39

Servierplatten und Geschirr wurden in die Küche gebracht. Wieder halfen alle mit, füllten Wasserkrüge und Weinkaraffen auf, kochten Kaffee und grünen Tee.

Zuletzt wurden frischgebackene Obstkuchen auf den Esstisch gestellt – Apfel, Kirsche und Pfirsich. Dazu eine Käseplatte, Süßigkeiten und frisches Obst.

Margon nahm wieder seinen Platz an der Stirnseite des Tischs ein. Immer noch schien er nicht über den Ursprung der Morphenkinder sprechen zu wollen, aber als er sah, wie neugierig Stuart ihn ansah und wie erwartungsvoll Reuben dasaß, gab er sich einen Ruck.

«Es stimmt, dass es diese isoliert lebende Spezies gab – Primaten, die längst ausgestorben sind und sich in vielerlei Hinsicht von uns unterschieden. Sie lebten vor Tausenden von Jahren auf einer Insel vor der afrikanischen Küste.»

«Von denen haben wir unsere Kraft?», fragte Stuart.

«Genau», sagte Margon. «Das Verbindungsglied ist ein sehr dummer Mann – oder ein sehr weiser, je nachdem, wie man es betrachtet. Er hatte die Idee, aus Affenmenschen mächtige Wolfsmenschen zu machen, die jeder Gefahr trotzen konnten.»

«Hat er solche Wesen gezüchtet?», fragte Stuart.

«Er hat es versucht, aber es gelang ihm nicht», sagte Margon. «Er selbst hat die Kraft übertragen bekommen, indem er sich mehrfach beißen ließ – aber erst nachdem er zwei Jahre lang so viel von den Körpersäften dieser Kreaturen aufgenommen hatte, wie er kriegen konnte. Außerdem sorgte er in diesen zwei Jahren dafür, dass er bei harmlosen Raufereien mit Mitgliedern dieses Stamms gelegentlich gebissen wurde. Er hatte sich mit diesen Leuten angefreundet, nachdem er von seinem eigenen Stamm verstoßen worden war, der in der einzigen Stadt lebte, die es damals gab.»

Margons Ton wurde immer düsterer.

Niemand sagte etwas, alle sahen ihn an, aber er starrte nur auf sein Wasserglas.

Reuben fragte sich, was mit ihm los war, und Stuart schien schon die Geduld zu verlieren, aber Reuben ahnte, dass es hier um mehr ging als eine alte Geschichte, die Margon schon zu oft erzählt und die ihm von Anfang an missfallen hatte.

«Wann war das denn?», fragte Stuart. «Und was soll das heißen, dass es damals nur eine Stadt gab?» Er schien Feuer und Flamme für das Thema zu sein.

«Bitte, Stuart!», sagte Reuben. «Lass Margon auf seine eigene Art erzählen.»

Aber statt Margon meldete sich Laura zu Wort.

«Sie sprechen von sich selbst, nicht wahr?», sagte sie.

Margon nickte.

«Ist die Erinnerung so qualvoll?», fragte Reuben. Er konnte Margons Miene nicht recht deuten. Abwechselnd schien er abwesend und dann wieder hoch konzentriert zu sein. Manchmal schien er zu vergessen, dass er nicht allein war, dann wieder ging er auf die anderen ein.

Die Vorstellung, einen Unsterblichen vor sich zu haben, war faszinierend und verstörend zugleich. Ganz neu war Reuben die Langlebigkeit der Morphenkinder nicht, trotzdem schockierte ihn die Zeitspanne, die Margon durchlebt hatte.

Stuart starrte Margon völlig fasziniert an und schien jedes Detail in sich aufzusaugen.

«Erzählen Sie uns, was passiert ist», sagte er beinahe eingeschüchtert. «Warum sind Sie verstoßen worden? Was hatten Sie getan?»

«Ich wollte den Göttern nicht huldigen», sagte Margon leise, ohne jemanden anzusehen. «Ich wollte ihnen im Tempel keine Opfer darbringen, weil es nur steinerne Statuen waren. Ich wollte auch nicht die Lobeshymnen singen, die wir stundenlang zu monotonen Trommelschlägen darbringen sollten. Ich weigerte mich, den einfachen Leuten zu sagen, dass die Götter alles zerstören würden, wenn sie ihnen keine Opfer darbrachten und sich bei der Feldarbeit und beim Bau der Bewässerungskanäle nicht totschufteten. Margon, der Gottlose, weigerte sich, diese Lügen zu verbreiten.»

Nach einer kurzen Pause sagte er umso lauter: «Nein, es macht mir nichts aus, diese Erinnerungen hervorzuholen. Aber ich glaube nicht mehr daran, dass es etwas nützt, von diesen Dingen zu berichten.»

«Warum haben die Sie nicht einfach hingerichtet?», fragte Stuart.

«Das konnten sie nicht», sagte Margon. «Ich war ihr König.»

Stuart war begeistert.

Reuben hingegen sah plötzlich den Glutofen einer irakischen Wüste vor sich, die von Archäologen gegrabenen Gänge, in denen er gearbeitet hatte. Er sah die antiken Tontafeln mit Keilschrift und die kostbaren Bruchstücke davon, die auf dem langen Tisch in der Geheimkammer lagen. Er war sich ganz sicher, dass das der Zusammenhang war. Sie stammten aus Margons Heimat.

Margon griff nach der silbernen Kaffeekanne, aber Reuben beugte sich schnell vor und schenkte ihm etwas ein. Königlicher Mundschenk.

Felix und Thibault sahen Margon geduldig an. Laura hatte sich auf ihrem Stuhl so hingesetzt, dass sie ihn ansehen konnte, ohne den Kopf zu drehen. Auch sie wartete geduldig ab, ob und wann er weitersprechen würde.

Nur Stuart konnte nicht warten. «Welche Stadt war es?», fragte er. «Kommen Sie schon, Margon, erzählen Sie!»

Felix schüttelte den Kopf und sah ihn streng an.

«Schon gut. Es ist doch ganz natürlich, dass er es wissen will», sagte Margon. «Denkt nur an diejenigen, die nicht neugierig waren, die nichts von der Vergangenheit wissen wollten. Ihnen wäre es besser ergangen, wenn sie ihre eigene Geschichte und die ihrer Ahnen gekannt hätten.»

«Ich will alles wissen», sagte Stuart leise.

«Dabei bin ich mir gar nicht sicher, ob du wirklich schon verstanden hast, was ich bislang gesagt habe», sagte Margon.

Das ist das Problem, dachte Reuben. Wie sollte man auch wirklich verstehen, dass der Mann, der da vor einem saß, schon seit Anbeginn der Menschheit am Leben war?

«Nun, ich werde hier jetzt nicht die ganze Chronik der Morphenkinder ausbreiten», sagte Margon. «Aber einiges werde ich euch erzählen. Es genügt, wenn ihr wisst, dass ich verstoßen wurde und in die Fremde ziehen musste. Ich hatte mich geweigert, mich als Gottessohn zu bezeichnen, wie es für die Könige unseres Landes üblich war. Stattdessen habe ich mich auf die Kräfte besonnen, die uns selber innewohnen. Das war gar nicht so radikal und abtrünnig, wie es jetzt vielleicht klingt. Viele haben das getan. Aber man durfte es nicht laut sagen.»

«Sie sprechen von Uruk, stimmt’s?», fragte Stuart.

«Nein, es war lange vor Uruk», erwiderte Margon. «Lange vor Eridu, Larsa und Jericho oder jeder anderen Stadt, die du benennen könntest. Die Überreste meiner Stadt liegen unter Sand begraben. Noch hat niemand sie gefunden. Nicht einmal ich weiß, was mit ihr und meinen Nachfahren geschehen ist oder ob Städte, die seither in der Nähe entstanden, ihr Erbe verkörpern. Ich weiß auch nicht, was mit ihren Handelsniederlassungen außerhalb der Grenzen geschah. Dort wurde mit Tieren, Sklaven und allerlei Waren gehandelt, außerdem dienten diese Außenposten des Reichs zugleich als Aushängeschild für unsere Lebensart. Wir haben unsere Kultur sozusagen exportiert. Doch ich weiß nicht, was daraus geworden ist – aus den Orten und unserer Kultur. Ich war schließlich nicht dabei, sondern hatte alle Hände voll damit zu tun, mein eigenes Überleben zu sichern, und war dem Untergang oft genug sehr nahe.»

Inzwischen hatte er sich warmgeredet, und die Worte sprudelten nur so aus ihm heraus.

«Ich sah mich nicht als jemand, der vom Schicksal oder durch Zufall an den Beginn eines Lebens gestellt worden war, das die Jahrtausende überdauern sollte. Wie hätte ich das auch ahnen sollen? Vielmehr habe ich all die Kräfte unterschätzt, die ich mir angeeignet habe. Dabei ist es eine Laune der Natur, dass ich überhaupt überlebt habe. Deshalb rede ich nicht gern darüber.»

Als er dieses Mal eine Pause machte, sagte niemand etwas, nicht einmal Stuart.

«Ich will also gar nicht mehr sagen, als dass ich verstoßen und aus der Stadt gewiesen wurde», fuhr Margon nach einer Weile fort. «Die treibende Kraft dahinter war mein Bruder.» Er machte eine wegwerfende Handbewegung. «Es liegt in der Natur der Mittelmäßigen, dass sie Lügen für unverzichtbar halten und der Wahrheit misstrauen.»

Lächelnd sah Margon zu Stuart hinüber.

«Deshalb willst du die Wahrheit hören, nicht wahr? Bis jetzt hat dich das Leben gelehrt, dass Lügen so wichtig sind wie die Luft zum Atmen, und jetzt bist du ohne jede Vorwarnung in ein Leben geworfen worden, in dem du nur zurechtkommst, wenn du nach Wahrheit strebst.»

«Genau», sagte Stuart ernst und zögerte, bevor er weitersprach. «Ich bin schwul. Seit ich denken kann, gab es tausend Gründe, das zu verbergen, zu lügen und mich zu verstellen. Aber ich bin nicht so wichtig. Erzählen Sie lieber, was mit Ihnen passierte!»

«Das Glück Margons, des Gottlosen, war, dass niemand wagte, das Blut eines geborenen Königs zu vergießen. Man hat sich damit begnügt, mich vor den Stadttoren auszusetzen und in die Wüste zu schicken, mit nichts als einem Wassersack und einem Stab. Ich zog also durch Afrika, zuerst in südlicher Richtung durch Ägypten, dann die Küste entlang, bis ich zu jener fremdartigen Insel kam, die von einem friedliebenden, aber allgemein verhassten Volk bewohnt wurde.

Damals wurden sie nicht zur menschlichen Rasse gezählt, aber es waren Menschen, ein völlig abgeschotteter Stamm. Trotzdem nahmen sie mich auf. Sie gaben mir zu essen und zu trinken und auch das wenige, womit sie sich zu bekleiden pflegten. Sie hatten mehr Ähnlichkeit mit Affen als mit Menschen, aber sie verfügten über eine Sprache und konnten damit sogar Liebe ausdrücken.

Eines Tages sagten sie, ihre Feinde, die Küstenmenschen, kämen. Sie beschrieben, was diese Leute üblicherweise taten, wenn sie die Insel überfielen, und alle, auch ich, glaubten, wir würden sterben.

Das Inselvolk lebte in größter Harmonie. Die Küstenmenschen hingegen waren Homo sapiens sapiens wie ich. Sie waren mit Speeren und Steinäxten bewaffnet und wild entschlossen, die in ihren Augen minderwertige Rasse auszurotten.

‹Geh und versteck dich vor ihnen›, sagten die Inselbewohner zu mir. ‹Bald kommen sie mit Booten übers Meer.› Als es so weit war, tanzten sie wild im Kreis umher und verwandelten sich. Ihre Gliedmaßen zogen sich in die Länge, Reißzähne wuchsen ihnen, und ihr ganzer Körper wurde von dichtem Wolfspelz überzogen. Euch brauche ich es ja nicht näher zu schildern, ihr habt es am eigenen Leibe erlebt. Der ganze Stamm, Männer wie Frauen, verwandelte sich vor meinen Augen in furchterregende Monster.

Aus Menschen oder Humanoiden wurde ein heulendes Wolfsrudel. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Sie überwältigten die Eindringlinge, warfen sie ins Meer zurück, fraßen sie, zerstörten ihre Boote mit Zähnen und Klauen und verfolgten jeden, der fliehen konnte, bis sie ihn packen und mit Haut und Haaren verschlingen konnten.

Anschließend verwandelten sie sich in ihre ursprüngliche Gestalt zurück und sagten, ich bräuchte die Feinde auch in Zukunft nicht zu fürchten, denn sie könnten das Böse riechen, wenn es sich näherte. Sie röchen es schon, bevor die Boote zu sehen waren. Auch vor ihnen selbst bräuchte ich keine Angst zu haben, denn was ich gerade gesehen hätte, täten sie nur, wenn es gelte, den Feind zu vertreiben. Es sei eine Fähigkeit, die ihnen die Götter vor langer Zeit verliehen hätten, damit sie sich gegen das Böse verteidigen könnten, das ihre friedliche Welt grundlos zerstören wolle.

Ich blieb zwei Jahre dort und wollte werden wie sie. Ich trank ihren Urin, ihr Blut, ihre Tränen und was immer sie mir sonst gaben. Es war mir egal, welchen Ekel ich dabei überwinden musste. Ich schlief auch mit ihren Frauen und beschaffte mir den Samen der Männer. Sie gaben mir ihre Körpersekrete im Austausch für Wissen und Ratschläge. Manchmal machte ich auch kleinere Erfindungen für sie, von denen sie niemals auch nur geträumt hätten, und ich löste Probleme, die für sie unlösbar waren.

Sie verwandelten sich nicht nur, wenn Feinde von außen kamen, sondern auch, wenn es darum ging, einen Gesetzesbrecher aus den eigenen Reihen zu bestrafen, meist einen Mörder.

Auch diese Übeltäter erkannten sie am Geruch. Hatte sich jemand etwas Schwerwiegendes zuschulden kommen lassen, umzingelten sie ihn und tanzten sich in Trance, bis die Verwandlung einsetzte. Dann stürzten sie sich auf den Schuldigen, zerrissen und verschlangen ihn. Soviel ich weiß, haben sie sich niemals geirrt, und ich habe mehr als einmal erlebt, dass sie einen Gesetzesbrecher richteten. Sie haben ihre Macht niemals missbraucht. Alles in ihnen sträubte sich dagegen, unschuldiges Blut zu vergießen. Die Götter hatten ihnen nur die Fähigkeit verliehen, das Böse auszumerzen, und sie zweifelten niemals an der Richtigkeit ihres Handelns. Dass ich ihre Fähigkeiten erwerben wollte und dachte, ich könnte selbst dafür sorgen, fanden sie ausgesprochen amüsant. Trotzdem tat ich alles, was ich konnte, um Teile von ihnen zu bekommen, wenn sie sich verwandelt hatten. Sie fanden das sehr komisch, aber da sie großen Respekt vor mir hatten, ließen sie mich gewähren.»

Margon schloss die Augen und legte die Fingerspitzen an die Nase. Als er die Augen wieder aufschlug, schien er die Welt von früher vor sich zu sehen.

«Waren diese Leute sterblich?», fragte Laura.

«Ja, das waren sie», sagte Margon. «Sie starben sogar an den geringfügigsten Krankheiten, die meine Palastärzte mit Leichtigkeit hätten heilen können. Ein entzündeter Zahn, den man hätte ziehen können, ein gebrochenes Bein, das falsch behandelt wurde, sodass Wundbrand einsetzte. Sie verehrten mich, weil ich manche Krankheiten und Verletzungen heilen konnte.»

Thibault, der gesagt hatte, er habe keine Lust, sich Margons alte Geschichten anzuhören, lauschte so fasziniert, als sei ihm das alles neu.

«Warum haben sie sich dann doch gegen dich gewendet?», fragte er. «Das hast du noch nie erzählt.»

«Ich habe den gleichen Fehler begangen wie früher», erwiderte Margon. «Nach zwei Jahren hatte ich genug von ihrer einfachen Sprache gelernt, um ihnen zu sagen, dass ich nicht an ihre Götter glaubte. Man darf nicht vergessen, dass ich damals noch sehr jung war, vielleicht drei Jahre älter als Stuart jetzt. Ich wollte ihre Fähigkeit haben. Und die kam nicht von den Göttern. Ich fand, dass ich es ihnen sagen sollte. Damals sagte ich die Wahrheit, wo ich ging und stand.» Er lachte leise. «Ihre Religion war nicht annähernd so komplex wie die der städtischen Zivilisationen in den fruchtbaren Ebenen. Sie hatten keine Tempel oder Tempelsteuern oder Altäre für Blutopfer. Trotzdem hatten sie ihre Götter. Und ich fühlte mich berufen, ihnen zu sagen, dass es keine Götter gab.

Sie hatten mich immer gut behandelt und verehrten mich sogar, weil ich ihnen viel beibrachte. Aber dass ich ihre Fähigkeiten erwerben wollte, fanden sie ausgesprochen lachhaft, denn in ihrem Denken konnte man nichts erwerben, was die Götter einem nicht von allein gaben. Und die Götter hatten nun mal ihnen diese besonderen Fähigkeiten verliehen – und nicht mir.

Als sie dann begriffen, dass ich ihre Götter grundsätzlich ablehnte, erklärten sie mich zum Gesetzesbrecher der übelsten Sorte und setzten einen Zeitpunkt fest, an dem ich sterben sollte.

Ihre Tötungsrituale fanden immer bei Sonnenuntergang statt. Wenn sie bei hellichtem Tage angegriffen wurden, konnten sie sich ohne weiteres verwandeln, aber bei Hinrichtungen warteten sie immer bis Sonnenuntergang.

Als es nun also dunkel wurde, zündeten sie ihre Fackeln an, stellten sich in einem großen Kreis auf und zwangen mich in die Mitte. Dann begannen sie zu tanzen, um ihre Verwandlung herbeizuführen.

Es fiel ihnen nicht leicht, und nicht alle machten mit. Ich hatte vielen das Leben gerettet, kranke Kinder geheilt. Es war deutlich zu sehen, wie sehr es ihnen widerstrebte, einen Unschuldigen anzugreifen. Ich weiß zwar nicht, welchen Geruch sie an mir wahrnahmen, aber es war wohl nicht der eines üblichen Missetäters.

Dafür weiß ich, welchen Geruch ich an ihnen wahrnahm – einen abscheulichen, säuerlichen, der mir sehr böse vorkam, weil ich um mein Leben fürchten musste, als sie sich in Wolfsgestalt auf mich stürzten.

Hätten sie mich zerrissen wie die anderen Feinde und Gesetzesbrecher, wäre es das Ende meiner Geschichte. Doch das taten sie nicht. Etwas hielt sie zurück – der Respekt vor mir oder ein Misstrauen in das Urteil, das ihre Anführer über mich gefällt hatten.

Sie griffen mich an, aber ich hatte mir mit der Zeit genug von ihnen einverleibt, um gegen kleinere Verletzungen immun zu sein und größere mit Selbstheilungskräften unschädlich zu machen. So habe ich ihre Angriffe überlebt.

Dennoch hatte ich zahllose Wunden, und ich kroch auf allen vieren in den Dschungel, um zu sterben. Es waren die schlimmsten Schmerzen, die ich je hatte, und es machte mich unfassbar wütend, dass mein Leben auf diese Weise enden sollte. Sie umtanzten mich weiter, als sie sich in ihre ursprüngliche Gestalt zurückverwandelten, beschimpften und verfluchten mich, und als sie sahen, dass ich nicht tot war, wurden sie wieder zu Wölfen. Aber auch beim zweiten Mal konnten sie es nicht über sich bringen, mich zu töten.

Und dann habe ich mich verwandelt.

Direkt vor ihren Augen.

Die treibende Kraft waren meine Wut und der Gestank des Hasses, der von ihnen ausging.

Ich verwandelte mich also und ging zum Gegenangriff über.»

Mit weit aufgerissenen Augen blickte Margon auf etwas, das nur er sehen konnte. Alle anderen saßen schweigend da. Reuben registrierte nicht zum ersten Mal, dass Margon die Situation auch dann beherrschte, wenn er nichts sagte und keinerlei einschüchternde Gesten machte. Er hatte etwas wahrhaft Königliches.

Kaum merklich schüttelte Margon den Kopf und fuhr fort: «Sie waren keine ebenbürtigen Gegner und kamen mir vor wie verspielte Welpen mit Milchzähnen. Sie waren eine primitive humanoide Spezies mit animalischen Fähigkeiten, ich aber war ein Homo sapiens sapiens, der ihre Superkräfte in sich aufgenommen hatte – eine ungleich potentere Mischung! Meine Entschlossenheit, meine Wut und Kampfkraft waren ihnen vollkommen fremd.»

Reuben wusste genau, was Margon meinte. Er hatte es selbst erlebt. Die Natur des Menschen hatte auch diese dunkle Seite.

«Etwas Wilderes, Tödlicheres als alles, was sie und ich bis zu diesem Moment gekannt hatten, war geboren», sagte Margon. «Der Wolfsmensch, der Werwolf … das, was wir heute sind.»

Als er dieses Mal innehielt, schien er zu überlegen, wie er fortfahren sollte.

Schließlich sagte er: «Es gibt einiges, was ich immer noch nicht verstehe. Ich weiß nur so viel, wie heute allgemein bekannt ist: dass die Evolution immer wieder Mutationen hervorbringt, zufällige Genveränderungen und -kombinationen. Diese Zufälle sind die Motoren des Universums. Nichts wirklich Neues entsteht ohne sie, und sie haben weitreichende Konsequenzen. Ein solcher Zufall hat uns Morphenkinder in die Welt gesetzt.»

Margon trank seinen Kaffee, und Reuben schenkte ihm noch einmal nach.

Stuart war völlig perplex, und es war ihm anzusehen, dass er noch mehr Fragen hatte. Er schien gar nicht zu wissen, welche er zuerst stellen sollte.

Felix sah ihn an und sagte: «Der Vorteil einer Geschichte, die widerstrebend erzählt wird, besteht darin, dass sich der Erzähler um Wahrhaftigkeit bemüht.»

«Ich weiß», sagte Stuart. «Es ist nur … Ich möchte so gern …»

«Du möchtest dich uneingeschränkt zu deiner neuen Existenzform bekennen können», sagte Felix. «Ich weiß. Wir alle wissen es.»

Margon wirkte abwesend. Vielleicht lauschte er der Klaviermusik Saties, die weiterhin aus der Küche kam.

«Dann ist es Ihnen also gelungen, die Insel zu verlassen?», fragte Laura nach einer Weile.

«Ich bin nicht geflohen», sagte Margon. «Was geschehen war, konnte für die anderen nur einen Grund haben: Ihre Götter hatten es so gewollt, und Margon, der Gottlose, galt ihnen ab sofort als göttlich.»

«Sie haben Sie zu ihrem Herrscher gemacht?», fragte Stuart mit weit aufgerissenen Augen.

«Nein, sie haben ihn als ihren Hauptgott betrachtet», sagte Thibault. «Das ist ja das Verrückte. Margon, der Gottlose, wurde ihr Gott.»

Stuart war so fasziniert, dass er auch noch den Mund aufriss und nur stammeln konnte: «Was? Echt?»

Margon lachte und zuckte entschuldigend mit den Schultern. Dann sagte er: «Ich war viele Jahre lang ihr Herrscher. Mehr als das. Die Leute betrachteten mich tatsächlich als ihren Gott. Wir lebten friedlich zusammen, und wenn wieder mal eine Invasion stattfand, habe ich den Widerstand organisiert. Ich konnte das Böse riechen, genau wie sie. Und genau wie sie verspürte ich den Drang, es zu zerstören. Wenn ich unsere Feinde roch, verwandelte ich mich, genau wie sie. Auch wenn unter uns das Böse ausbrach, konnte ich es riechen.

Der Unterschied zwischen uns war aber, dass ich mich regelrecht danach sehnte, das Böse zu riechen. Hätte ich das Böse über Hunderte von Kilometern gerochen, wäre ich in das Land des Übeltäters gereist, um ihn zu bestrafen. Ich war vollkommen unfähig, dem Geruch des Bösen zu widerstehen. Der Drang, das Böse auszumerzen, beherrschte mich. Hätte ich das Böse an oder in mir gerochen, hätte ich sogar mich selbst ausgelöscht.»

«Klar», sagte Stuart. «Versteh ich total.»

«Es war das Verlangen eines Königs», sagte Margon. «Vielleicht bin ich den Versuchungen des Herrschens erlegen. Mir, dem ersten Homo sapiens sapiens, der jemals zu dieser Verwandlung fähig war, bedeutete das alles viel mehr als dem Inselvolk.

Wir alle sind anfällig für diesen Machtrausch. Hier in den majestätischen Wäldern können wir den Stimmen widerstehen, Ruhe finden und uns vor unserer eigenen Gier schützen, aber früher oder später wird uns die Abstinenz unerträglich, und dann suchen wir direkt nach dem Bösen, das wir doch eigentlich so verabscheuen.»

«Ach, so ist das», sagte Stuart und nickte.

Auch Reuben nickte.

«Ja», sagte Felix. «So ist das.»

«Wenn es so weit ist, begeben wir uns aktiv auf die Suche nach dem Bösen», sagte Margon. «In der Zwischenzeit gehen wir in den Wäldern auf die Jagd, denn ihren Verlockungen können wir nicht auch noch widerstehen. Dort können wir unseren Blutdurst stillen, ohne uns an Menschen zu vergreifen.»

Reuben hatte wieder den Geschmack des frischen Elchbluts auf der Zunge und dachte daran, dass dieser Elch selbst keine Tiere fraß. Margon hatte recht, es ging um animalische Instinkte. Der Elch hatte nichts Böses an sich.

«Hat sich das Inselvolk auch verwandelt, um auf die Jagd zu gehen?», fragte er.

«Nein», sagte Margon. «Niemals. Die Leute gingen auf die Jagd, aber ohne sich zu verwandeln. Ich war von Anfang an anders. Wenn die Wildnis nach mir rief und ich auf die Jagd gehen wollte, habe ich mich verwandelt. Ich habe es geliebt, aber die Leute fanden es befremdlich. Sie konnten sich nicht verwandeln, ohne das Böse zu riechen. Dass ich es konnte, galt ihnen als Beweis meiner Göttlichkeit.»

«Dabei war es nur ein Zufallsergebnis der Mutation», sagte Laura.

«Richtig», sagte Margon und nickte ihr zu. «Ich war anders als sie, etwas ganz Neues.»

Nach kurzem Nachdenken fuhr er fort: «Ich musste selbst erst nach und nach herausfinden, was aus mir geworden war. Anfangs war mir auch nicht bewusst, dass ich unsterblich geworden war. Ich hatte gesehen, dass die Stammeskrieger nahezu unverwundbar waren, wenn sie kämpften. Wenn sie verletzt wurden, heilten ihre Wunden schnell, und sie überlebten fast alles, was ihnen zustieß, solange sie verwandelt waren. Bei mir stellte sich dann heraus, dass meine Wunden noch schneller heilten als ihre, und zwar unabhängig davon, ob ich mich als Wolf oder als Mensch verletzt hatte. Zunächst wusste ich aber nicht, was das zu bedeuten hatte. Noch als ich den Stamm verließ, war mir nicht klar, dass ich mich auf eine Wanderschaft begab, die Jahrtausende dauern sollte. Und noch etwas muss ich euch berichten.» Er sah Reuben an. «Vielleicht können Sie damit eines Tages Ihrem Bruder helfen, wenn er an den Abgründen seiner Seele besonders leidet. Ich habe nur selten darüber gesprochen, aber Ihnen will ich es sagen.»

Felix und Thibault sahen ihn gespannt an.

«Auf der Insel gab es einen heiligen Mann. Heute würde man ihn als Schamanen bezeichnen. Er nahm Giftpflanzen zu sich, die ihn in Trance oder Raserei versetzten. Ich habe ihn kaum beachtet. Er tat niemandem etwas zuleide, meist hockte er glücklich umnebelt am Strand und kratzte Zeichen und Symbole in den Sand. Er hat nie gegen mich opponiert, und ich habe sein angeblich mystisches Wissen nie öffentlich in Frage gestellt, obwohl ich nicht daran glaubte.

Als ich die Insel dann verlassen und ans Festland übersetzen wollte, nachdem ich das Zepter sozusagen an einen Nachfolger übergeben hatte, kam dieser Schamane ans Ufer und rief mich in Anwesenheit des ganzen Stammes an.

Wir waren mitten im Abschiedszeremoniell, mit guten Wünschen und sogar Tränen, und niemand wollte diesen Irren sehen, der wieder mal völlig berauscht war und in Rätseln sprach.

Aber er ließ sich nicht beirren und kam immer näher. Als er die Aufmerksamkeit aller errungen hatte, zeigte er mit dem Finger auf mich und sagte, die Götter würden mich dafür bestrafen, dass ich die Macht an mich gerissen hatte, die eigentlich ‹dem Volk› gehörte.

Er sagte, ich sei gar kein Gott, und schrie: ‹Margon, du Gottloser, du sollst niemals sterben! So haben es die Götter beschlossen. Es wird eine Zeit kommen, da du den Tod erflehen wirst, aber er wird dir nicht gewährt. Egal was du tust und wohin du gehst, du wirst nicht sterben. Selbst unter deinesgleichen wirst du ein Monster sein. Deine Macht wird dich quälen und dir keine Ruhe gönnen. Das soll deine Strafe dafür sein, dass du die Macht an dich gerissen hast, die uns gebührt.›

Die anderen erschraken und waren verwirrt. Manche wollten den Schamanen schlagen und ihn in seine Hütte zurückjagen, andere bekamen Angst.

Doch er sagte: ‹Die Götter haben es mir gesagt. Sie lachen dich aus, Margon. Und sie werden dich weiter auslachen, egal wohin du gehst und was du tust.›

Ich war völlig erschüttert, obwohl mir noch gar nicht richtig klar war, warum. Aber ich verbeugte mich und dankte dem Schamanen für seinen Orakelspruch. Im Grunde tat er mir nur leid. Ich ließ mir nichts anmerken und bereitete weiter meine Abfahrt vor.

Danach habe ich jahrelang nicht mehr an ihn gedacht, aber irgendwann fiel er mir wieder ein, und seither vergeht kein Jahr, in dem ich nicht an ihn und seine Worte denke.»

Margon seufzte, bevor er fortfuhr: «Über hundert Jahre später kehrte ich auf die Insel zurück, um zu sehen, wie es meinem Volk, wie ich es immer noch nannte, ergangen war. Es stellte sich heraus, dass es bis zum letzten Mann ausgelöscht worden waren. Stattdessen wurde die Insel von Homo sapiens sapiens beherrscht. Die Wilden, die hier vorher gelebt hatten, existierten nur noch in Legenden.»

Margon sah von Reuben zu Stuart und schließlich zu Laura hinüber und fragte: «Was lernen wir nun also daraus?»

Niemand sagte etwas, nicht einmal Stuart, der den Kopf auf die Hände stützte und Margon fragend ansah.

«Ich verstehe es so», sagte Laura nach einer Weile. «Dieses Volk hatte erstaunliche Kräfte entwickelt, um sich gegen die feindlichen Überfälle wehren zu können, wahrscheinlich im Laufe von Jahrtausenden. Es war eine Überlebensstrategie, die sie im Laufe der Zeit immer mehr perfektioniert hatten.»

Margon nickte. «Und weiter?»

«Den Geruch des Feindes zu identifizieren, war Teil dieser Strategie», fuhr Laura fort. «Mit der Zeit wurde die Wahrnehmung dieses spezifischen Geruchs zum Auslöser für die Verwandlung.»

Wieder nickte Margon.

«Dass sie sich nicht verwandelten, wenn sie auf die Jagd gingen, lag vermutlich daran, dass sie eine innere Bindung zur Tierwelt hatten», sagte Laura.

«Gut möglich», sagte Margon.

«Aber Sie», fuhr Laura fort, «ein Homo sapiens sapiens, fühlten sich den wilden Tieren nicht nur nicht verwandt, sondern fürchteten sie und wollten sie töten, obwohl sie weder schuldig noch unschuldig waren, weder gut noch böse.»

Stuart schaltete sich ein und fragte: «Wenn die Evolution etwas ganz Neues in Ihnen hervorgebracht hat – was ist dann mit uns? Immerhin sind seitdem Tausende von Jahren vergangen, oder? Genug Zeit für evolutionäre Entwicklungen, die heute Teil von uns sind.»

«Davon kann man ausgehen», sagte Margon. «Damals hatte ich noch keine Vorstellung von einem evolutionären Kontinuum. Niemand hatte das. Ich glaubte an die Einzigartigkeit und Überlegenheit der menschlichen Rasse und war nicht der Meinung, dass man von Tieren etwas lernen kann. Ich wollte meine neuen Fähigkeiten als Waffe benutzen und stärker sein, als ich es auf jede andere Art sein konnte. Ich wollte alle besiegen. Aber es war nicht nur das. Ich wollte mich auch wie ein Wolf fühlen, wie ein Wolf hören und sehen und nach meiner Rückverwandlung mein menschliches Dasein mit den neugewonnenen Erfahrungen bereichern. Es war ein selbstsüchtiges und anmaßendes Unterfangen. Später habe ich darunter sehr gelitten und mich fast nur noch verwandelt, wenn ich mich verteidigen musste.»

«Verstehe», sagte Laura. «Wann haben Sie dann angefangen, die Dinge anders zu sehen? Immerhin sprechen Sie heute von Chrisam – ein Wort, das so viel bedeutet wie ‹heilige Substanz›. Sie würden es nicht so nennen, wenn Sie die Sache immer noch so negativ sähen. Vielmehr scheinen Sie es jetzt als eine verbindende Kraft zu betrachten, die allen Lebensformen Wert beimisst, alle Kreaturen als Teil der Schöpfung schätzt.»

«Das ist wahr», sagte Margon. «Mit der Zeit habe ich mir diese Sichtweise angeeignet. Ich brauchte nicht Darwin zu lesen, um zu begreifen, dass alles, was auf Erden lebt, miteinander in Verbindung steht. Ich konnte es mit meinen eigenen Sinnen erfassen. Irgendwann entwickelte ich dann den Wunsch, eine Dynastie der Unsterblichen zu gründen, bestehend aus Wesen, die menschliche und animalische Fähigkeiten in sich vereinen und mehr von der Welt verstehen als Mensch oder Tier. Ich träumte von Morphenkindern, die allen Lebensformen mit Hochachtung begegnen, weil sie die Vielfalt selbst in sich tragen. Ich stellte mir diese Wesen als moralisch gefestigt vor, niemandem Rechenschaft schuldig, aber stets auf der Seite des Guten, des Barmherzigen, des Bewahrenden.»

Margon klang so enttäuscht, dass Laura fragte: «Meinen Sie, es sei Ihnen nicht geglückt, eine solche Dynastie zu gründen?»

«Da habe ich meine Zweifel», sagte Margon. «Ich sehe nicht, dass Morphenkinder ihre besonderen Fähigkeiten nutzen, um alles Lebende zu schützen. Ich halte unser Sosein eher für einen evolutionären Zufall, der nichts Weltbewahrendes bewirkt.»

Felix schüttelte den Kopf und sagte: «Sei nicht so negativ, Margon! Du hast gerade deine schwärzesten Erinnerungen hervorgeholt, aber das bedeutet nicht, dass die Zukunft schwarz ist.»

Margon nickte ihm zu. Dann sah er Reuben, Stuart und Laura an und sagte: «Ich möchte, dass andere diesen Traum verfolgen. Dass sie zu Kronzeugen für die Ganzheit allen Lebens werden und alles tun, um diese Ganzheit zu bewahren, auch wenn ich selbst vielleicht nie wirklich daran geglaubt habe.»

Das Eingeständnis schien ihm nicht leichtzufallen. Wie ein gebrochener Mann saß er da, und Felix war sichtlich um ihn besorgt, genau wie Thibault.

«Ich glaube daran», sagte Reuben. «Ich glaube an die Ganzheit allen Lebens – nicht erst seit heute. Was immer wir tun, wohin wir auch gehen – wir sind Wesen, die mit Chrisam gesegnet sind und deswegen ein ganzheitlicheres Bild von der Welt haben als alle anderen Kreaturen. Dass wir zu Bewahrern dieser Welt werden, ist nur die logische Konsequenz daraus.»

Mit Blick auf Margon sagte Felix: «Ich sehe es genauso. Wir Mischwesen haben Zugang zur spirituellen und animalischen Welt und begreifen beide als Quelle der Wahrheit.»

«Aber wir hadern damit», sagte Margon. «Abwechselnd fühlen wir uns mal mehr zum einen oder anderen hingezogen. Immer wieder müssen wir unsere Instinkte überwinden und um eine moralisch verantwortungsbewusste Lebensweise ringen.»

Reuben musste wieder an den Wald denken, der ihm wie eine Kathedrale der Gottesverehrung vorgekommen war, eine Kathedrale unter dem weiten, freien Sternenhimmel. Wenn er dort war, floss das Wissen um das Göttliche in seinen Adern.

«Genau», sagte Felix. «Immer wieder die gleichen Fragen: Gibt es einen Schöpfer, der jenseits unserer materiellen Welt aus Zellen und Chemie angesiedelt ist, oder gibt es nur den einen, der alles, Materielles wie Immaterielles, in den Händen hält? Aber wir stellen uns diese Fragen, und das ist gut so.»

Stuart blickte in die Ferne. Ihm war anzusehen, dass er noch dabei war, all die hochfliegenden Gedanken zu verarbeiten. Aber er schien sich inspiriert zu fühlen und Möglichkeiten zu erahnen, an die er vorher nicht im Traum gedacht hatte.

Reuben hatte das Gefühl, dass seine Seele sich weitete. Es hatte etwas Erhabenes, dass Wesen wie sie erschaffen worden waren, auch wenn ihre besten Zeiten vielleicht schon vorbei waren.

Ins allgemeine Schweigen hinein fragte Laura: «Wenn Sie unsterblich sind, Margon, wie konnten dann Marrok und Reynolds Wagner sterben?»

«Ich habe keinen Grund anzunehmen, dass ich anders bin als die anderen unserer Art», sagte Margon. «Wenn man uns den Kopf abtrennt oder unser Gehirn zerstört, sterben wir wie diese beiden. Ich vermutlich auch.»

«Und wem haben Sie dann das Chrisam als Erstem weitergegeben, als Sie die Insel verließen?», fragte Laura.

«Sein Name tut nichts zur Sache», sagte Margon. «Und es ist aus Versehen geschehen, wie so oft. Mir war völlig unklar, dass ich mir den ersten Gefährten erschuf, der mich lange begleiten sollte. Aber ich will euch verraten, was das Beste daran ist, ein neues Morphenkind zu erschaffen: Es lässt euch die göttliche Wahrheit spüren, klarer als in all euren Gebeten oder Grübeleien. Selbst Margon, der Gottlose, begegnet Gott in jeder neuen Generation.»

«Ich verstehe», sagte Laura und lächelte.

Margon wandte sich an Reuben. «Leider kann ich Ihnen nicht das moralische Rüstzeug geben, das Sie so verzweifelt suchen.»

«Ich glaube, da irren Sie sich», sagte Reuben. «Ich glaube, Sie haben es schon getan.»

Dann fragte Margon Stuart: «Und du? Was geht dir durch den Kopf?»

«Die tollsten Sachen», sagte Stuart und grinste. «Verbindungen zu schaffen und alle Daseinsformen zu schätzen … das ist … danach habe ich mich immer gesehnt. Jetzt brauche ich mich nicht mehr zu schämen. Das ist toll!»

Margon nickte ihm ermutigend zu. Dann sagte er: «Eine Frage hat noch keiner von euch gestellt: warum wir einander nicht riechen können.»

«Hey, stimmt», sagte Stuart überrascht. «Ich rieche euch nicht. Auch Sergej habe ich nicht gerochen, als er in Wolfsgestalt hier war.»

«Woran liegt das?», fragte Reuben und erinnerte sich daran, dass er an Marrok weder einen Eigengeruch noch das Böse hatte riechen können.

«Ich vermute, es liegt daran, dass ihr weder gut noch böse seid», sagte Laura. «Weder Mensch noch Tier.»

Margon nickte nur.

«Echt ärgerlich», sagte Stuart und sah Reuben an. «Deswegen hatten Sie es so schwer, mich zu finden.»

«Stimmt», sagte Reuben. «Aber ich habe dich gefunden. Es muss zahllose Signale gegeben haben, an denen ich mich orientieren konnte. Zum Beispiel habe ich dich weinen gehört.»

Margon bot keine weitere Erklärung an, sondern sagte nur: «Für heute habe ich euch genug von mir erzählt.»

«Aber Sie haben doch gerade erst angefangen», protestierte Stuart. «Los, Reuben, unterstützen Sie mich! Sie wollen doch auch mehr wissen!» Er sah Margon auffordernd an. «Sagen Sie uns wenigstens, wie Sie das Chrisam zum ersten Mal weitergegeben haben!»

«Das lasst ihr euch am besten von dem erzählen, der es empfangen hat», sagte Margon und lächelte geheimnisvoll.

«Wer soll das sein?», fragte Stuart und sah abwechselnd Felix und Thibault an.

Thibault lachte leise, und Felix sagte: «Denk lieber darüber nach, was du bis jetzt gelernt hast!»

«Mach ich», sagte Stuart. «Ganz bestimmt.» Er sah Reuben an und schien zu hoffen, dass der noch einmal nachhaken würde.

Doch im Gegensatz zu Stuart hatte Reuben begriffen, dass dieses hier nur eines von vielen Gesprächen war, die sie miteinander führen würden, Gespräche, die alle kein Ende haben würden und bei denen jede Antwort zu einer neuen Frage führte.

«Ihr wisst jetzt, dass wir so alt sind wie die Menschheit selbst», sagte Felix. «Und dass wir letzten Endes kein größeres Mysterium darstellen als diese. Wir sind Teil der universellen Entwicklung, und wie sie im Einzelnen vor sich geht, muss jeder für sich selbst herausfinden.»

«So ist es», sagte Margon. «Es gibt viele von uns, und es gab Zeiten, als es noch viel, viel mehr gab. Unsterblichkeit bedeutet für uns im Wesentlichen, dass wir nicht altern und nicht krank werden. Es bedeutet nicht, dass wir vor brutaler Gewalt geschützt sind. Insofern sind wir genauso sterblich wie alle anderen.»

«Wie viele von uns gibt es denn noch?», fragte Stuart.

Überraschenderweise ging Margon auf diese Frage ein. «Das weiß niemand», sagte er. «Woher sollte man es auch wissen? Aber eins ist gewiss: Andere Morphenkinder stellen für uns keine Gefahr dar, sondern Wissenschaftler wie Klopow und Jaska. Unsere größte Herausforderung im tagtäglichen Überleben ist das Schritthalten mit dem wissenschaftlichen Fortschritt. In einer Welt, die Familienbeziehungen durch DNA-Analysen bestimmt, sind Kreaturen suspekt, die nicht auf Vater und Mutter zurückgeführt werden können, sondern einem ganz anderen Schöpfungsakt entstammen. Das bedeutet, wir müssen vorsichtiger denn je sein, wenn wir auf die Jagd gehen.»

«Könnt ihr Kinder zeugen?», fragte Laura leise.

«Ja», sagte Margon. «Aber nur mit einem weiblichen Morphenkind.»

Laura erschrak sichtlich, genau wie Reuben. Plötzlich war ihm klar, warum er sich so sicher gewesen war, Laura nicht schwängern zu können. Dann stimmte es also wirklich.

«Ein weibliches Morphenkind kann also ein Kind austragen?», fragte Laura.

«Ja. Der Nachwuchs ist fast immer ein Morphenkind, aber es gibt auch Fehlgeburten. Allerdings gibt es nur wenige fruchtbare Morphenpaare.»

«Fehlgeburten …», flüsterte Laura ganz entsetzt.

«Deswegen bleiben weibliche Morphenkinder oft unter sich», sagte Felix. «Genau wie die männlichen.»

Thibault nickte. «Morphenkinder werden extrem selten geboren. Ich kenne nur fünf.»

«Und wie sind sie so?», fragte Stuart.

«Zuerst sind es ganz normale Menschenkinder», sagte Margon. «Erst mit Beginn der Pubertät entwickeln sie die Fähigkeit zur Verwandlung. Sobald sie ausgewachsen sind, werden sie nicht älter. Das Gleiche passiert mit Kindern, denen man das Chrisam überträgt.»

«Dann wachse ich also noch ein paar Jahre weiter», sagte Stuart.

«Ganz bestimmt», sagte Margon und verdrehte die Augen.

Felix und Thibault lachten.

«Es wäre sehr rücksichtsvoll von dir, nicht mehr allzu sehr zu wachsen», sagte Felix. «Ich finde es sehr irritierend, zu deinen blauen Kinderaugen aufschauen zu müssen.»

Stuart lachte vergnügt.

«Du entwickelst dich ganz normal weiter, bis du ausgewachsen bist», sagte Margon. «Dann bleibst du für immer, wie du bist.»

Laura seufzte und sagte: «Etwas Schöneres kann man sich eigentlich nicht wünschen.»

«Das stimmt», sagte Reuben, noch ganz mit dem Gedanken beschäftigt, dass er keine normalen Kinder zeugen konnte.

«Und was die anderen angeht …», sagte Felix zu Margon. «Früher oder später sollten wir den jungen Leuten sagen, was wir über sie wissen, meinst du nicht?»

«Was denn?», fragte Margon zurück. «Dass sie oft unfreundliche Einzelgänger sind? Oder auch in kleinen Gruppen auftreten, wie Wolfsrudel? Dass sie sich anderen Morphenkindern höchst selten zeigen? Was gäbe es sonst über sie zu sagen?»

«Eine Menge», sagte Felix. «Und du weißt es.»

Es gibt so viel, was sie nicht sagen oder zugeben wollen, dachte Reuben. Er fragte sich, wie viel sie wohl zurückhielten, wagte aber nicht, danach zu fragen.

«Wie funktioniert eigentlich dieses Chrisam?», fragte Stuart in die Stille hinein.

«Ganz unterschiedlich», sagte Felix. «Je nachdem, wie es aufgenommen wird und sich entfaltet. Auch die Ergebnisse sind verschieden. So gibt es starke und schwache Morphenkinder. Wir wissen aber nicht, wovon die Entwicklung abhängt. Das Gleiche gilt für geborene Morphenkinder. Manche von ihnen wollen am liebsten gar keine sein. Voraussehbar ist die Entwicklung nur bei denen, die um das Chrisam ausdrücklich bitten.»

Margon legte demonstrativ die Hände auf den Tisch, als wollte er das Gespräch jetzt endgültig beenden.

«Fürs Erste müsst ihr hier bei uns bleiben», sagte er. «Beide jungen Wölfe und natürlich auch Laura. Bald werdet ihr auch die anderen kennenlernen, die zu unserer Gemeinschaft gehören. Ihr müsst lernen, die Verwandlung zu beherrschen und die Stimmen zu ignorieren. Vor allem aber müsst ihr euch von der Öffentlichkeit fernhalten, bis sich die allgemeine Aufregung über den Wolfsmenschen von Kalifornien gelegt hat.»

Stuart nickte. «Mach ich gern», sagte er. «Ich tu alles, was ihr sagt, und will noch so viel wissen!»

«Es wird nicht so leicht sein, wie ihr jetzt meint», sagte Margon. «Ihr wisst ja, wie ihr auf die Stimmen reagiert. Es wird euch unruhig machen, wenn ihr sie nicht mehr hört. Es wird euch drängen, sie aufzuspüren.»

«Aber wir sind ja bei euch», sagte Felix ermutigend. «Wir sind schon sehr lange zusammen, aber erst im Zeitalter der Moderne haben wir uns die Namen gegeben, die wir heute tragen. Einige von euch haben ja schon erraten, dass wir sie aus der Werwolfliteratur entlehnt haben. Damit wollten wir uns untereinander zu erkennen geben, aber auch denen, die nicht direkt zu unserem Zirkel gehören. Namen sind nämlich ein Problem für Menschen, die nicht sterben. Auch für andere offene Fragen werden wir mit der Zeit Lösungen finden und euch dabei helfen, denn hiermit seid ihr in unserem Kreis aufgenommen.»

Stuart, Reuben und Laura nickten tief bewegt. Stuart begann sogar wieder zu weinen und konnte kaum sitzen bleiben. Schließlich wurde sein Bewegungsdrang so groß, dass er aufstand und hinter seinem Stuhl auf und ab ging.

«Es ist Ihr Haus und Ihr Grundstück, Felix», sagte Reuben.

«Unser Haus und unser Grundstück», korrigierte Felix und sah Reuben lächelnd an.

Margon erhob sich und sagte: «Euer Leben, ihr jungen Wölfe, hat gerade erst begonnen.»

Das Zusammensein war beendet, und alle gingen aus dem Zimmer.

Eine Frage brannte Reuben aber noch auf der Seele. Er folgte Felix, dem er sich am verbundensten fühlte, in die Bibliothek, wo er neue Holzscheite ins Kaminfeuer legte.

«Was gibt es denn, junger Wolf?», fragte er. «Sie wirken bedrückt. Dabei war es doch ein sehr ergiebiges Gespräch.»

«Laura», sagte Reuben leise. «Was ist mit Laura? Werden Sie ihr das Chrisam weitergeben? Muss ich darum bitten oder Margon fragen oder …»

«Sie ist unserer würdig», sagte Felix. «Darüber waren wir uns alle schnell einig. Sobald sie bereit ist, braucht sie es bloß zu sagen, aber sie muss es selbst tun.»

Reubens Herz klopfte schneller, als er fragte: «Wer wird es dann tun?»

«Margon oder ich.»

Es war die Antwort, die Reuben erhofft hatte, und doch war ihm nicht ganz wohl. Im Grunde war ihm klar, dass Laura die Entscheidung selbst treffen musste und dass sie sich genug Zeit dafür nehmen sollte. Aber er war ungeduldig und konnte es gar nicht abwarten.

Felix konnte Reuben ansehen, wie unzufrieden er war. «Kopf hoch, junger Wolf!», sagte er. «Ihr seid wunderbare Wesen. Ich beneide euch um euer modernes Leben, und ich weiß gar nicht, ob ich mutig genug wäre, daran teilzuhaben, wenn ich euch nicht hätte.»