23

Am späten Nachmittag kam Jim zu Besuch.

Reuben war mit Laura im Wald spazieren gegangen, und dabei hatten sie nach einem Fahrzeug oder sonstigen Hinweisen auf Marrok gesucht, aber nichts gefunden. Also wussten sie immer noch nicht, wie er zum Haus gekommen war.

Jim hatte es geschafft, den Abend freizubekommen, was in St. Francis höchst selten vorkam. Er hatte sich darum bemüht, als er hörte, dass Grace, Phil und Celeste bei Reuben nach dem Rechten sehen wollten, weil er nicht ans Telefon ging und keine E-Mails beantwortete. Mit dem Versprechen, sich selbst darum zu kümmern, hatte er die anderen davon abgehalten. Viel Zeit hatte er allerdings nicht. Es reichte gerade für ein zeitiges Abendessen, danach musste er sich wieder auf den Heimweg machen. Um Zeit zu sparen, hatte er sein Priestergewand anbehalten.

Reuben war so froh, ihn zu sehen, dass er ihn umarmte, als hätte er ihn ewig nicht gesehen. Die Trennung von seiner Familie wurde ihm schmerzhaft bewusst, und es war ein beklemmendes Gefühl.

Nach einer flüchtigen Führung durchs Haus nahmen sie Kaffee mit ins Frühstückszimmer des Ostflügels, das direkt an die Küche anschloss, und setzten sich zum Gespräch zusammen.

Laura akzeptierte, dass es um eine «Beichte» ging, wie Reuben gesagt hatte, und war mit ihrem Laptop nach oben gegangen, um E-Mails zu beantworten. Sie hatte das Zimmer, das im Westflügel gleich hinter dem großen Schlafzimmer lag, zu ihrem Arbeitszimmer erklärt, und bei nächster Gelegenheit wollten sie es entsprechend einrichten. Nur ihre Bücher und Unterlagen befanden sich jetzt dort. Die unfertige Ausstattung wurde von dem Ausblick mehr als wettgemacht, der sowohl über das Meer als auch über einen Teil der Klippen ging.

Jim machte sich bereit, Reuben die Beichte abzunehmen, und holte seine violette Stola aus seiner Tasche, um sie sich über die Schultern zu legen.

«Ist es ein Sakrileg, dir das abzuverlangen?», fragte Reuben.

Jim antwortete nicht sofort. Dann sagte er: «Ich gehe davon aus, dass du mit den besten Absichten vor Gott trittst.»

Reuben nickte und sagte: «Segne mich, Vater, denn ich habe gesündigt und tue mich schwer mit der nötigen Reue.» Während er sprach, sah er zum östlichen Fenster hinaus, in den ebenso üppigen wie luftigen Hain der Lebenseichen, die sich bis zu den Redwoodbäumen erstreckten. Es waren mächtige, knorrige Bäume. Der weiche Boden, auf dem sie standen, war über und über mit grünen, gelben und braunen Blättern bedeckt. An vielen Stämmen kletterte Efeu bis in die verzweigten Äste empor.

Schon vor Sonnenuntergang hatte der Regen aufgehört. Da es noch nicht richtig dunkel war, lugte zwischen den Baumwipfeln blauer Himmel hervor. Die tief im Westen stehende Sonne tauchte den Wald in warmes Licht. Einen Moment lang zog der Anblick Reuben so sehr in seinen Bann, dass er ganz gedankenverloren dasaß.

Dann wandte er sich seinem Bruder zu, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, legte das Gesicht zwischen die Hände und erzählte Jim alles, absolut alles, was geschehen war. Er sprach von den merkwürdigen Zusammenhängen, in denen die Namen Nideck und Sperver aufgetaucht waren, und schilderte sein eigenes Handeln in schonungsloser Offenheit.

«Ich kann leider nicht sagen, dass ich diese Fähigkeit wieder verlieren möchte», gestand er. «Du kannst dir nicht vorstellen, wie großartig es ist, in Wolfsgestalt auf allen vieren durch den Wald zu laufen, Kilometer um Kilometer, ohne zu ermüden, und sich dann in die Baumwipfel zu erheben, dreißig, vierzig Meter hoch. Jedes Bedürfnis, das diese Kreatur verspürt, kann sie mühelos befriedigen.»

Jim hatte feuchte Augen und sah unendlich traurig und besorgt aus. Doch er nickte nur, und wenn Reuben eine Pause machte, wartete er geduldig, bis er weitersprach.

«Alles andere verblasst gegen dieses Erlebnis», sagte Reuben. «Natürlich vermisse ich dich, Mom und Phil ganz fürchterlich, aber auch dieses Gefühl verblasst gegen das andere.»

Er berichtete, wie er die Berglöwin mit Wollust verschlungen hatte, und schilderte die Gefühle, mit denen er oben im Blätterdach des Waldes gehockt und die Jungen der Berglöwin unter ihm beobachtet und gewünscht hatte, er könnte Laura zu diesem zauberhaften Ort führen. Doch wie sollte er Jim begreiflich machen, wie sehr diese neue Existenzform ihn faszinierte? Wie konnte er Jim die offensichtliche Verzweiflung nehmen? Konnte er denn nicht verstehen, wie wunderbar das alles war?

«Du kannst mich nicht verstehen, nicht wahr?», sagte er.

«Es ist nicht wichtig, ob ich es verstehe», sagte Jim. «Lass uns lieber noch einmal auf diesen Marrok zurückkommen. Was genau hat er dir erklärt?»

«Aber Jim, du kannst mir nicht verzeihen, wenn du es nicht verstehst», protestierte Reuben.

«Nicht ich muss dir verzeihen.»

Reuben sah wieder aus dem Fenster, auf die Schottereinfahrt und den Eichenwald, der so nah war, so lebendig mit seinem Spiel von Licht und Schatten.

«Lass mich zusammenfassen, was du erfahren hast», sagte Jim. «Es gibt noch mehr von diesen Kreaturen, und dieser Felix Nideck ist vermutlich einer von ihnen. Auch dieser Margon Sperver wäre dann ein sogenanntes Morphenkind. Diese Kreaturen benutzen rätselhafte Begriffe wie ‹Chrisam› und ‹Morphenkind›, was auf eine gewisse Tradition hindeutet, so als gäbe es sie schon sehr lange. Das hat dieser Marrok ja auch selber angedeutet. Es heißt, dass dieses Chrisam, das dich verwandelt hat, einen krank machen und sogar töten kann. Aber du hast es überlebt. Du weißt, dass sich deine Zellen verändert haben und dass sie vergehen, sobald sie von der Energiequelle getrennt werden, die sie speist. Wenn diese Energiequelle ausgelöscht wird, löst sich der ganze Körper auf. Aus diesem Grund können dir die Behörden nicht auf die Spur kommen.»

«Genau. Mehr weiß ich nicht.»

«Doch. Dieser Marrok hat dir vorgeworfen, du hättest durch dein unbesonnenes, brutales Vorgehen öffentliches Aufsehen erregt und damit die ganze Spezies gefährdet. Das stimmt doch, oder?»

«Ja, du hast recht. Das hat er gesagt.»

«Deswegen fürchtest du, dass die anderen kommen, um dich zu stoppen, dich vielleicht sogar töten wollen, dich und Laura. Du hast einen der Ihren getötet. Das reicht schon, um dich zu töten, ganz abgesehen von allem anderen, was sie an dir auszusetzen haben.»

«Ich weiß, was du sagen willst», sagte Reuben. «Aber niemand kann uns helfen, Jim. Niemand. Sag also nicht, ich soll mich an diese oder jene Behörde wenden. Oder diesen oder jenen Arzt aufsuchen. Das würde Laura und mir jegliche Freiheit nehmen, ein für alle Mal. Es wäre das Ende unseres Lebens.»

«Was ist denn die Alternative? Hierbleiben und gegen deine neue Wesensart ankämpfen? Die Stimmen ignorieren, die dich an den nächsten Tatort führen? Den Impuls, in den Wald zu gehen und zu töten, mit eisernem Willen bezwingen? Und wie lange wird es dauern, bis du der Versuchung nicht mehr widerstehen kannst, Laura zu verwandeln? Was, wenn das Chrisam oder Serum oder was immer es ist, sie umbringt? Du weißt, dass Marrok von dieser Möglichkeit gesprochen hat.»

«Darüber habe ich auch schon nachgedacht», sagte Reuben.

Das hatte er tatsächlich. Er hatte es immer für ein dummes Horrorfilm-Klischee gehalten, dass «das Monster» sich eine Gefährtin wünschte oder jahrelang einer verlorenen Liebe nachjagte. Jetzt konnte er es jedoch nur zu gut verstehen, denn nun wusste er, was es bedeutete, «anders» zu sein, isoliert und bedroht. «Ich werde Laura kein Leid zufügen», sagte er. «Laura hat um dieses Geschenk nicht gebeten.»

«Dieses Geschenk? Du bezeichnest es als Geschenk? Ich habe eine Menge Phantasie, Reuben, und ich kann mir sehr gut vorstellen, wie deine neue Freiheit und Stärke …»

«Nein, kannst du nicht. Im Gegenteil. Du lehnst das alles ab.»

«Okay. Ich kann es mir nicht vorstellen. Was daran so erstrebenswert sein soll, übersteigt meine wildesten Phantasien.»

«Das ist das Stichwort: deine wildesten Phantasien. Hast du dir je gewünscht, jemandem zu schaden, der dich schwer gekränkt hat? Wolltest du jemals, dass jemand leiden muss, weil er dir etwas angetan hat? Ich wollte es. Ich wollte, dass die Kidnapper und die anderen Verbrecher leiden.»

«Du hast sie getötet, Reuben. Dass sie vorher schwer gesündigt haben, spielt keine Rolle. Du hast ihr irdisches Schicksal besiegelt, ihnen die Möglichkeit genommen, ihre Sünden zu bereuen, ihr Unrecht wiedergutzumachen. Aber du hast noch mehr getan. Du hast diesen Leuten Jahre genommen, in denen sie Gutes hätten tun können. Und das hast du nicht nur ihnen, sondern auch ihren Nachkommen und sogar ihren Opfern angetan, denn sie hätten Wiedergutmachung verdient.»

Reuben schloss die Augen und legte die Stirn in die Hände. Er versuchte sich zu beherrschen, aber er war wütend. Er sollte den Opfern etwas genommen haben? Diese Menschen waren abgeschlachtet worden! Nicht im Traum hätten die Täter an Wiedergutmachung gedacht! Stattdessen hätten sie noch mehr Menschen getötet, hätte er nicht interveniert. Die entführten Kinder hatten sich in akuter Lebensgefahr befunden. Aber darum ging es gar nicht. Er hatte getötet. Das konnte er weder leugnen noch bereuen.

«Ich will dir doch helfen», sagte Jim eindringlich. «Mir geht es nicht darum, dich zu verurteilen oder zurückzuweisen.»

«Ich weiß», sagte Reuben. «Das würdest du nie tun.» Ich bin derjenige, der sich von dir entfernt.

«Du kannst mit dieser Sache nicht mutterseelenallein weitermachen. Diese Laura … außer dass sie sehr schön ist, liebt sie dich, das ist offensichtlich. Sie ist kein Kind mehr, und sie ist nicht dumm. Aber sie weiß von dieser ganzen Sache nicht mehr als du.»

«Immerhin sind wir auf dem gleichen Wissensstand. Und sie weiß, dass ich sie liebe. Hätte sie Marrok nicht mit der Axt erschlagen, wäre ich womöglich nicht als Sieger aus dem Kampf hervorgegangen.»

Jim wusste nicht, was er sagen sollte.

«Was willst du mir also sagen?», fragte Reuben. «Was soll ich deiner Meinung nach tun?»

«Ich weiß es nicht. Lass mich nachdenken. Wir müssen jemanden finden, der absolut vertrauenswürdig ist. Er müsste sich dieser Sache annehmen, alles genauestens analysieren … Vielleicht könnte er sogar einen Weg finden, alles rückgängig zu …»

«Alles rückgängig machen? Jim, dieser Marrok hat sich aufgelöst! Asche zu Asche. Er ist verschwunden. Glaubst du wirklich, dass etwas so Drastisches rückgängig gemacht werden kann?»

«Du weißt nicht, wie lange diese Kreatur schon ihre besonderen Fähigkeiten hatte.»

«Ich muss dir noch etwas sagen, Jim. Hätte Marrok ein paar Sekunden länger gelebt, hätte er sich die Axt aus dem Kopf ziehen können, und sein Schädel und sogar sein Gehirn wären wahrscheinlich geheilt. Dazu kam es aber nicht, weil ich ihn geköpft habe. Das scheint das einzig Wirksame zu sein. Erinnerst du dich an meine Schusswunde, die in null Komma nichts geheilt war?»

«Ja, daran erinnere ich mich. Allerdings habe ich nicht geglaubt, dass jemand auf dich geschossen hat, das muss ich ehrlich zugeben.» Er schüttelte den Kopf. «Aber inzwischen hat Celeste mir erzählt, dass die Kugel in dem Haus in Buena Vista gefunden wurde, und die ballistische Untersuchung hat ergeben, dass sie nicht direkt in die Wand geschossen wurde, sondern vorher jemanden getroffen hatte. Andererseits fand sich kein Gewebe an dem Projektil, nicht das geringste bisschen.»

«Und was bedeutet das deiner Meinung nach in Bezug auf mich?»

«Oh, bitte! Keine Unsterblichkeitsphantasien, Kleiner!» Jim kniff Reuben in den Arm. «Verschone mich!»

«Aber was, wenn wir extrem langlebig sind? Dieser Marrok hat mir den Eindruck vermittelt, dass er schon unvorstellbar lange gelebt hat.»

«Woraus schließt du das?»

«Er sagte etwas davon, dass er sich an die Zeit erinnerte, als alles noch neu für ihn war und er gar nicht glauben konnte, was mit ihm passiert war. Er sagte, es sei das Einzige, woran er sich aus dieser Zeit erinnern könne. Ich gebe zu, dass es reine Interpretation ist, nur ein Bauchgefühl, aber …»

«Es könnte aber auch ganz anders sein», sagte Jim. «Tatsache ist: Du weißt es nicht. Was die ballistische Untersuchung betrifft, gebe ich dir allerdings recht. Es gibt keine andere Erklärung dafür, dass sie an dem Geschoss keine Spuren finden konnten, wie Celeste sagt. Und auch Mom sagt, dass die medizinischen Labors keine Erklärung dafür haben, dass sich die Testsubstanzen einfach auflösen.»

«Ich wusste es», sagte Reuben. «Mom ist dahintergekommen, dass mit mir etwas nicht stimmt.»

«Gesagt hat sie das aber nicht. Allerdings glaube ich auch, dass sie etwas weiß. Und dass sie Angst hat. Sie kann an nichts anderes mehr denken. Dieser russische Arzt soll morgen hier ankommen. Er bringt Mom zu dieser kleinen Klinik in Sausalito, um …»

«Wo aber auch keine anderen Ergebnisse erzielt werden können», unterbrach Reuben seinen Bruder.

«Ich weiß. Aber mir gefällt das alles nicht. Du solltest Mom aufklären. Was jedoch diesen Arzt aus Paris betrifft, bin ich skeptisch. Was will der Mann? Dad ist auch misstrauisch. Er hat Mom vor ihm gewarnt und sich mit ihr gestritten, weil er findet, dass sie nichts unternehmen soll, was du nicht willst.»

«Wieso hat er sie gewarnt?»

«Offenbar können weder Mom noch Dad diese Klinik im Internet finden, und kein anderer Arzt scheint je von ihr gehört zu haben.»

«Und was hält Mom davon?»

«Keine Ahnung, aber ich glaube nicht, dass du die Sache für sie noch schlimmer machst, wenn du ihr die ganze Wahrheit erzählst. Das solltest du allerdings unter vier Augen tun, ohne diesen Pariser Arzt, wer immer der Kerl sein mag. Du musst verhindern, dass du jemandem in die Hände fällst, der sein eigenes Süppchen kocht und aus welchem Interesse auch immer Informationen über dich sammeln will.»

«Jemandem in die Hände fallen …», wiederholte Reuben nachdenklich.

Jim nickte. «Die Sache gefällt mir nicht. Und Mom sicher auch nicht. Aber sie ist so verzweifelt, dass sie sich auf alles einlässt, was ihr Klarheit bringen könnte.»

«Nein, Jim, ich kann es ihr nicht sagen. Es spielt keine Rolle, welches Labor an mir herumdoktert. Moms Angst, der eigene Sohn könnte zu einem Monster mutiert sein, ist eine Sache, aber die ganze Wahrheit aus seinem eigenen Mund zu hören, wäre einfach zu viel. Das wird nicht passieren. Das ist keine Option für mich. Im Nachhinein bereue ich sogar, dir alles erzählt zu haben.»

«Sag das nicht, Kleiner!»

«Hör zu, Jim! Ich fürchte das Gleiche wie du, nämlich dass diese Sache mich komplett verändert. Dass ich alle Zurückhaltung und jegliches Maß verliere und meinen animalischen Trieben bedenkenlos nachgebe, dass ich …»

«Mein Gott, Reuben!», stieß Jim erschrocken aus.

«Aber ich verspreche dir, dass ich eine solche Entwicklung nicht kampflos mitmachen werde. Ich bin nicht schlecht, Jim! Auch nicht als Wolfsmensch. Ich weiß es. Ich fühle es. Meine Seele ist das, was mich ausmacht, egal in welcher Gestalt. Ich bin kein gewissenloses Monster ohne Mitgefühl und Moral.»

Reuben legte die Hand an die Brust.

«Hier drinnen spüre ich es, Jim! Und ich sage dir noch was. Es geht nicht mehr weiter. Ich habe mein endgültiges Entwicklungsstadium erreicht. Noch habe ich mich nicht daran gewöhnt, aber ich setze mich damit auseinander und lerne jedes Mal, wenn ich mich verwandle, etwas Neues. Ich werde kein schlechterer Mensch.»

«Aber, Reuben, du hast doch selbst gesagt, dass für dich alles verblasst, was früher war, dass deine neuen Gefühle und Impulse ungleich stärker sind. Willst du jetzt plötzlich das Gegenteil behaupten?»

«Meine Seele vergeht nicht, Jim. Ich schwöre es. Sieh mich an und sag, dass du deinen Bruder nicht mehr wiedererkennst!»

«Du bist mein Bruder, Reuben. Aber die Männer, die du getötet hast, waren auch meine Brüder. Und deine. Was kann ich nur sagen, um dir klarzumachen, worum es geht? Die Frau, die du getötet hast, war deine Schwester! Wir sind doch keine wilden Tiere, Reuben! Wir sind Menschen, gleichwertige Geschöpfe. Wir alle! Du musst nicht mal an Gott glauben, um das zu begreifen.»

«Okay, beruhige dich, Jim.» Reuben griff nach der Kaffeekanne und schenkte Jims Becher noch einmal voll.

Jim lehnte sich zurück und versuchte sich zu beruhigen, aber er hatte Tränen in den Augen.

Reuben hatte ihn noch nie weinen sehen. Jim war fast zehn Jahre älter als er. Er war bereits ein großer, kluger und selbstbeherrschter Junge gewesen, als Reuben dem Krabbelalter entwuchs. Wie Jim als kleines Kind gewesen war, wusste er also gar nicht.

Jetzt sah Jim zum Wald hinaus. Die Nachmittagssonne senkte sich langsam, und das Haus warf einen langen Schatten, der bis zu den Bäumen reichte. Aber in der Ferne, wo ein bewaldeter Hügel zum südlichen Ende des Redwoodwalds anstieg, war sie noch in ihrer ganzen Pracht am Himmel zu sehen.

Nach einer Weile murmelte er so leise, als spräche er mit sich selbst: «Wenn du nicht weißt, was die Verwandlung auslöst, und nicht steuern kannst, ob und wann es passiert … Bedeutet das, du verwandelst dich jede Nacht in dieses Ding, für den Rest deines Lebens?»

«Ganz bestimmt nicht», erwiderte Reuben. «Diese Spezies, diese Morphenkinder, könnten nicht überleben, wenn sie sich jede Nacht verwandelten. Das kostet viel zu viel Kraft. Langsam lerne ich, diese Wesen zu begreifen. Und ich bin dabei, Kontrolle über den Verwandlungsprozess zu gewinnen. Mit der Zeit werde ich lernen, Anfang und Ende der Verwandlung nach meinem Willen zu steuern. Dieser Wächter, Marrok, er konnte sich verwandeln, wann er wollte, einfach so. Genau das werde ich auch lernen.»

Jim seufzte und schüttelte den Kopf.

Sie schwiegen eine Weile, und Jim blickte weiter auf den Wald. Ein früher Winterabend senkte sich über Land und Meer. Reuben fragte sich, was Jim wohl hören, welche Gerüche er wahrnehmen konnte. Der Wald lebte, atmete, flüsterte, und über allem lag der Geruch von lebenden und toten Organismen. War es eine Art Gebet, eine Andacht? War es eine spirituelle Erfahrung? War es vielleicht sogar pure Spiritualität? Reuben wünschte, er könnte mit Jim darüber reden, aber das war unmöglich. Er konnte nicht erwarten, dass Jim sich jetzt auf eine philosophische Debatte einließ. Sein Blick wanderte über den Eichenwald zu den Redwoodbäumen, die jetzt gespenstische Schatten warfen. Die Abenddämmerung tauchte alles in unzählige Blautöne, und Reuben hatte mehr und mehr das Gefühl, mit dieser Welt da draußen zu verschmelzen. Er war sich kaum noch bewusst, wo er war und was er gerade getan hatte.

Plötzlich brachte Jims Stimme ihn ins Hier und Jetzt zurück.

«Das hier ist wirklich ein ganz außerordentlicher Ort», sagte er. «Aber du bezahlst einen hohen Preis dafür.»

«Ich weiß.» Reuben presste die Lippen zusammen und lächelte bitter. Dann legte er die Hände aneinander und begann, ein Reuegebet zu sprechen: «Gott im Himmel, ich bereue von Herzen … von ganzem Herzen, ich schwöre es. Ja, ich bereue von ganzem Herzen. Herr, zeige mir den Weg. Zeige mir, wer oder was ich bin. Gib mir die Kraft, jeglicher Versuchung zu widerstehen. Lass mich anderen kein Leid zufügen, sondern stets aus Liebe handeln. In deinem Namen.»

Er meinte es ernst, aber das rechte Gefühl wollte sich nicht einstellen. Ihm war bewusst, was für ein winziger Planet die Erde war, nur ein Punkt im ewigen Kreiseln der Milchstraße, die ihrerseits nur eine winzige Galaxie in einem endlosen Universum war. Das alles war viel zu gewaltig, um von Menschen erfasst zu werden. Sein Gefühl sagte ihm, dass er nicht mit Gott, sondern bloß mit Jim sprach. Und für Jim. Aber hatte er in der letzten Nacht nicht mit Gott gesprochen? Sprach er nicht auf seine ganz eigene Art mit Gott, wenn er den Wald betrachtete und von dem Gefühl durchdrungen war, dass alles, was darin lebte, eine Huldigung Gottes war, ein Gebet?

Die Brüder schwiegen, vereint in ihrer Traurigkeit.

Schließlich sagte Reuben: «Meinst du, Teilhard de Chardin könnte recht haben, wenn er schreibt, wir fürchten, dass Gott nicht existiert, weil wir die immense Weite des Universums nicht begreifen? Dass wir um unsere individuelle Einzigartigkeit fürchten, wenn es keine übergeordnete Macht gibt, die alles zusammenhält? Eine übergeordnete moralische Instanz, die uns anstelle unseres freien Willens Moral abfordert und uns …»

Er sprach nicht weiter. Die Erörterung abstrakter theologischer oder philosophischer Fragen war nie seine Stärke gewesen. Stattdessen lechzte er nach Theorien, die er verstehen und sich bei Bedarf ins Gedächtnis rufen konnte, um allen Dingen in einer scheinbar hoffnungslos überdimensionierten Welt einen Platz und einen Sinn zu geben – auch sich selbst.

Jim schüttelte den Kopf und sagte ernst: «Reuben, wenn du auch nur einem einzigen fühlenden Wesen das Leben nimmst, egal ob schuldig oder unschuldig, handelst du gegen den Willen des Erlösers – wer oder was immer das sein mag. Du greifst in das Wunder der Schöpfung ein und konterkarierst sein Wirken.»

«Stimmt», sagte Reuben mit Blick auf den Eichenwald, der von der zunehmenden Dunkelheit allmählich verschluckt wurde. «Für dich stimmt es. Das ist dein Glaube, Jim. Aber wenn ich mich in ein Morphenkind verwandle, fühlt es sich für mich anders an. Ganz anders.»