein Teller mit dampfenden menschlichen Exkrementen, und eine junge Frau beugte sich mit einem Löffel in der Hand über die Alte und schmierte ihr den stinkenden Unrat auf die Lippen. Die alte Frau schüttelte sich und war der Ohnmacht nahe. Es stank nach Fäkalien, nach dem Bösen und nach Grausamkeit. Die junge Frau schimpfte verbittert vor sich hin.
«Das ist für den Schweinefraß, den du mir immer zu essen gegeben hast. Jetzt musst du dafür bezahlen.»
Reuben zerbrach das Fensterkreuz und die Scheiben, als er in das Zimmer sprang.
Die junge Frau schrie auf und wich vom Bett zurück. Sie sah unglaublich wütend aus.
Reuben stürzte sich auf sie, als sie eine Pistole aus einer Schublade holte.
Ein Schuss ging los und machte ihn einen Moment lang taub. Gleichzeitig spürte er einen stechenden Schmerz in der Schulter, der ihn außer Gefecht zu setzen drohte, doch er ignorierte ihn. Mit wütendem Knurren schnappte er nach der jungen Frau, die vor Schreck die Waffe fallen ließ. Er stieß sie krachend an eine Wand. Ihr Kopf schlug ein Loch in die Wand, und Reuben spürte, wie das Leben aus ihr wich. Auch die Flüche auf ihren Lippen erstarben.
Er schleuderte sie durch das kaputte Fenster und hörte ihren Körper auf dem Straßenpflaster aufschlagen.
Reglos blieb er stehen und wartete darauf, den Schmerz in der Schulter wieder zu spüren, doch er blieb aus. Da war nichts als pulsierende Wärme.
Er ging auf die gequälte Frau zu, die mit Klebestreifen und Mullbinden ans Bett gefesselt war. Vorsichtig band er ihre Hände los.
Sie hatte das schmale Gesicht abgewandt und betete leise: «Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade. Der Herr ist mit dir, du bist gebenedeit unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes, Jesus.»
Reuben beugte sich über sie und löste die letzte Fessel um ihren Leib.
«Heilige Maria, Mutter Gottes», sagte er leise und sah der Frau in die Augen. «Bitte für uns Sünder – uns Sünder! – jetzt und in der Stunde unseres Todes.»
Die Frau stöhnte. Sie war zu schwach, um sich bequem zurechtzulegen oder aufzustehen.
Reuben verließ sie und schlich durch das Treppenhaus in ein großes Zimmer, in dem sich ein Telefon befand. Es war nicht einfach, mit den Klauen eine Nummer zu wählen. Amüsiert dachte er an die Kreatur in Mendocino, die dieselbe Nummer aufs Display eines iPhones getippt hatte. Als sich die Notrufzentrale meldete, hätte er am liebsten «Mord! Mord!» geschrien, doch er beherrschte sich und hasste sich plötzlich dafür, dass er der Situation eine gewisse Komik abgewinnen konnte. Außerdem stimmte es nicht. Noch war hier kein Mord geschehen. «Einen Krankenwagen. Einbruch. Alte Frau. Oberstes Stockwerk. Wird gefangen gehalten.»
Der Mann von der Notrufzentrale stellte einige Fragen und wiederholte dann die Adresse.
«Schnell!», sagte Reuben und verließ das Zimmer, ohne den Hörer wieder aufzulegen.
Er horchte.
Außer der alten Frau war nur eine weitere Person im Haus. Diese andere Person schlief.
Im nächsten Moment war Reuben bei ihr, im zweiten Stock. Es war ein hilfloser alter Mann, ein Kranker, der genau wie die Frau zahlreiche Wunden hatte und ans Bett gefesselt war.
Reuben sah sich um und betätigte den Lichtschalter, damit die anrückenden Helfer auch den Mann fanden.
Was konnte er sonst noch tun, um diesen armen Menschen zu helfen?
Im Treppenhaus sah er sich bei schwachem Licht in einem hohen vergoldeten Spiegel und schlug ihn ein. Die Scherben fielen klirrend zu Boden.
Er nahm eine altmodische Lampe mit gläsernem Schirm von einem Tischchen und warf sie übers Treppengeländer, sodass sie unten in der Diele zersplitterte.
Sirenen näherten sich. Das Geräusch erinnerte Reuben an Mendocino.
Er wurde nicht mehr gebraucht und machte, dass er aus dem Haus kam.
Lange blieb er im Wipfel einer hohen Zypresse im Buena Vista Park sitzen. Die meisten Bäume hier waren noch jung, aber er hatte einen gefunden, dessen Äste ihn sicher trugen. Durch das Laub beobachtete er Krankenwagen und Einsatzfahrzeuge der Polizei vor der Villa und sah, wie der alte Mann und die alte Frau abtransportiert wurden. Er sah auch, wie die Leiche der Täterin vom Straßenpflaster aufgehoben wurde. Schaulustige waren zusammengelaufen, aber bald leerte sich die Straße wieder.
Plötzlich fühlte er sich völlig erschöpft. Der Schmerz in der Schulter war verschwunden, und er hatte ihn bereits vergessen. Er merkte, dass seine Pfoten anders empfanden als seine Menschenhände, denn sie fühlten nicht, was die zähe Flüssigkeit war, die sein Fell verklebte.
Von Sekunde zu Sekunde wurde er müder und schwächer. Trotzdem schaffte er es noch, schnell nach Hause zu laufen.
Zurück in seinem Zimmer, stellte er sich wieder vor den Badezimmerspiegel.
«Gibt’s was Neues?», fragte er sein Spiegelbild. «Wie tief deine Stimme ist.»
Die Rückverwandlung begann.
Er griff in das weiche Fell zwischen seinen Beinen, als es sich zurückzog und dann ganz verschwand. Seine Pfoten wurden zu Händen, und er tastete nach seiner Schulterwunde.
Er konnte sie nicht finden.
Er war jetzt so müde, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, aber er wollte sich Gewissheit verschaffen und trat näher an den Spiegel. Keine Wunde. Und die Kugel? Steckte sie vielleicht in seinem Körper? Wenn ja, konnte es zu einer Infektion kommen, die, wenn sie nicht behandelt wurde, tödlich verlaufen konnte. Zu sehen oder zu spüren war aber nichts.
Beinahe hätte er laut gelacht, als er sich vorstellte, wie Grace reagieren würde, wenn er zu ihr sagte: «Hör mal, Mom, ich glaube, letzte Nacht hat jemand auf mich geschossen. Kannst du mich mal röntgen und nachsehen, ob eine Kugel in meiner Schulter steckt? Aber mach dir keine Sorgen, ich spüre überhaupt nichts.»
Aber selbstverständlich würde er das nicht tun.
Er ließ sich ins Bett fallen. Wie wunderbar frisch sein Kissen roch! Als der Himmel bleiern aufhellte, schlief er ein.