14
Über die Dächer kehrte Reuben ins Motel zurück und schloss sich in sein Zimmer ein. Die halbe Nacht lang versuchte er sich zurückzuverwandeln. Solange er Klauen an den Händen hatte, konnte er seinen Computer nicht benutzen. Auch die Bücher, die er sich besorgt hatte, konnte er nicht lesen.
Auto zu fahren wagte er nicht. Er hatte gemerkt, wie schwer es in diesem Zustand war, als er die Kidnapper verfolgte. Außerdem konnte er nicht riskieren, gesehen oder in seinem eigenen Wagen angehalten zu werden.
Auch nach draußen zu gehen wagte er nicht.
Doch wie sehr er es auch versuchte – er konnte die Rückverwandlung nicht herbeiführen.
Aus allen Richtungen hörte er nächtliche Stimmen. Auch als er bei Jim war, hatte er sie die ganze Zeit gehört.
Er wagte nicht, sich auf eine davon zu konzentrieren, denn er fürchtete, dass er sich aufmachen würde, wenn eine Stimme ihn besonders lockte.
Gleichzeitig machte ihn der Gedanke ganz elend, dass er jemanden vor schrecklichem Leid oder gar dem Tod retten könnte, wenn er nur dazu bereit wäre. Er kauerte sich in eine Ecke und versuchte zu schlafen, aber das konnte er nicht.
Gegen drei Uhr, viel früher als sonst, verwandelte er sich in seine menschliche Gestalt zurück.
Wie immer war es ein orgiastisches Erlebnis, das ihn der Ohnmacht nahe brachte. Wieder beobachtete er das Geschehen im Spiegel und machte mit seinem iPhone Fotos davon. Schließlich stand er vor dem alten Reuben Golding, den er so gut zu kennen glaubte, und doch hatten der Reuben vorm und der im Spiegel einander jetzt nichts zu sagen. Seine Hände erschienen ihm ungewohnt feingliedrig, und er wunderte sich darüber, dass er sich in seiner menschlichen Gestalt nicht ungeheuer verletzlich vorkam. Stattdessen fühlte er sich ausgesprochen stark und in der Lage, allem Paroli zu bieten, was ihn in Wolfs- oder Menschengestalt bedrohte.
Als die Verwandlung abgeschlossen war, fühlte er sich nicht mehr besonders müde oder erschöpft. Trotzdem beschloss er, unter die Dusche zu gehen und ein wenig zu schlafen, bevor er aufbrach.
Doch zuerst checkte er die Nachrichten auf seinem iPhone. Seit zwei Tagen hatte er sonst mit keinem aus der Familie oder Celeste gesprochen, und Jim durfte niemandem verraten, dass er seinen Bruder auch nur gesehen hatte.
Es gab kaum jemanden, der ihm in der Zwischenzeit keine SMS oder E-Mail geschickt hatte. Auch Galton hatte sich gemeldet und ihm mitgeteilt, dass er die Fernseher wunschgemäß installiert hatte. Und er hatte eine weitere Neuigkeit: Zwei riesige Orchideenbäume seien aus Florida eingetroffen. Offenbar seien sie von Marchent Nideck bestellt worden, kurz bevor sie ermordet wurde. Galton fragte, ob Reuben diese Bäume behalten wolle.
Reuben spürte einen Kloß im Hals und verstand zum ersten Mal im Leben, was diese klischeehafte Redewendung bedeuten sollte. Ja, unbedingt wollte er diese Orchideenbäume behalten! Er würde Galton beauftragen, noch mehr Pflanzen zu bestellen.
Er verschickte eine Reihe von E-Mails. Um diese Zeit würde niemand mehr wach sein und ihm gleich antworten. Er teilte Grace mit, dass es ihm gutgehe. Er sei in Kap Nideck vollauf beschäftigt und müsse dort allerlei regeln. An Phil schrieb er ungefähr das Gleiche. Billie schrieb er, er arbeite an einem längeren Artikel über den Wolfsmenschen. Celeste ließ er wissen, dass er etwas Ruhe brauche und hoffe, sie könne das verstehen.
Er musste sich von Celeste trennen. Gerade jetzt sehnte er sich nach ihrer Freundschaft, aber alles hatte sich zu einem furchtbaren Albtraum entwickelt, für den sie nichts konnte und an dem sie keinerlei Anteil hatte. Er überlegte, wie er es ihr schonend beibringen konnte.
Seine E-Mail endete: «Ich hoffe, du hast dich mit Mort gut amüsiert. Ich weiß ja, wie gern du ihn hast.»
Würde sie sich davon ermutigt fühlen, die Sache mit Mort weiterzutreiben, oder klang es eher so, als wollte er ihr indirekt Vorwürfe machen? Er fügte hinzu: «Mit Mort hast du dich immer gut verstanden. Ich dagegen habe mich verändert. Wir wissen es beide. Ich muss endlich aufhören, es zu leugnen. Ich bin einfach nicht mehr derselbe.»
Es war ungefähr halb fünf. Draußen war es noch dunkel. Er war nicht müde und wurde immer unruhiger. Diese Unruhe war nicht so quälend wie in Mendocino, aber auch nicht gerade angenehm.
Plötzlich hörte er einen Schuss. Von wo war er gekommen? Er stand von dem kleinen Motelschreibtisch auf und ging ans Fenster. Auf der Lombard Street war nichts zu sehen. Ein paar Nachtschwärmer gingen unter den hellen Straßenlaternen langsam ihrer Wege.
Seine Muskeln waren angespannt. Er hörte etwas, das sich scharf von den anderen Geräuschen abhob. Ein wimmernder Mann, der sich selbst zuredete, er müsse die Sache zu Ende bringen. Dann eine Frau, die auf den Mann einredete. Tu den Kindern nichts! Bitte, bitte, tu den Kindern nichts! Dann folgte ein Schuss.
Aus seinem Innersten rollten wellenartig Krämpfe durch seinen Körper, die ihn völlig außer Gefecht setzten. Er beugte sich vornüber, spürte, wie seine Poren atmeten und überall auf seiner Brust und den Armen neues Fell zu sprießen begann. Schon wieder eine Verwandlung! Dieses Mal ging es schneller. Schlagartig überkam ihn die Ekstase, und die nächste Krampfwelle lähmte ihn einen Moment lang vor Lust und Kraft.
Sekunden später verließ er das Zimmer und war auf den Dächern.
Der Mann weinte und schrie und erging sich in Mitleid für die, die er töten «musste», und für seine Frau, die bereits tot war, und vor allem für sich selbst. Zielstrebig bewegte sich Reuben auf die Stimme des Mannes zu.
Dann stieg ihm der Gestank in die Nase, der widerliche Gestank von Feigheit und Hass.
Mit einem gewaltigen Sprung von Dach zu Dach überquerte er eine Straße und lief, so schnell er konnte, auf ein hübsches weißes Haus zu. An der Rückseite des Hauses stieg er auf den Balkon im zweiten Stock hinab, schlug die Balkontür ein und betrat die Wohnung. Das einzige Licht kam von den Straßenlaternen. Trotzdem erkannte er das aufgeräumte, liebevoll eingerichtete Zimmer klar und deutlich.
Die Frau lag tot auf einem großen Bett. Blut strömte aus ihrem Kopf. Der Mann, der sich über sie beugte, war barfuß und trug nur eine Pyjamahose. Er hielt ein Gewehr in der Hand, weinte und schluchzte. Starker Alkoholdunst mischte sich mit dem Geruch von Hass und Wut. «Sie verdienen es nicht anders … sie zwingen mich dazu … niemals würden sie mich zufrieden lassen … ich muss es tun … muss es zu Ende bringen», stammelte der Mann vor sich hin, als stritte er mit einem unsichtbaren Dritten. Dann richtete er den irren Blick auf Reuben, aber es war nicht auszumachen, ob er überhaupt etwas sah. Er weinte und wimmerte. Dann lud er das Gewehr noch einmal durch.
Ganz ruhig ging Reuben auf ihn zu und nahm ihm die Waffe ab. Dann legte er die Pfoten um seinen dicken, schweißüberströmten Hals und drückte zu, bis das Genick brach.
Der Mann sackte in sich zusammen.
Reuben legte das Gewehr auf die Kommode.
Auf den goldgerahmten Spiegel der Kommode hatte jemand mit Lippenstift einen Abschiedsgruß geschrieben. Die Schrift war so zittrig, dass man sie kaum lesen konnte.
Reuben eilte durch den schmalen Hausflur und folgte dem Geruch von Kindern. Es war ein süßlicher, sehr angenehmer Geruch. Lautlos bewegte sich Reuben durchs Haus. Hinter einer Tür hörte er ein Kind flüstern.
Vorsichtig öffnete er die Tür. Das kleine Mädchen hatte die Knie unter dem Nachthemd angezogen und hockte in seinem Bettchen. Ihr jüngerer Bruder kuschelte sich an sie. Der blonde Junge war höchstens drei Jahre alt.
Seine Schwester machte große Augen, als sie Reuben sah.
«Der Wolfsmensch», sagte sie und strahlte.
Reuben nickte. «Wenn ich wieder weg bin, müsst ihr hier im Zimmer bleiben», sagte er freundlich. «Ihr müsst warten, bis die Polizei kommt. Habt ihr mich verstanden? Geht nicht in den Hausflur, sondern wartet hier.»
«Daddy will uns alle töten», sagte das Mädchen. «Ich habe gehört, wie er es zu Mummy gesagt hat. Er will mich und Tracy töten.»
«Nein, nein, das wird er nicht tun», sagte Reuben und legte den Kindern die Vorderpfoten auf die Köpfe.
«Du bist ein lieber Wolf», sagte das Mädchen.
Reuben nickte. «Tut, was ich sage!»
Er ging den gleichen Weg zurück und rief vom Telefon im Schlafzimmer die Polizei an. «Zwei Tote», sagte er. «Es sind Kinder im Haus.»
Kurz vor Sonnenaufgang war er zurück im Motel. Er wusste nicht, ob jemand gesehen hatte, wie er sich vom Dach auf den Balkon heruntergelassen hatte. Wahrscheinlich nicht, aber man konnte nie wissen. Niemand durfte ihn jetzt in Wolfsgestalt sehen. Er musste sich schnell zurückverwandeln.
Tatsächlich begann diese Rückverwandlung umgehend, als hätte ein gnädiger Wolfsgott seine Gedanken gelesen und ihm den Wunsch gewährt. Oder hatte er ihn sich selbst gewährt?
Ohne auf seine Erschöpfung Rücksicht zu nehmen, packte er seine Sachen und verließ das Motel nach wenigen Minuten.
Er kam bis zum Redwood Highway nördlich von Sausalito. Dort sah er ein kleines, altmodisches Motel, in dem er eincheckte. Wunschgemäß bekam er das Eckzimmer, das am Fuße eines Hügels an einem asphaltierten Weg lag.
Erst am frühen Nachmittag wachte er auf und war der Verzweiflung nah. Wohin sollte er gehen? Was sollte er tun? Er kannte die Antwort: Mendocino versprach Sicherheit, Einsamkeit und jede Menge Zimmer, in denen er sich verstecken konnte. Außerdem konnte er nur dort «den anderen» finden, der ihm helfen konnte. Und er sehnte sich nach den Gentlemen von dem Foto in der Bibliothek.
Verdammt, ich wünschte, ich wüsste, wer ihr seid.
Andererseits ging ihm Laura nicht aus dem Kopf. Er wollte nicht nach Mendocino, wenn Laura nicht dort war.
Wieder und wieder rief er sich die wenigen Stunden ihres Beisammenseins in Erinnerung, jede Kleinigkeit. Vielleicht hatte Laura längst die Behörden informiert. Aber Reuben glaubte zu wissen, dass sie es nicht getan hatte. Zumindest hoffte er es.
In einem nahen Café kaufte er Kaffee und Sandwiches, nahm alles mit ins Motelzimmer und fuhr seinen Computer hoch.
Man musste kein Hellseher sein, um zu vermuten, dass Laura beruflich etwas mit dem Wald und der Wildnis zu tun hatte, die ihr Haus umgab. Gestern hatte er eine Webseite gefunden, die Ausflüge für Frauen anbot, geleitet von einer L. J. Dennys. Jetzt sah er sich diese Webseite noch einmal an und hoffte auf weitere Hinweise. Doch auf dem einzigen Foto mit L. J. Dennys konnte man unmöglich erkennen, wer die Frau unter dem Hut und hinter der großen Sonnenbrille war. Auch von ihrem Haar war fast nichts zu sehen.
Dafür fand er andere Beiträge im Netz, die auf L. J. Dennys verwiesen, eine Naturkundlerin und Umweltaktivistin. Leider ohne brauchbare Fotos.
Schließlich suchte er gezielt nach Laura J. Dennys. Es gab einige falsche Fährten, doch dann stieß er auf etwas Unerwartetes: eine vier Jahre alte Meldung des Boston Globe über eine Laura Dennys Hoffman, die Witwe von Caulfield Hoffman, der zusammen mit seinen beiden Kindern bei einem Segeltörn vor Martha’s Vineyard tödlich verunglückt war.
Wahrscheinlich war auch das eine falsche Fährte, aber Reuben verfolgte sie trotzdem, und schließlich fand er das Foto, auf das er gehofft hatte. Darauf war die Frau mit der Perlenkette und den zwei Söhnen, die er von dem Foto auf Lauras Nachttisch kannte. Neben ihr stand ein großer, gutaussehender Mann mit geheimnisvollem Blick und auffallend weißen Zähnen – Lauras verstorbener Mann. Es war ein Foto, das Mitglieder der gehobenen Gesellschaft zeigte.
Da war sie also, die Frau, die Reuben in den Armen gehalten hatte.
Er klickte alles an, was mit dem Unglück zu tun hatte, dem Caulfield Hoffman und seine beiden Söhne zum Opfer gefallen waren. Laura war in New York gewesen, als der «Unfall» passierte, der, wie sich später herausstellte, gar keiner gewesen war. Eine gründliche und langwierige Untersuchung hatte nämlich ergeben, dass Lauras Mann Selbstmord begangen und seine Söhne mit sich in den Tod gerissen hatte.
Hoffman war Börsenmakler und Fondsmanager gewesen und hatte zu dem Zeitpunkt eine Anklage wegen Insiderhandels und Veruntreuung zu erwarten. Es war die Rede von Scheidung und Sorgerechtsstreitigkeiten.
Aber das war noch nicht Lauras ganze Geschichte. Die Hoffmans hatten ihr erstes Kind verloren, ein Mädchen, das – noch nicht einmal ein Jahr alt – an einem Krankenhausvirus starb.
Nachdem Reuben das in Erfahrung gebracht hatte, war es nicht schwer, die Lebensgeschichte von Laura J. Dennys zusammenzusetzen.
Sie war die Tochter des kalifornischen Naturkundlers Jacob Dennys, der fünf Bücher über die Redwoodwälder der Nordküste geschrieben hatte. Er war vor zwei Jahren gestorben. Seine Frau, Collette, eine Malerin aus Sausalito, war bereits vor zwanzig Jahren an einem Gehirntumor gestorben. Das bedeutete, dass Laura schon sehr jung die Mutter verloren hatte. Jacob Dennys’ älteste Tochter, Sandra, war mit zweiundzwanzig bei einem Überfall auf ein Spirituosengeschäft in Los Angeles getötet worden, als unschuldige Passantin, die «zur falschen Zeit am falschen Ort» war.
Was für eine Aneinanderreihung von Tragödien! Es überstieg Reubens Vorstellungsvermögen. Hinzu kam noch, dass Jacob Dennys in seinen letzten Lebensjahren an Alzheimer erkrankt war.
Reuben lehnte sich zurück und trank einen Schluck Kaffee. Das Sandwich erschien ihm wie Papier mit Sägespänen.
Er war ziemlich erschlagen von allem, was er gelesen hatte. Zugleich schämte er sich dafür, dass er Laura hinterherspionierte. Er hatte es getan, um ihrem Geheimnis auf die Spur zu kommen, und im Grunde gehofft, etwas Außergewöhnliches über sie herauszufinden, etwas, das sie in die Lage versetzte, ihn so zu akzeptieren, wie er war.
Doch das war zu viel verlangt.
Er musste wieder an die beiden Kinder in San Francisco denken, die sich im Bett aneinanderkuschelten. Es machte ihn glücklich, sie gerettet zu haben, und unglücklich, dass er zu spät gekommen war, um ihnen die Mutter zu erhalten. Er fragte sich, wo die Kinder jetzt wohl waren.
Kein Wunder, dass Laura in ihre alte Heimat zurückgekehrt war und sich dann in den Wald zurückgezogen hatte. Die Webseite über L. J. Dennys war drei Jahre alt. Wahrscheinlich hatte sie ihren Vater gepflegt, bis er sie genauso verlassen hatte wie alle anderen vorher.
Lauras Schicksal machte Reuben unsagbar traurig. Ich schäme mich so sehr dafür, dass ich dich begehre. Noch mehr schäme ich mich bei dem Gedanken, dass du mich vielleicht nur lieben kannst, weil du so viel verloren hast.
Er konnte sich nicht vorstellen, so allein zu sein wie sie. Was er jetzt durchmachte, war schon schlimm genug, und er fürchtete, dass seine Isolation ihn langsam verrückt machen würde.
Doch selbst jetzt noch war er von Liebe umgeben. Seine Beziehung zu Grace und Phil war eng, und dann war da natürlich der geliebte Bruder Jim. Er hatte auch noch Celeste, die alles für ihn tun würde, und seinen guten Freund Mort. Das Haus in Russian Hill war ein warmes Nest, und es gab einen großen Freundeskreis, der in diesem Haus verkehrte. Und dann Rosy, die gute Seele! Selbst Phils langweilige Professorenfreunde waren ein Fixpunkt in Reubens Leben, genau wie zahllose Onkel und Tanten.
Dann dachte er wieder an Laura in ihrem kleinen Haus am Waldrand und fragte sich, was es wohl bedeutete, verheiratet zu sein und dann die ganze Familie zu verlieren. Es musste unsagbar schmerzlich sein.
Eigentlich wäre es nicht verwunderlich, dachte er, wenn jemand durch solche Lebenserfahrungen misstrauisch und ängstlich würde. Andererseits konnten sie einen auch stark machen, stark, abgeklärt und unabhängig. Vielleicht machte es einen aber auch gleichgültig gegenüber eigenen Wünschen und Ansprüchen, immun gegenüber Gefahren und entschlossen, immer nur zu tun, was einem gerade gefiel.
Reuben wusste, dass es noch ein Dutzend andere Möglichkeiten gab, etwas über Laura in Erfahrung zu bringen – Kreditkarten, Autokennzeichen, Bankauskunft. Aber das wäre nicht fair gewesen. Nur eins wollte er noch unbedingt wissen, und zwar ihre Adresse. Sie war leicht zu finden. Über ihr Haus waren mehrere Artikel geschrieben worden. Es hatte einmal ihrem Großvater gehört, Harper Dennys, und war ein Relikt aus einer anderen Zeit, denn niemand könnte oder dürfte heute noch ein Haus bauen, das so tief in einem geschützten Waldgebiet lag.
Reuben stand auf, um sich etwas Bewegung zu verschaffen, und umrundete das kleine Motel. Es regnete wieder, aber es war nicht viel mehr als ein Nieseln. Es würde nicht schwer sein, nach Einbruch der Dunkelheit den bewaldeten Hügel zu erklimmen und in den Wald von Mill Valley zu gelangen. Und von dort war es nicht mehr weit bis zu den Muir Woods.
Wahrscheinlich vermutete man ihn in dieser Gegend ohnehin nicht. Immerhin hatte er vor wenigen Stunden einen Mann in San Francisco getötet.
Andererseits könnte Laura J. Dennys ihn angezeigt haben.
War das möglich? Und selbst wenn: Würde man ihr glauben?
Reuben wusste es nicht. Aber er konnte sich nicht vorstellen, dass sie jemandem von ihrer gemeinsamen Nacht erzählt hatte.
Und doch: Wenn sie einen Fernseher hatte, eine Zeitung abonnierte oder eine vom Einkaufen im Ort mitbrachte, musste sie wissen, was passiert war.
Vielleicht wusste sie, dass der «Wilde aus dem Wald» lieber sterben würde, als sie zu verletzen. Aber vielleicht war seine Liebe zu ihr, sein unbedingter Wunsch, sie wiederzusehen, bereits eine Verletzung.
Kurz vor Sonnenuntergang ging er in ein kleines Geschäft, um ein paar Sachen zu kaufen, die ihm besser passten, frische Unterwäsche, Socken und dergleichen. Er verstaute sie in einer Tüte, die er von jetzt an immer in seinem Porsche lassen würde. Er hatte das überdimensionale Kapuzenshirt und den viel zu großen Trenchcoat satt, machte sich aber nicht die Mühe, sich gleich umzuziehen.
Als es dunkel geworden war, nahm der Regen wieder zu, und Reuben fuhr nach Mill Valley und den Panoramic Highway hinauf, bis er Lauras Haus fand. Das kleine graue Schiefergebäude lag weit ab von der Straße und war durch die umstehenden Bäume kaum zu sehen.
Er fuhr noch ein Stück weiter, bis er eine kleine Senke fand, in der er den Porsche verstecken konnte. Dann schlief er ein, aber es war nur ein leichter, unruhiger Schlaf. Eher als erwartet wachte er davon auf, dass die Verwandlung begann.