27

Simon Olivers E-Mail war kurz. «Schlechte Neuigkeiten, die vielleicht doch nicht so schlecht sind. Rufen Sie mich bitte an!»

Er hatte sie am Vorabend bekommen.

Reuben rief Oliver unter seiner Privatnummer an und hinterließ die Nachricht, er sei wieder zu Hause, sein Computer und Telefon seien eingeschaltet, Oliver solle sich melden.

Laura und er aßen an dem neuen Marmortisch im Wintergarten zu Abend. Sie saßen in einer Ecke mit Bananen- und Ficusbäumchen. Der Anblick der Orchideenbäume mit ihren hängenden rosa und lila Blüten machte Reuben geradezu glücklich.

Erst heute hatte Galton einige Farne und weiße Bougainvilleen gebracht, und trotz der blassen Nachmittagssonne war der Raum überraschend wohltemperiert. Laura wusste alles über die Pflanzen und schlug ein paar Ergänzungen vor, die Reuben gefallen würden. Wenn er wolle, könne sie welche bestellen. Auch größere Bäume, für die sie sich schon einen schönen Platz ausgedacht habe. Sehr gern, sagte er. Je grüner, desto besser. Am besten solle sie einfach Pflanzen besorgen, die sie besonders gernhatte, bestimmt würden sie ihm ebenso gefallen.

Zu essen gab es einen Eintopf aus den Resten vom gestrigen Lammbraten, den Reuben zubereitet hatte, und heute schmeckte es ihm noch besser.

«Müde?», fragte Laura.

«Nein. Ich kann’s gar nicht abwarten, oben im Haus so lange alles abzusuchen, bis wir den Eingang zur Geheimkammer gefunden haben.»

«Vielleicht gibt es gar keinen anderen als die Einstiegsluke im Glasdach.»

«Das glaube ich nicht. Es muss mehrere geben. Wenn man schon so einen kostbaren Ort hat, will man doch verschiedene Zugänge haben. Wahrscheinlich befinden sich in den Holzverkleidungen der Wandschränke Geheimtüren oder in den Badezimmern oder den Dachkammern darüber.»

«Vermutlich hast du recht.»

Sie sahen einander an.

«Bevor wir uns Gewissheit verschafft haben, können wir uns nicht mal sicher sein, ob wir die Einzigen im Haus sind», sagte Laura.

«Das stimmt, und es macht mich unglaublich wütend.» Das Schlimmste für Reuben war der Gedanke, Laura könnte in Gefahr sein. Aber er wollte ihr keine Angst machen. Statt sie zu warnen, wollte er lieber in ihrer Nähe bleiben.

Aus dem Schuppen nahmen sie eine Axt, einen Hammer und eine Taschenlampe mit.

Doch sie fanden nichts. Sie tasteten und klopften alle inneren Wände im Obergeschoss und auf den Dachböden ab.

Auch im Keller sahen sie nach. Nichts.

Irgendwann wurde Reuben müde. Es war schon nach sieben, und er betete aus ganzem Herzen, dass er sich nicht verwandeln würde, dass er diese Nacht in Ruhe und Frieden verbringen könnte. Dennoch war die Versuchung groß. Außerdem hatte er schon in der Nacht zuvor auf eine Fressorgie verzichten müssen. Sein Verlangen danach war kein Hunger im üblichen Sinn und kam nicht aus dem Magen, sondern hatte viel tiefere Ursachen.

Aber da war noch mehr.

Gleich nachdem Laura und er sich am Morgen geliebt hatten, hatte er sich rückverwandelt, weil er es so wollte. Es war viel schneller gegangen als zuvor, und seine Muskeln hatten den Prozess aktiv unterstützt, statt sich dagegen zu wehren. Immer und immer wieder hatte er schlucken müssen, als gälte es, die gesteigerten Kräfte des Wolfsmenschen in sich aufzunehmen und auch dann zu bewahren, wenn er wieder Menschengestalt annahm.

Jetzt aber konzentrierte er sich auf das Haus und die Suche nach verborgenen Räumen.

Als der Regen nachließ, zogen Laura und er dicke Pullover an und machten einen Spaziergang ums Haus. Als Erstes stellten sie fest, dass sie die Schalter der Flutlichtanlage nicht finden konnten. Reuben nahm sich vor, Galton danach zu fragen. Er erinnerte sich daran, dass die Scheinwerfer eingeschaltet waren, als er Galton zum ersten Mal gesehen hatte.

Aus den Fenstern drang aber genug Licht, um sich zurechtzufinden, selbst noch im Eichenwald an der Ostseite des Hauses. Es waren wunderbare Bäume, und sie waren so gewachsen, dass man sie leicht erklimmen konnte. Reuben machte Laura darauf aufmerksam, dass die unteren Äste zu einer Kletterpartie geradezu einluden. Wenn das nächste Mal die Sonne schien, wollte er hinaufsteigen. Auch Laura hatte Lust dazu.

Sie schätzten die Höhe des Hauses auf knapp zwanzig Meter. An seiner nordwestlichen Ecke standen Douglastannen, die fast so hoch waren wie die nahen Redwoodbäume. Die Eichen begrenzten den Schotterweg entlang der gesamten Ostseite. Efeu bedeckte große Teile der Hauswände, aber rund um die Fenster war er sorgfältig gestutzt. Im Gegensatz zu Reuben kannte Laura die Namen aller Bäume, und sie zeigte ihm die Westamerikanische Hemlocktanne und die Steinfruchteiche, die gar keine Eiche war.

Reuben fragte sich, wie er in menschlicher Gestalt und ohne Hilfsmittel das Dach erklimmen sollte. Für eine Dachdeckerfirma wäre es ein Leichtes, Leitern an der Stirnseite des Hauses aufzustellen, aber das war genau die Art Aufsehen, die er vermeiden wollte. Als Wolfsmensch könnte er natürlich ohne weiteres die Wand hochklettern, doch dann müsste er Laura allein lassen, und das wollte er nicht.

Noch nie hatte er mit dem Gedanken gespielt, sich eine Waffe zuzulegen, aber jetzt tat er es. Er wusste, dass Laura schießen konnte, obwohl sie Waffen hasste und auch ihr Vater keine besessen hatte. Ihr Mann hatte sie einmal mit einer Waffe bedroht, aber darüber wollte sie nicht sprechen. Sie sagte, die Axt sei ihr Schutz genug, wenn Reuben aufs Dach stiege. Außerdem glaubte sie, dass er sie hören würde, sollte sie um Hilfe rufen, so wie es früher schon der Fall gewesen war.

Als sie ins Haus zurückkehrten, klingelte das Telefon.

Reuben nahm das Gespräch in der Bibliothek an.

Es war Simon Oliver.

«Regen Sie sich bitte nicht auf, Reuben! Lassen Sie mich erst zu Ende reden», sagte er. «Ich gebe allerdings zu, dass ich so etwas noch nie erlebt habe. Aber das muss nicht heißen, dass die Dinge schlechtstehen. Wenn wir gut überlegen, wie wir uns dazu verhalten, kann es sogar ausgesprochen günstig sein.»

«Wovon, zum Teufel, reden Sie, Simon?», fragte Reuben. Er saß am Schreibtisch und platzte beinahe vor Neugier, während Laura im Kamin Feuer machte.

«Sie wissen ja, dass ich Baker und Hammermill sehr schätze, vor allem Arthur Hammermill», fuhr Simon fort. «Ich vertraue ihm, wie ich meinen eigenen Leuten vertrauen würde.»

Reuben verdrehte die Augen.

«Die Sache ist die, Reuben … Ein möglicher Erbe ist aufgetaucht. Nein, lassen Sie mich ausreden! Anscheinend hatte Felix Nideck – das ist der Mann, der verschwunden ist –»

«Das weiß ich doch.»

«Okay. Also dieser Felix Nideck hatte anscheinend einen unehelichen Sohn, der auch Felix Nideck heißt, genau wie der Vater, und der ist nun hier in San Francisco aufgetaucht und … Nein, Reuben, hören Sie mir zu!»

Reuben war wie vor den Kopf gestoßen. «Ich habe doch gar nichts gesagt, Simon!»

«Tja, vielleicht mache ich mir mehr Sorgen als Sie, und das ist ja auch mein Job. Jedenfalls sagt dieser Mann, dass er keinerlei Ansprüche auf Haus und Grundstück erhebt. Verstehen Sie? Gar keine! Natürlich ist noch nicht mal geklärt, ob er das überhaupt könnte. Die Dokumente, die er vorgelegt hat, könnten Fälschungen sein, und es heißt, er lehnt es ab, sich einem DNA-Test zu unterziehen …»

«Interessant», sagte Reuben.

«Mehr als das», fuhr Simon fort. «Wenn Sie mich fragen, ist es höchst suspekt. Aber der Punkt ist, dass er Sie kennenlernen möchte, hier bei mir oder in der Kanzlei von Baker und Hammermill, das können wir uns aussuchen. Ich finde, wir sollten uns hier treffen, aber wenn Sie wollen, können wir es auch dort tun. Er will mit Ihnen über das Haus sprechen, über Dinge, die sein Vater da zurückgelassen hat, als er verschwand.»

«Ach ja? Weiß er etwas darüber, wie und warum sein Vater verschwunden ist?»

«Nein. Dazu kann er leider nichts beitragen. Jedenfalls sagt Arthur das. Nein, da ist wohl nichts zu holen. Angeblich hat er in all den Jahren nichts von seinem Vater gehört.»

«Interessant», sagte Reuben wieder. «Und woher weiß man, dass dieser Mann ist, wer er zu sein vorgibt?»

«Eine starke Familienähnlichkeit. Unglaublich sogar. Warten Sie, bis Sie ihn sehen, Reuben! Arthur kannte Felix Nideck persönlich, und er sagt, die Ähnlichkeit sei frappierend.»

«Interessant.»

«Hören Sie zu, Reuben! Ich habe den Mann bereits getroffen, heute Nachmittag, bei Arthur. Er hat mich ziemlich beeindruckt, ein richtiger Grandseigneur. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich ihn für einen dieser Plantagenbesitzer aus den Südstaaten halten. Er wurde in England geboren und erzogen, hat aber keinen britischen Akzent mehr. Ich hab die ganze Zeit versucht, seinen Akzent zuzuordnen, aber es ist mir nicht gelungen. Er hat nämlich einen, aber es scheint ein ganz individueller zu sein. Und, wie gesagt, er erhebt keinerlei Ansprüche auf Marchent Nidecks Nachlass. Das Einzige, was er will, Reuben, ist, Sie kennenzulernen. Und mit Ihnen über den Nachlass seines Vaters zu reden.»

«Und Arthur Hammermill wusste nichts von der Existenz dieses Mannes?», fragte Reuben.

«Nein. Er kann es gar nicht fassen», sagte Simon. «Sie wissen ja, wie sehr Baker und Hammermill versucht haben, den alten Felix Nideck ausfindig zu machen beziehungsweise jemanden, der mit ihm irgendwie in Verbindung stand.»

«Wie alt ist der junge Felix Nideck?»

«Vierzig, fünfundvierzig. Lassen Sie mich nachsehen … Genau, fünfundvierzig. Er wurde 1966 geboren, in London. Eigentlich sieht er jünger aus. Er besitzt eine doppelte Staatsbürgerschaft, die britische und die amerikanische. Aber er hat keinen festen Wohnsitz. Treibt sich überall in der Welt herum.»

«Fünfundvierzig, aha.»

«Das ist doch nicht so wichtig, Reuben. Wichtig ist nur, dass es kein Testament gibt, das seine Existenz belegt. Wenn er allerdings einem DNA-Test zustimmen und die Verwandtschaft bewiesen würde, könnte er Haus und Grundstück natürlich beanspruchen, um es zu veräußern, aber selbst dann wäre ungewiss, ob er dafür einen Käufer finden würde.»

«Aber die persönlichen Hinterlassenschaften seines Vaters will er haben?», fragte Reuben.

«Zum Teil, Reuben, nur zum Teil. Er wollte uns noch nicht sagen, auf welche Dinge er im Einzelnen Wert legt. Das will er mit Ihnen persönlich besprechen. Er scheint gut informiert zu sein. Er war gerade in Paris, als Marchents tragischer Tod durch die Presse ging.»

«Verstehe.»

«Natürlich hat er’s eilig. Heutzutage haben es ja alle eilig. Er wohnt im Clift Hotel und möchte Sie so bald wie möglich treffen. Er scheint schnell wieder wegzumüssen, irgendein wichtiger Termin. Ich habe ihm gesagt, ich würde mein Bestes versuchen.»

Reuben überlegte, was das bedeutete. Er wollte ihn also zu einem bestimmten Zeitpunkt vom Haus weglocken, um hier eindringen und alles fortschaffen zu können, was Felix Nideck hinterlassen hatte. Reuben war sich ziemlich sicher, dass es nur einen Felix Nideck gab und dieser angebliche Nachkomme in Wahrheit der «alte» Felix war. Aber warum kam er nicht einfach her und stellte sich Reuben offen und ehrlich vor?

«Gut», sagte er. «Wir treffen uns mit ihm. Ich könnte aber erst morgen Mittag gegen eins da sein, immerhin sind es vier Stunden Fahrt von hier. Wäre das okay?»

«Bestens. Er sagt, morgen hat er den ganzen Tag Zeit. Er wird sich freuen, dass es so schnell klappt. Soviel ich weiß, muss er morgen am späten Abend abreisen.»

«Aber auf eins muss ich bestehen, Simon. Die Sache muss strikt vertraulich bleiben, Grace und Phil dürfen nichts davon erfahren. Sie kennen ja meine Mutter. Wenn ich sie nicht besuche, obwohl ich in der Stadt bin …»

«Herrgott, Reuben, Sie wissen doch, dass ich mit Ihrer Mutter nicht über Ihre Angelegenheiten spreche, außer Sie wünschen es ausdrücklich», sagte Simon ganz entrüstet.

Aber das stimmte nicht.

«Sie wissen, dass Ihre Mutter sich große Sorgen um Sie macht», fuhr Simon fort. «Ihr Umzug nach Mendocino und alles … Auch dass Sie auf E-Mails und Anrufe nicht reagieren …»

«Alles klar», sagte Reuben. «Also morgen um eins.»

«Nicht so schnell, nicht so schnell! Ich würde Sie vor dem Termin gern allein sprechen, sagen wir, eine Stunde …»

«Warum, Simon? Sie können doch jetzt mit mir sprechen.»

«Na ja, Reuben … Dass in dieser Situation ein Erbe auftaucht, der dann aber keine finanziellen Ansprüche stellt … Wie soll ich sagen? Es ist recht ungewöhnlich. Deswegen möchte ich, dass Sie mich bei diesem Treffen die Gesprächsführung übernehmen lassen und auf meinen Rat hören – besonders in Bezug auf Dinge, die wir bei diesem Treffen besser nicht sagen sollten. Vor allem rate ich Ihnen, keine Fragen zu beantworten, die sich auf den Wert des Hauses beziehen, auf den der Möbel und Felix Nidecks Hinterlassenschaften …»

«Verstehe, Simon, verstehe. Ich höre mir erst mal an, was der Mann zu sagen hat.»

«Genau. Sie hören nur zu. Keine Angaben Ihrerseits. Soll er erst mal alles downloaden, wie die Jugend heutzutage sagt. Hören Sie einfach nur zu. Er ist wild entschlossen, diese Angelegenheit mit niemandem außer Ihnen zu besprechen, aber Sie brauchen auf nichts einzugehen, was er im Laufe dieses Gesprächs sagt. Kein Kommentar, keine Zugeständnisse.»

«Alles klar, Simon. Morgen um eins dann.»

«Wahrscheinlich baut er auf Arthur Hammermill, den alten Charmeur. Offenbar haben die beiden schon manchen Abend miteinander verbracht. Gestern waren sie zum Beispiel in der Oper und haben sich Don Giovanni angesehen. Arthur sagt, er sei seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten. Aber ich versichere Ihnen, Reuben, heutzutage kommt niemand ohne DNA-Test mit so einer Behauptung durch. Keine Chance! Das muss dem Mann eigentlich klar sein. Aber vielleicht ändert er seine Meinung ja noch.»

Wird er nicht. Er kann nicht.

«Dann sehen wir uns morgen, Simon. Tut mir leid, dass ich nicht gleich zurückgerufen habe.»

«Übrigens», sagte Simon. «Ihr Artikel über den Wolfsmenschen im Observer heute Morgen hat mir gut gefallen. Den anderen auch. Gut gemacht, mein Junge. Auch Mr. Nideck hat er gefallen.»

Ach, wirklich? Reuben verabschiedete sich noch einmal und legte auf. Wie aufregend! Es war Felix. Felix war aufgetaucht! Er war hier.

Laura saß vorm Feuer auf dem Teppich und las in einem Buch mit Werwolfgeschichten. Nebenher machte sie sich in einem Heft Notizen.

Reuben setzte sich im Schneidersitz zu ihr und erzählte ihr alles.

«Es kann niemand anders als Felix sein.» Er sah zu dem Foto der vornehmen Gentlemen über dem Kamin auf, und seine Erregung steigerte sich ins Unerträgliche. Felix lebte! Felix, der Schlüssel zu dem Mysterium, das ihn wie undurchdringlicher Rauch zu ersticken drohte. Felix, der ihn möglicherweise beseitigen wollte – und Laura dazu.

«Bestimmt hast du recht», sagte Laura. «Hör dir das hier mal an!» Sie nahm ihr Notizbuch zur Hand. «Die Namen der vornehmen Gentlemen.» Das war ihre Bezeichnung für die Männer auf dem Foto geworden. «Vandover, Wagner, Gorlagon und Thibault. Jeder Einzelne stammt aus einer alten Werwolfgeschichte.»

Reuben war sprachlos.

«Fangen wir mit Frank Vandover an. Es gibt einen berühmten Werwolf in einem Roman von Frank Norris. Der Titel ist Vandover und der Unmensch, er wurde 1914 veröffentlicht.»

Dann stimmte es also! Reuben war so überwältigt, dass er nichts sagen konnte.

Laura fuhr fort: «Der Nächste ist Robert Wagner. Es gibt eine ziemlich bekannte Geschichte von G. W. M. Reynolds, Wagner, der Wehr-Wolf, erschienen 1846

«Mach weiter!»

«Gorlagon ist der Name eines Werwolfs in einer mittelalterlichen Erzählung von Marie de France.»

«Stimmt. Die Geschichte habe ich vor Jahren gelesen.»

«Baron Thibault – das ist eine Kombination von Namen aus Dumas’ berühmter Geschichte Der Werwolf, die 1857 in Frankreich veröffentlicht wurde.»

«Ja, natürlich», murmelte Reuben, stand auf und betrachtete die Männer vor der Dschungelkulisse noch einmal eingehend. Laura stand auf und stellte sich neben ihn.

Baron Thibault war der Einzige mit grauen Haaren. Auch sein Gesicht wirkte älter als das der anderen, aber genau wie sie war er ein überaus ansehnlicher Mann. Er hatte auffallend große helle Augen, mit denen er gütig dreinblickte. Reynolds Wagner hatte offenbar rote Haare, aber genau war es nicht zu erkennen. Er schien im selben Alter zu sein wie Felix und Margon, war schlank und hatte feine, elegante Züge und kleine Hände. Frank Vandover schien der Jüngste zu sein. Sein Haar war schwarz und lockig, seine Augen dunkel, seine Haut blass. Auffallend war der kühne Schwung seiner Lippen.

Irgendetwas in ihren Gesichtern erinnerte Reuben an ein berühmtes Gemälde, aber ihm fiel nicht ein, welches es war.

«Ach, und Tom Marrok», sagte Laura. «So heißt ein Werwolf in Thomas Malorys Artussage, die um 1400 entstanden ist. Wahrscheinlich hast du die auch gelesen.»

«Ja, klar.» Reuben konnte den Blick nicht von den Gesichtern auf dem Foto abwenden.

«Der Inhalt der Geschichten ist nicht so wichtig», sagte Laura. «Auch die Erscheinungszeit nicht. Entscheidend ist, dass alle Namen aus der Werwolfliteratur stammen. Vielleicht handelt es sich um eine Art Erkennungszeichen für Männer, die eine besondere Verbindung zueinander haben. Oder die Namen dienen dazu, sich anderen zu erkennen zu geben, die auch von ihrer Art sind.»

«Ein Erkennungszeichen …», sagte Reuben nachdenklich. «Wer ändert denn seinen Namen, um seine Zugehörigkeit zu einem exklusiven Club zu zeigen?» Unruhig ging er auf und ab, bevor er zum Kamin zurückkehrte.

Laura hatte sich wieder vor das Kamingitter gesetzt, das Notizbuch immer noch in der Hand. «Aber sie haben es getan», sagte sie. «Ist dir klar, was das bedeutet?»

«Dass alle Wolfsmenschen sind, natürlich. Mein Gott, ich zittre. Ich kann kaum noch … Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Aber ich hatte es erwartet. Fast von Anfang an habe ich es vermutet, aber es schien so weit hergeholt.»

«Wenn diese Kreaturen nicht altern», sagte Laura ernst, «dann bedeutet das, auch du wirst nicht altern. Vielleicht sind sie sogar unsterblich – und du auch.»

«Das wissen wir nicht, Laura. Aber Felix scheint tatsächlich nicht so zu altern wie andere Männer.»

Er dachte an die Kugel, die ihn nicht verletzt hatte, an die Glasscherben, die ihn nicht geschnitten hatten, und er wünschte, er wäre mutig genug, um seine Hypothese zu überprüfen, indem er sich absichtlich eine Wunde zufügte.

Die Vermutung, dass Felix alle Antworten kannte, die ihn so brennend interessierten, machte ihn schwindelig, und er konnte kaum noch erwarten, ihn kennenzulernen.

«Warum will er mich im Beisein unserer Anwälte treffen?», fragte er. «Was, wenn er mich einfach nur aus dem Haus locken will, damit er es in aller Ruhe ausräumen kann?»

«Das glaube ich nicht», sagte Laura. «Ich glaube, dass er dich wirklich kennenlernen möchte.»

«Warum kommt er dann nicht einfach zur Haustür hereinspaziert?»

«Er will dir auf den Zahn fühlen, ohne sich selbst erkennen zu geben», sagte Laura. «Jedenfalls nehme ich das an. Außerdem will er wohl wirklich die Tontafeln und Tagebücher haben, die sich noch hier im Haus befinden. Wahrscheinlich auch noch andere Dinge. Er will sie haben, aber er will sie nicht stehlen, sondern ehrlich mit dir sein. Na ja, bis zu einem gewissen Grad jedenfalls.»

«Wahrscheinlich.»

«Vielleicht weiß er gar nicht, was hier passiert ist. Nicht mal dass Marrok tot ist.»

«Aber es ist meine große Chance, nicht wahr? Ich kann ihm zu verstehen geben, wer ich bin und warum ich Marrok töten musste.»

«Wir beide haben ihn getötet», sagte Laura. «Wir hatten keine andere Wahl.»

«Das stimmt», sagte Reuben. «Aber ich übernehme dafür die volle Verantwortung. Andererseits interessiert es Felix vielleicht gar nicht, warum ich oder wir Marrok getötet haben. Wir wissen auch nicht, wie wichtig ihm Marchents Wünsche waren. Vielleicht sieht er in mir einfach nur ein gewalttätiges Monster.»

«Ich glaube nicht», sagte Laura. «Aber wie auch immer – dieses Treffen ist deine große Chance, das sehe ich genau wie du.»

Reuben setzte sich wieder zu ihr vors Feuer.

Eine Zeitlang saßen sie schweigend da. Dass sie zusammen schweigen konnten, liebte Reuben an Laura ganz besonders. Sie schien ihren eigenen Gedanken nachzuhängen, hatte die Knie angezogen und die Arme darumgelegt. Ihr Blick war aufs Feuer gerichtet. In ihrer Gegenwart fühlte er sich vollkommen geborgen, doch der Gedanke, dass ihr etwas zustoßen könnte, machte ihn wütend.

«Ich wünschte, du könntest dabei sein», sagte er nach einer Weile. «Meinst du, das würde das ganze Unternehmen irgendwie torpedieren oder dich in Gefahr bringen?»

«Ich finde, du solltest allein mit ihm sprechen», sagte Laura. «Ich weiß zwar nicht, warum, aber ich glaube, es ist besser so. Ich fahre mit, aber bei dem Treffen werde ich nicht dabei sein. Ich warte in einem Nebenzimmer auf dich.»

«Mitkommen musst du auf jeden Fall. Ich kann dich hier nicht allein lassen.»

Wieder schwiegen sie eine Weile, bevor Reuben sagte: «Sie kommt nicht.» Damit meinte er die Verwandlung.

«Bist du dir sicher?»

«Ich weiß es einfach.»

Überraschenderweise verspürte er keinen Drang, sich zu verwandeln. Sie sprachen auch nicht weiter darüber.

Irgendwann – es war noch nicht spät – ging Laura zu Bett.

Reuben sah sich noch einmal den Brief an und betrachtete die unleserliche Schrift. Dann nahm er die goldene Uhr vom Kaminsims. Marrok.

Um ein Uhr weckte er Laura. Im Morgenmantel stand er neben ihrem Bett, die Axt in der Hand.

«Was soll das, Reuben?»

«Leg das neben dich», sagte er. «Ich steige aufs Dach.»

«Wie willst du das schaffen?»

«Ich werde versuchen, mich zu verwandeln. Wenn ich es schaffe, gehe ich rauf. Falls du mich brauchst, ruf mich. Ich werde dich hören und verspreche dir, nicht in den Wald zu gehen. Ich lass dich hier nicht allein.»

Er ging zu den Eichen. Der Regen hatte nachgelassen und tropfte nicht mehr durchs Blätterdach. Durch die Zweige konnte er das hell erleuchtete Küchenfenster sehen.

Er hob die Arme und fuhr sich mit den Händen durchs Haar. «Komm schon!», flüsterte er beschwörend. «Los jetzt!»

Er spannte die Bauchmuskeln an, und der Krampf setzte sofort so stark ein, dass Brustkorb, Arme und Beine wie von Schockwellen erfasst wurden. Seinen Morgenmantel ließ er auf den Waldboden fallen, dann streifte er die Schuhe ab. «Schnell!», flüsterte er. Das Wohlgefühl erfasste seinen ganzen Körper, von unten nach oben, von innen nach außen, und neue Kraft strahlte von seinem Bauch in Brust und Lenden aus.

Das Fell begann zu wachsen, und er strich es glatt, warf den Kopf zurück und spürte voller Lust, wie schwer seine Mähne war. Dann spürte er, wie er sich in alle Richtungen ausdehnte. Arme und Beine schwollen an, und trotzdem fühlte er sich nahezu schwerelos.

Um ihn herum schien es heller zu werden. Die Nachtluft erschien ihm schimmernd und leuchtend, die Schatten schwanden, und der Regen tanzte anmutig vor seinen Augen. Der Wald sang sein Lied, und kleine Tiere liefen herbei, als wollten sie ihn willkommen heißen.

Er sah, dass Laura ihn vom Küchenfenster aus beobachtete. Hinter ihr war es so hell, dass er ihr Gesicht nicht erkennen konnte, aber er sah das Funkeln in ihren Augen.

Er lief aufs Haus zu, zu der Stelle, an der sich zwei Giebel trafen. Mühelos erklomm er die Hauswand. Über die Dachziegel konnte er mit Leichtigkeit zur glasgedeckten Dachmitte vordringen, die wie ein schwarzer See im diffusen Mondlicht glänzte.

Er ging auf die Knie, bevor er über das Glas kroch. Der Regen hatte es rutschig gemacht, und er spürte, wie dick es war. Es wurde von zickzackförmigen Eisenträgern getragen. Den Raum oder die Räume, die darunter lagen, konnte er nicht erkennen. Das Glas war getönt, vielleicht auch laminiert und mit Sicherheit gehärtet. In der südwestlichen Ecke fand er die viereckige Einstiegsluke, die er bis jetzt nur vom Satellitenbild des Computers kannte. Sie war größer, als er gedacht hatte, und in einen eisernen Rahmen eingefasst. Einen Griff konnte er nicht entdecken, auch sonst keinen Mechanismus, mit dem sich die Luke öffnen ließ. Sie schien fest versiegelt zu sein.

Doch wenn er sich nicht gründlich irrte, musste man sie öffnen können. Er suchte alles ab, konnte aber keinen Griff, Hebel oder Knauf finden.

Ließ sie sich vielleicht nicht nach außen aufziehen, sondern öffnete sich nach innen? Er probierte es mit den Pfoten und drückte auf verschiedene Stellen der etwa einen Quadratmeter großen Luke. Doch nichts geschah.

Er richtete sich auf und stellte sich mitten darauf. Dann spannte er die Muskeln an und wippte, so kräftig er konnte, und schließlich sprang er auf und ab.

Plötzlich gab die Luke nach. Er spürte, wie er im Fallen mit dem Rücken an Scharnieren entlangglitt. Im letzten Moment packte er den Rand der Luke über sich mit beiden Pfoten. Es roch nach Holz und Staub, Büchern und Moder.

Vom Rand der Luke baumelnd, sah er sich um und erkannte die schummrigen Umrisse eines großen Saals. Obwohl er fürchtete, in eine Falle zu geraten, aus der er sich nicht mehr befreien könnte, überwog seine Neugier. Wenn er hinein konnte, würde er es auch wieder heraus schaffen, sagte er sich, und ließ sich auf den Boden fallen. Als er auf einem Teppich landete, hörte er über sich die Luke zufallen, und als er aufschaute, konnte er den Himmel nicht mehr sehen.

Er war von undurchdringlicher Dunkelheit umgeben. Das Glasdach war so stark getönt, dass das Mondlicht nur zu erahnen war.

Vor sich ertastete er eine Wand, in die eine Tür eingelassen war. Er fand den Türknauf und drehte ihn. Dann zog er, und die Tür ließ sich öffnen.

Ohne etwas sehen zu können, schob er sich vor und wäre beinahe eine enge, steile Treppe hinabgestürzt. Sie hatten sich also gründlich geirrt, als sie dachten, dieser Raum sei vom Dachboden aus zu erreichen. Die Pfoten rechts und links an die Wände gelegt, tastete er sich die Treppe hinunter, bis er das Erdgeschoss erreicht hatte.

Die Treppe endete an einer Tür, die nach innen aufging und in ein Zimmer führte, das er augenblicklich am Geruch von frischer Wäsche, Silberpolitur und Kerzen erkannte. Es war eine Abstellkammer, die in einer überwölbten Nische zwischen Esszimmer und Diele lag.

Laura kam ihm aus der Küche durch das ehemalige Dienstzimmer des Butlers und das dunkle Esszimmer entgegen, trat durch die Tür und sagte erstaunt: «Also, da ist der Geheimgang!»

«Wir brauchen eine Taschenlampe», sagte Reuben. «Es ist so dunkel, dass selbst ich kaum etwas sehen kann.»

Laura wollte schon zurückgehen, um die Taschenlampe zu holen, als sie am Eingang des Geheimgangs stehen blieb. «Schau, hier ist ein Lichtschalter.» Sie betätigte ihn, und eine kleine Glühbirne am Kopf der Treppe ging an.

Reuben staunte. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Geheimgang so gut ausgestattet sein würde, und fragte sich, wann hier wohl zuletzt jemand gewesen war, um dafür zu sorgen, dass die Glühbirne funktionierte.

Zusammen mit Laura ging er wieder hinauf.

Im Lichtkegel der Taschenlampe sahen sie den Durchgang zu einem riesigen Saal, der vor Büchern schier überquoll. Sie waren verstaubt und von Spinnweben überzogen, aber obwohl sie den Raum dominierten, handelte es sich nicht um eine gewöhnliche Bibliothek.

In der Mitte des Raums standen mehrere Tische. Auf den meisten standen Geräte wie Messbecher, Bunsenbrenner, Reagenzgläser, Schachteln, Glasplatten, Flaschen und Krüge. Auf einem langen, schmalen Tisch lag ein angegrautes, zerschlissenes Tischtuch. Alles war von einer dicken Staubschicht bedeckt.

Reuben drückte auf einen Lichtschalter am Eingang der Kammer, und eine Reihe von Glühbirnen leuchtete auf, die an der Westseite von den Eisenträgern herabhingen, die das Glasdach trugen. Früher waren noch mehr Glühbirnen daran befestigt gewesen, aber jetzt waren die meisten Fassungen leer.

Alles war so staubig, dass Laura husten musste. Nicht nur die Geräte auf den Tischen waren von einem grauen Staubfilm überzogen, sondern einfach alles, auch Zettel und Notizen, die überall herumlagen, Bleistifte und Füllfederhalter.

«Sogar Mikroskope», sagte Reuben. «Aber sie sind so alt, dass es praktisch Antiquitäten sind.» Er ging zwischen den Tischen umher. «Alles ist alt. Geräte wie diese werden seit Jahrzehnten nicht mehr benutzt.»

Laura zeigte auf den hinteren Teil des Raums, der weitgehend im Dunkeln lag. Undeutlich waren dort eine Reihe rechteckiger Käfige zu sehen. Auch sie waren so alt, dass sie schon Rost angesetzt hatten. Sie erinnerten an altertümliche Affenkäfige in Zoos. Bei genauerem Hinsehen war zu erkennen, dass die ganze Ostseite des Raums mit größeren und kleineren Käfigen vollstand.

Reuben wurde ganz übel, als er die Käfige sah. Wer war einst darin eingesperrt? Morphenkinder? Wilde Tiere? Langsam bewegte er sich auf sie zu und öffnete eine große Käfigtür, die in den Angeln quietschte. Von der Käfigdecke hingen verrostete Eisenketten mit ebenso verrosteten Schlössern herunter. Wenn hier ein Morphenkind eingesperrt war, hätten die Ketten es bestimmt nicht gehalten. Oder doch?

«Das alles hier muss um die hundert Jahre alt sein», sagte er.

«Das ist aber auch schon das einzig Gute daran», sagte Laura.

«Warum hat man wohl aufgehört zu tun, was immer man hier getan hat?», fragte Reuben. «Warum gibt jemand ein so aufwendig eingerichtetes Labor auf?»

Sein Blick glitt über die Bücherregale an der Nordwand.

Dann ging er darauf zu. «Medizinische Jahrbücher», sagte er. «Alle aus dem neunzehnten Jahrhundert. Hier sind noch welche aus dem frühen zwanzigsten Jahrhundert – 1910, 1915, dann nichts mehr.»

«Trotzdem muss in letzter Zeit jemand hier gewesen sein. Vom Eingang führen Fußspuren hier herein und verteilen sich dann durch den ganzen Raum.»

Reuben sah genauer hin. «Alle stammen von derselben Person. Sie sind ziemlich klein … kleine, weiche Schuhe ohne Absatz, so etwas wie Mokassins. Es war Marrok.» Er sah sich weiter um.

«Er war bei dem Schreibtisch da drüben.» Er zeigte in die nordwestliche Ecke. «Sieh dir den Stuhl an. Jemand hat ihn abgestaubt. Und die Bücher auf dem Schreibtisch sind auch nicht staubig.»

«Sie sind ohnehin neueren Datums», sagte Laura.

Reuben sah sie sich genauer an. Es waren Krimiklassiker – Raymond Chandler, Dashiell Hammett, James M. Cain.

«Wahrscheinlich hat er sich hier öfter mal niedergelassen», sagte er, «und Wartezeiten, in denen er sich versteckt halten musste, mit solcher Lektüre gefüllt.»

Rechts neben dem Stuhl stand eine halbvolle Weinflasche mit Schraubverschluss auf dem Boden. Es war ein einfacher kalifornischer Wein, kein ganz billiger, aber eben einer mit Schraubverschluss.

Hinter dem Schreibtisch standen einige Lederbände auf einem hohen Regal, bei denen es sich um so etwas wie Haushalts- oder Kontenbücher zu handeln schien. Auf den Buchrücken waren verblasste goldfarbene Jahreszahlen zu sehen. Vorsichtig zog Reuben den Jahrgang 1912 aus dem Regal und schlug das Buch auf. Das robuste, pergamentähnliche Papier war unbeschädigt.

Dieselbe rätselhafte Handschrift, Felix’ Geheimschrift, flüssig und geschwungen, Seite um Seite.

«Ob es wohl diese Bücher waren, auf die er aus war?», fragte Reuben.

«Alles ist so alt», sagte Laura. «Welche Geheimnisse, die heute noch interessant sind, sollten darin verborgen sein? Vielleicht wollte er sich nur etwas holen, das ihm gehörte.»

Sie zeigte auf den langen Tisch mit dem Tischtuch, und Reuben sah die Fußspuren, die zwischen Tisch und Eingang hin- und herführten. Die Fußspuren liefen um den ganzen Tisch.

Plötzlich wusste er, was er dort finden würde. Vorsichtig hob er das Tischtuch an.

«Die Tontafeln», flüsterte er. «Die kostbaren mesopotamischen Tontafeln. Marrok hat sie alle zusammengesucht und hierhergebracht.» Langsam schlug er das Tischtuch zurück, und Reihe um Reihe der magischen Tafeln wurde sichtbar. «Alle intakt», sagte er. «Wahrscheinlich vollzählig. Genau wie Felix es sich wünschen würde.» Aber er fand noch mehr auf dem Tisch: Felix’ Tagebücher. Es waren ein gutes Dutzend, und alle sahen genauso aus wie das erste, das Reuben auf Felix’ Schreibtisch entdeckt hatte. In ordentlichen Viererstapeln lagen sie nebeneinander. «Sieh nur, wie sorgfältig er damit umgegangen ist!»

War es möglich, dass das Geheimnis der Verwandlung von Mensch zu Wolf bis zu antiken Kulturen wie den Uruk und Mari zurückreichte? Aber warum nicht? Chrisamso bezeichnen wir es seit ewigen Zeiten. Das Geschenk, die Gabe. Es gibt viele Wörter dafür. Doch das tut nichts zur Sache.

Laura ging an der Nord- und der Ostwand entlang und las die Buchrücken in den Regalen, bis sie zu einer schlichten dunklen Tür kam.

Sie wartete, bis Reuben sie öffnete. Der Messingknauf war so alt wie die anderen. Hinter der Tür lag eine zweite mit einem Riegel. Auch sie ließ sich knarrend öffnen.

Dann fanden sie sich in einem der Badezimmer wieder, die in der Hausmitte lagen, in diesem Fall an der Nordseite der Diele. Von innen war die gesamte Tür mit einem goldgerahmten Spiegel verkleidet.

«Ich hätte es wissen müssen», sagte Reuben.

Es musste allerdings noch eine andere Verbindung geben, die ins Obergeschoss führte, und zwar in der südwestlichen Ecke, da war er sich ganz sicher. Der Gang musste zum Schlafzimmer führen, das der erste Felix Nideck benutzt hatte, der Erbauer des Hauses.

Noch einmal machten sie sich auf die Suche und fanden den Zugang in der Tür eines Wäscheschranks, die von Regalen verdeckt war. Die Regale ließen sich leicht entfernen. Gleich daneben lag das Schlafzimmer des alten Felix Nideck.

Sie machten noch mehr kleinere Entdeckungen. Von der Einstiegsluke hing eine Eisentrosse herab, mit der man die Luke von innen zuziehen konnte. Die alten Petroleumlampen im Labor waren alle leergebrannt. In mehreren Tischen waren kleine Spülbecken eingelassen, mit Wasserhähnen und Abflüssen. Unter den Tischen liefen Gasleitungen zu den Bunsenbrennern. Für seine Zeit war das Labor sehr gut ausgestattet gewesen.

In allen vier Ecken befand sich eine Tür, hinter der ein Gang ins Haus führte. Einer endete hinter einem Badezimmerspiegel, genau wie der erste, den sie zusammen entdeckt hatten, der letzte in einem Wäscheschrank im Südosten des Hauses.

«Ich glaube, ich weiß jetzt, was passiert ist», sagte Reuben. «Jemand hat angefangen, hier oben Experimente durchzuführen, um zu ergründen, was es mit der Verwandlung auf sich hat und was dieses Chrisam ist. Wenn diese Morphenkinder tatsächlich nicht oder nur extrem langsam altern, kann man sich vorstellen, welche Bedeutung die modernen Naturwissenschaften für sie hatten, nachdem es Tausende von Jahren nur die Alchemie gegeben hatte. Wahrscheinlich erwarteten sie, große Entdeckungen zu machen.»

«Und warum haben sie damit aufgehört?»

«Das kann viele Gründe haben. Vielleicht wurde woanders ein moderneres Labor errichtet. Schließlich sind die technischen Möglichkeiten eines Hauses wie diesem begrenzt. Außerdem mussten sie im Verborgenen wirken, und es kann sein, dass ihnen der Redwood-Tourismus zu viel wurde. Vielleicht sind sie aber auch mit ihren Forschungen gescheitert und haben sie aufgegeben.»

«Das kann ich mir nicht vorstellen», sagte Laura. «Bestimmt haben sie eine Menge interessante Entdeckungen gemacht.»

«Da bin ich mir nicht so sicher. Die Proben, die sie sich selbst oder verwandten Kreaturen entnahmen, haben sich aufgelöst, bevor sie sie analysieren konnten. Das wäre ein guter Grund, das ganze Unternehmen aufzugeben.»

«Also ich hätte nicht so einfach aufgegeben», sagte Laura. «Ich hätte nach besseren Konservierungsstoffen und Verfahrenstechniken gesucht. Und ich hätte die Proben wenigstens so lange untersucht, wie sie irgend hielten. Nein, nein. Ich glaube, sie haben ihr Forschungszentrum verlegt. Erinnerst du dich, was Marrok über pluripotente Stammzellen gesagt hat? Das ist ein aktueller wissenschaftlicher Begriff, den die wenigsten Menschen kennen.»

«Falls du recht hast, ist Felix an seinen persönlichen Aufzeichnungen interessiert, den Tagebüchern und Tontafeln – was immer sie zu bedeuten haben.»

«Was weißt du darüber?», fragte Laura. «Worum genau handelt es sich dabei?» Sie ging auf das halb zurückgeschlagene Tischtuch zu, aber sie wagte nicht, die kleinen getrockneten Tonfragmente zu berühren, die so zerbrechlich wie trockener Kuchenteig wirkten.

Auch Reuben wollte sie nicht berühren und wünschte, er hätte eine Lichtquelle, mit der er sie besser sehen könnte. Er fragte sich, ob Marrok sie in einer bestimmten Reihenfolge ausgelegt hatte, und wenn ja, ob sie in Felix’ Regalen in derselben Reihenfolge arrangiert waren. Er konnte sich nicht daran erinnern, wie er sie ursprünglich vorgefunden hatte.

«Sie sind in Keilschrift geschrieben», sagte er, «und gehören zu den ältesten Schriftstücken der Menschheit überhaupt. In der Bibliothek kann ich dir Bücher darüber zeigen, oder wir gehen ins Internet. Diese hier stammen wahrscheinlich aus dem Irak, aus den ältesten Städten der Erde, die bislang gefunden wurden.»

«Ich wusste gar nicht, dass sie so winzig sind», sagte Laura. «Ich hatte sie mir immer ungefähr so groß wie Buchseiten vorgestellt.»

«Lass uns gehen», sagte Reuben plötzlich. «Hier oben ist es stickig und trostlos.»

Laura nickte und sagte: «Fürs Erste haben wir genug gefunden. Ich wüsste nur gern, ob Marrok der Einzige war, der in letzter Zeit hier oben war.»

«Da bin ich mir ziemlich sicher», sagte Reuben und führte Laura nach unten.

In der dunklen Bibliothek fachten sie das Feuer wieder an. Laura setzte sich dicht davor und rieb sich warm. Reuben hingegen setzte sich ein Stück entfernt an den Schreibtisch, weil ihm viel zu warm war.

Sonst fühlte er sich in Wolfsgestalt wohl und saß genauso bequem und entspannt da wie sonst in Menschengestalt. Aber er konnte das Vogelzwitschern in den Eichen hören, das Rascheln und Schnauben der Waldtiere. Dieses Mal verspürte er aber keinen Drang, ihnen nahe zu sein, ihr wildes Leben zu teilen oder sich pulsierendes, frisches Fleisch einzuverleiben.

Sie redeten nicht viel, waren sich aber einig, dass Reuben gefunden hatte, was Felix haben wollte. Offenbar wusste Felix, dass es noch hier im Haus war, aber als wahrer Gentleman wollte er nicht einfach herkommen und die Sachen heimlich an sich bringen.

«Dann bedeutet dieses Treffen, dass seine Absichten ehrenwert sind», sagte Laura. «Wenn er hier einbrechen wollte, hätte er es längst tun können. Auch hätte er uns längst töten können.»

«Es sei denn, er fürchtet, dass wir mit ihm das Gleiche machen wie mit Marrok», sagte Reuben.

«Warum sollte er?», fragte Laura. «Aber nimm morgen auf jeden Fall Marroks Brief mit und versuch, ihm die Sache zu erklären.»

Reuben nickte. Auch die Uhr würde er mitnehmen. Aber auf keinen Fall wollte er sich vor dem Treffen zurechtlegen, was er sagen würde.

Alles hing von Felix ab. Was er sagen und tun würde.

Je länger Reuben darüber nachdachte, desto ungeduldiger blickte er dem Treffen entgegen. All seine Hoffnungen ruhten darauf, und es war eine ungeheure Erleichterung, dass er Felix endlich kennenlernen würde.

Ein inneres Verlangen erwachte in ihm, aber nicht nach der Wildnis da draußen, sondern nach einem wilden Erlebnis in diesem Zimmer.

Er ging zu Laura hinüber, küsste ihr Haar, ihren Hals, ihre Schultern. Dann umarmte er sie und spürte, wie ihr Körper mit seinem verschmolz.

«Dann ist es also wieder der Wilde aus dem Wald, der mich liebt», sagte Laura und lächelte, ohne den Blick vom Feuer abzuwenden.

Reuben küsste ihre Wangen und die Fältchen, die sich beim Lächeln bildeten.

«Werde ich denn niemals den jungenhaften Reuben Golding lieben, den Sonnyboy, das Baby, den Kleinen, den talentierten Wunderknaben?»

«Was willst du denn von dem, wenn du mich haben kannst?», murmelte Reuben, während er sie immer drängender küsste.

Statt einer Antwort öffnete Laura den Mund, um seine Küsse zu empfangen und zu erwidern.

Als sie sich geliebt hatten, trug er sie nach oben, wie er es so gerne tat, und legte sie aufs Bett.

Dann ging er ans Fenster und sah hinaus, weil Laura sein Gesicht nicht sehen sollte, während er leise mit der Macht sprach, die ihn beherrschte und die er zu beherrschen begann. Er öffnete den Mund und sog die Luft ein, als tränke er Wasser aus einem Bergbach. Die Verwandlung begann fast augenblicklich.

Es war, als streichelten ihn tausend Finger und pflückten ihm behutsam jedes Haar seines Fells einzeln von Kopf, Gesicht, Armen, Rücken und Beinen.

Er hob die Pfoten und beobachtete im fahlen Nachtlicht, wie sie wieder zu Händen wurden. Die Klauen zogen sich zurück und verschwanden schließlich ganz, und seine menschliche Haut kehrte zurück.

Er krümmte und streckte Finger und Zehen. Die Nacht wurde dunkel, und das Lied des Waldes verstummte.

Es war ungeheuer befriedigend zu erleben, dass er sich verwandeln konnte, wann und wie er wollte. Die Macht oder was immer dahintersteckte, gehorchte ihm.

Wie lange würde das so sein? Konnte er diese Fähigkeit unter bestimmten Bedingungen wieder verlieren? Würde er auch darüber verfügen, wenn er einmal in Gefahr war? So viele Fragen!

Morgen würde er einen Mann treffen, der die Antworten kannte. Doch wie würde dieses Treffen verlaufen? Was wollte dieser Mann wirklich von ihm?

Und noch wichtiger: Was war er bereit zu geben?