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Etwas ging krachend zu Boden, und Glas splitterte. Reuben wachte auf. Es war so dunkel, dass er nichts sehen konnte. Dann hörte er Marchent schreien.

So schnell es in der Dunkelheit ging, lief er die Treppe hinunter und tastete sich am Eichengeländer entlang.

Marchent schrie immer wieder, und es klang, als sei sie in höchster Not. Reuben folgte den Geräuschen bis zur Küchentür.

Plötzlich wurde er von einer Taschenlampe geblendet, und bevor er seine Augen schützen konnte, packte ihn jemand am Hals und stieß ihn zurück. Sein Kopf krachte gegen die Wand. Der Angreifer würgte ihn und ließ dabei die Taschenlampe fallen. Reuben rammte ihm das Knie zwischen die Beine und griff mit beiden Händen nach seinem Gesicht. Mit der linken packte er eine Haarsträhne und schlug dem Mann die rechte aufs Auge. Der andere schrie auf und lockerte den Griff um Reubens Hals. Doch im nächsten Moment schlug ein Dritter mit einer Taschenlampe auf ihn ein. Reuben sah ein Stück Metall aufblitzen, und dann fuhr eine Klinge in seinen Bauch. Noch nie im Leben war er so wütend gewesen, und während die beiden Männer auf ihn einschlugen und nach ihm traten, spürte er, wie das Blut aus seiner Bauchwunde schoss. Wieder sah er das erhobene Messer. Mit aller Kraft, die ihm noch zur Verfügung stand, entwand er sich seinen Angreifern, sodass er dem erneuten Hieb entging und gleichzeitig einen der Männer fortstieß.

Trotzdem fuhr die Klinge gleich darauf in seinen linken Arm.

Irgendwo im Hausflur ertönte ein furchterregendes Geräusch. Es klang wie das Grollen eines wilden Hundes. Reubens Angreifer schrien auf, das Tier stürzte sich auf sie, und Reuben rutschte auf etwas aus, das sein eigenes Blut sein musste.

Vor langer Zeit hatte er einmal einen Hundekampf gesehen, aber er konnte sich nicht an viel erinnern, dafür war alles zu schnell und wild gewesen. Aber er erinnerte sich an die Geräusche.

Genauso klang es jetzt. Er konnte den Hund nicht sehen. Auch seine Angreifer konnte er nicht sehen. Aber er spürte das Gewicht des Tiers, das ihn zu Boden drückte, und das Geschrei der beiden Männer verstummte.

Das Tier knurrte, schnappte nach Reubens Kopf und grub ihm die Zähne in die Wangen. Dann hob es ihn hoch, und er ruderte hilflos mit den Armen. Der Schmerz im Kopf war ungleich stärker als der im Bauch.

Doch dann öffnete das Tier plötzlich das Maul und ließ ihn fallen.

Er landete auf einem der ersten Angreifer, und es kam ihm vor, als sei das einzige Geräusch auf der Welt der keuchende Atem des tobenden Tiers.

Er versuchte aufzustehen, konnte aber seine Beine nicht spüren. Etwas Schweres, offenbar eine Pfote des Tiers, drückte auf seinen Rücken. «Lieber Gott, hilf mir!», stieß er hervor. «Bitte, lieber Gott!»

Er schloss die Augen, und er hatte das Gefühl, in ein schwarzes Nichts zu sinken. Er musste sich zwingen, wieder nach oben zu tauchen. «Marchent!», schrie er. Dann verschluckte ihn wieder die Dunkelheit.

Alles war ganz still. Er wusste, dass die beiden Männer tot waren. Auch Marchent musste tot sein.

Er drehte sich auf den Rücken und versuchte, in die rechte Tasche seines Bademantels zu greifen. Er ertastete sein Telefon, aber er wartete, bis er sich sicher sein konnte, dass er allein war. Dann holte er das Telefon aus der Tasche, drückte eine Taste und sah auf das Display.

Wieder wurde ihm schwarz vor Augen. Wie Wellen, die an den Strand rollen und sich dann wieder zurückziehen, kam und ging das Gefühl einer nahenden Ohnmacht. Er zwang sich, die Augen offen zu halten, aber das Telefon war ihm aus der Hand gefallen. Er drehte den Kopf, um es zu suchen, aber erneut wurde ihm schwarz vor Augen.

Er mobilisierte seine letzten Kräfte, um sich wach zu halten, und flüsterte: «Ich sterbe. Alle sind schon tot, Marchent ist tot. Und jetzt sterbe ich auch. Ich muss Hilfe holen.»

Er tastete nach seinem Telefon, aber da war nur der blutgetränkte Fußboden. Mit der linken Hand drückte er auf seine schmerzende Bauchwunde und spürte, wie das Blut durch seine Finger rann. Wer so viel Blut verliert, kann nicht überleben.

Mühsam drehte er sich auf die Seite und versuchte aufzustehen oder wenigstens in die Hocke zu gehen. Doch als die schwarze Welle zurückkehrte, ging er wieder zu Boden.

Von irgendwo kam ein Geräusch, ein leiser, an- und abschwellender Ton. Dazu bewegte sich ein Lichtstrahl durch die Dunkelheit auf ihn zu.

Bildete er sich das alles nur ein? Träumte er? Oder war es das, was man hörte und sah, wenn man starb?

Er hätte nicht gedacht, dass der Tod so leise kommen würde, so rätselhaft, so leicht. «Marchent», flüsterte er. «Es tut mir so leid!»

Doch dann ertönte wieder das Geräusch, dieses Mal wie eine Sirene. Ein zweiter Lichtstrahl bewegte sich durch die Dunkelheit auf ihn zu. Zwei tönende Lichtstrahlen wogten hin und her, vor und zurück, aber sie kamen immer näher. Dann kam ein dritter hinzu.

Wie merkwürdig!

Die Sirenen waren jetzt ganz nah, wurden aber leiser, und jemand schien die Lichtstrahlen zurückzuziehen. Dann klirrte Glas.

Reuben trieb durch die Dunkelheit. Zu spät, Freunde. Das war aber nicht schlimm. Alles war so schnell gegangen, und eigentlich fand er es nur interessant. Du stirbst, Reuben. Er wehrte sich nicht dagegen und hoffte nichts mehr.

Jemand beugte sich über ihn. Lichter leuchteten an verschiedenen Stellen auf und fuhren an der Wand entlang. Es war wunderschön.

«Marchent», flüsterte er. «Sie haben sie erwischt.» Er merkte, dass er nicht deutlich genug sprach. Irgendeine Flüssigkeit füllte seinen Mund.

«Nicht sprechen», sagte ein Mann und kniete sich zu ihm. «Wir kümmern uns um Sie. Wir tun, was wir können.»

Das nutzte nichts mehr. Reuben wusste es. Dafür war es viel zu still gewesen. Außerdem klang der Mann so traurig, dass ganz klar war: Für Marchent war es zu spät. Die schöne, elegante Frau, die er nicht mal einen Tag lang gekannt hatte, war tot. Sie musste sofort tot gewesen sein.

«Schön wach bleiben!», sagte der Mann.

Reuben spürte, dass er hochgehoben wurde. Dann drückte man ihm eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht. Jemand riss seinen Pyjama auf.

Ein Walkie-Talkie rauschte und knisterte.

Reuben wurde auf eine Trage gelegt und im Laufschritt fortgeschoben.

«Marchent», murmelte er.

Das gleißende Licht im Krankenwagen blendete ihn. Er wollte nicht von hier weggebracht werden. Er bekam Panik und wollte fliehen, aber jemand drückte ihn auf die Trage, und er verlor das Bewusstsein.