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Reuben war ein großer junger Mann, an die eins neunzig, mit braunen Locken und tiefliegenden blauen Augen. Seinen Spitznamen, «Sonnyboy», hasste er so sehr, dass er es vermied, auf eine Weise zu lächeln, die jeder «unwiderstehlich» fand. Momentan war er aber zu glücklich, um seine Gesichtszüge zu kontrollieren oder so zu tun, als sei er älter als dreiundzwanzig.

Eine steife Brise wehte vom Meer her, als er einen steilen Hügel erklomm. Neben ihm ging eine etwas ältere, ebenso exotische wie elegante Frau namens Marchent Nideck, die ihm wunderbare Dinge über das große Haus auf den Klippen erzählte. Sie war schlank, fast dünn, ihr schmales Gesicht erinnerte an die klassischen Züge einer Marmorstatue, und ihr Haar war von jenem Blond, das nie ergraute. Es war glatt zurückgekämmt und fiel ihr mit sanftem Schwung fast bis auf die Schultern. Mit ihrem langen braunen Strickkleid und den polierten braunen Stiefeln entsprach sie genau Reubens Geschmack.

Er war hergekommen, um im Auftrag des San Francisco Observer für einen Artikel über dieses riesige Haus zu recherchieren. Marchent Nideck wollte es verkaufen, nachdem ihr Großonkel, Felix Nideck, endlich für tot erklärt und der Nachlass geregelt worden war. Er war bereits vor zwanzig Jahren verschwunden, sein Testament aber jetzt erst gültig geworden, und danach ging das Haus an seine Nichte Marchent.

Seit Reuben angekommen war, hatten sie den bewaldeten Hügel durchstreift, ein verfallenes altes Gästehaus und die Ruine der ehemaligen Scheune besichtigt. Sie waren alten Straßen und Pfaden gefolgt, die sich teilweise in unwegsamem Gelände verloren, und hier und da waren sie plötzlich an den steil abfallenden Klippen herausgekommen, wo sie einen phantastischen Blick auf den kalten eisengrauen Pazifik hatten, um dann wieder ins sichere Unterholz mit knorrigen Eichen und üppigem Farngestrüpp einzutauchen.

Auf einen solchen Streifzug durch die Wildnis war Reuben nicht vorbereitet gewesen und folglich ganz unpassend gekleidet. Als er sich auf den Weg nach Norden gemacht hatte, trug er seine gewohnte «Uniform» – einen blauen Kammgarn-Blazer über einem dünnen Kaschmirpullover und eine graue Hose. Wenigstens hatte er noch einen Schal im Handschuhfach gefunden, den er umbinden konnte, obwohl ihm die beißende Kälte eigentlich nichts ausmachte.

Das große Haus mit den tief herabgezogenen Schieferdächern und bleiverglasten Fenstern glich einem Winterpalast. Die Mauern waren aus unbehauenem Naturstein, und zahllose Schornsteine erhoben sich über den spitzen Giebeln. An der Westseite hatte es einen ausgedehnten Wintergarten, der ganz aus Glas und weiß gestrichenem Eisen bestand. Reuben war restlos begeistert. Schon die Fotos, die er sich im Internet angesehen hatte, waren phantastisch gewesen, aber das Haus in natura zu sehen war einfach überwältigend.

Er selbst war in einem alten Haus aufgewachsen, in Russian Hill, einem der begehrtesten Wohnviertel von San Francisco, und auch die luxuriösen Häuser von Presidio Heights und den Vororten der Stadt kannte er von innen. Auch in Berkeley, wo er aufs College gegangen war, hatte er eindrucksvolle Gebäude kennengelernt, und das Fachwerkhaus seines verstorbenen Großvaters in Hillsborough war viele Jahre lang sein Feriendomizil gewesen. Aber keins dieser Häuser konnte es mit dem der Nidecks aufnehmen.

Allein schon seine Größe machte es zu etwas Besonderem, ganz zu schweigen von dem riesigen Grundstück, das dazugehörte. Es war wie eine eigene Welt für sich.

«Das ist nicht zu toppen», hatte er fasziniert gemurmelt, als er es zum ersten Mal sah. «Diese Schieferdächer! Und die Regenrinnen scheinen noch aus Kupfer zu sein!» Üppige Efeuranken bedeckten gut die Hälfte des Gebäudes und reichten bis an die obersten Fenster. Gleich beim ersten Blick auf das Haus hatte er gebremst und war eine ganze Weile im Wagen sitzen geblieben, um es zu bewundern. Eines Tages, dachte er, wenn er ein berühmter Schriftsteller war und ein Refugium brauchte, um dem Rummel um seine Person zu entgehen, würde er nur zu gern ein Haus wie dieses besitzen.

Er wusste, dass ein wunderbarer Nachmittag vor ihm lag.

Als er dann das verwahrloste, unbewohnbare Gästehaus gesehen hatte, war er erschrocken, aber Marchent hatte ihm versichert, das Haupthaus sei in bester Ordnung.

Er hätte ihr stundenlang zuhören können. Sie sprach mit einem Akzent, der weder britisch klang noch aus Boston oder New York stammte, aber er hatte etwas Kultiviertes, Weltgewandtes und verlieh allem, was sie sagte, Würde und Leichtigkeit zugleich.

«Ich weiß, wie schön dieses Haus ist», sagte sie. «An der gesamten kalifornischen Küste gibt es keins, das es mit ihm aufnehmen könnte. Aber ich muss es verkaufen, mir bleibt nichts anderes übrig. Wenn es so weit kommt, dass ein Haus von einem Besitz ergreift, muss man es loslassen und sich wieder um Dinge kümmern, die man vernachlässigt hat.» Sie sagte, sie wolle wieder reisen, und gab zu, dass sie seit Onkel Felix’ Verschwinden nicht besonders viel Zeit in dem Haus verbracht hatte. Sobald es verkauft war, wollte sie nach Südamerika gehen.

«Was für ein Jammer», sagte Reuben und wusste, dass ein Reporter nichts derart Persönliches sagen sollte, aber er konnte sich nicht zurückhalten. Außerdem verlangte ja niemand von ihm, kalt wie ein Fisch zu sein. «Dieses Haus ist einzigartig, Marchent», sagte er. «Ich werde ihm mit meinem Artikel ein Denkmal setzen und hoffe, dass Sie auf diese Weise schnell einen Käufer finden.»

Was er meinte, war: Ich wünschte, ich könnte dieses Haus selber kaufen. Dieser Gedanke ließ ihn nicht los, seit er das Haus zum ersten Mal durch die Bäume schimmern gesehen hatte.

«Ich bin ja so froh, dass die Zeitung ausgerechnet Sie geschickt hat», sagte Marchent. «Sie sind begeisterungsfähig, und das ist mir wichtig.»

Reuben dachte: Ja, ich bin begeisterungsfähig, und ich will dieses Haus haben. Warum auch nicht? So eine Chance bekomme ich nie wieder. Doch dann dachte er an seine Mutter und Celeste, seine Freundin, den aufgehenden Stern der Bezirksstaatsanwaltschaft, und sah förmlich vor sich, wie sie über diese verrückte Idee lachten.

«Was haben Sie denn plötzlich, Reuben?», fragte Marchent. «Sie schauen auf einmal so merkwürdig drein.»

«Ach, ich hab nur gerade nachgedacht», sagte er und tippte sich an die Schläfe. «In Gedanken schreibe ich schon an meinem Artikel. ‹Architektonisches Juwel an der Küste von Mendocino, seit seiner Erbauung zum ersten Mal auf dem Markt.›»

«Klingt gut.» Selbst so kurze Bemerkungen klangen in Marchents eigenartigem Akzent weltläufig.

«Ich würde dem Haus einen Namen geben, wenn es meins wäre», sagte Reuben. «Einen, der seinen Charakter zum Ausdruck bringt. Kap Nideck oder so.»

«An Ihnen ist ein Dichter verloren gegangen», sagte Marchent. «Das merkt man gleich. Ich mag Ihre Artikel, ich habe einige gelesen. Sie haben einen ganz eigenen Ton. Aber momentan arbeiten Sie an einem Roman, nicht wahr? Ein talentierter Reporter in Ihrem Alter sollte sich der Literatur zuwenden. Es wäre schade, wenn Sie es nicht täten.»

«Das ist Musik in meinen Ohren», sagte Reuben gerührt und sah Marchent überrascht an. Sie war wunderschön, und wenn sie lächelte, schienen die feinen Linien ihres Gesichts zu sprechen. «Erst letzte Woche hat mein Vater gesagt, dass ein junger Mann wie ich noch nichts zu erzählen hat – und zu sagen schon gar nichts. Er war Professor und ist mittlerweile ziemlich ausgebrannt. Seit seiner Pensionierung vor zehn Jahren überarbeitet er seine ‹Gesammelten Gedichte›.» Kaum hatte er das gesagt, dachte er: Du redest zu viel, lass das sein!

Eigentlich müsste dieses Haus seinem Vater gefallen. Phil Golding war der wahre Dichter der Familie, und als solcher müsste ihn dieses Haus gefühlsmäßig ansprechen. Wahrscheinlich würde er sogar Reubens Mutter ganz begeistert davon erzählen, die eine solche Lobeshymne aber nur mit einer spöttischen Bemerkung quittieren würde. Dr. Grace Golding war eine praktisch veranlagte, zupackende Frau, und sie war es, die die Familiengeschicke lenkte. Sie war es auch, die Reuben den Job beim San Francisco Observer besorgt hatte, obwohl er nichts als einen Master in Englischer Literatur und eine Weltreise pro Jahr vorzuweisen hatte.

Grace war stolz auf den investigativen Journalismus, den er neuerdings betrieb, aber diese «Maklergeschichte» hielt sie für reine Zeitverschwendung.

«Jetzt träumen Sie schon wieder», sagte Marchent, legte ihren Arm um seine Schultern, lachte und küsste ihn auf die Wange.

Damit hatte Reuben nicht gerechnet, und es ging ihm durch und durch, als er ihre weichen Brüste spürte und ihr schweres, dezent aufgetragenes Parfüm roch.

«Um ehrlich zu sein, habe ich bis jetzt noch nichts Nennenswertes zustande gebracht», sagte er mit einer Vertraulichkeit, die ihn selbst überraschte. «Meine Mutter ist eine brillante Chirurgin, mein Bruder Priester. Mein Großvater mütterlicherseits war bereits in meinem Alter ein international erfolgreicher Grundstücksmakler. Dagegen bin ich ein Nichts, ein Niemand. Auch bei der Zeitung bin ich erst seit einem halben Jahr. Man sollte die Menschheit vor mir warnen. Aber ich verspreche Ihnen, dass mein Artikel über dieses Haus ganz nach Ihrem Geschmack sein wird.»

«Unsinn», sagte Marchent. «Ihre Herausgeberin sagt, Ihr Artikel über den Greenleaf-Mord hat zur Festnahme des Täters geführt. Sie sind ein sehr charmanter, bescheidener junger Mann.»

Reuben wusste nicht, ob er rot wurde. Warum schüttete er dieser Frau sein Herz aus? Sonst war es gar nicht seine Art, Freunde mit Selbstauskünften dieser Art zu bombardieren. Aber dieser Frau fühlte er sich auf unerklärliche Art verbunden.

«Für den Greenleaf-Artikel habe ich nicht mal einen Tag gebraucht», murmelte er. «Und das meiste, was ich über den Verdächtigen herausgefunden habe, ist nie gedruckt worden.»

Marchent fragte augenzwinkernd: «Wie alt sind Sie eigentlich, Reuben? Ich bin achtunddreißig.»

«Das sieht man Ihnen nicht an», sagte Reuben und meinte es so. Am liebsten hätte er gesagt: Sie sind perfekt. Tatsächlich sagte er: «Ich bin dreiundzwanzig.»

«Dreiundzwanzig? Dann sind Sie ja noch fast ein Kind.»

Klar. «Sonnyboy» nannte ihn ja sogar seine Freundin Celeste. «Kleiner» sagte sein großer Bruder Jim, der Priester. «Mein Baby» war er für seine Mutter, sogar wenn andere Leute dabei waren. Nur sein Vater nannte ihn Reuben, und wenn sie einander in die Augen sahen, hatte Reuben stets das Gefühl, dass sein Vater ihn so sah, wie er wirklich war. Dad, du solltest dieses Haus sehen! Es gibt keinen besseren Ort zum Schreiben, um seine Ruhe zu haben und sich von der spektakulären Landschaft inspirieren zu lassen.

Reuben steckte die klammen Hände in die Taschen und versuchte den scharfen Wind zu ignorieren, der ihm Tränen in die Augen trieb. Sie waren auf dem Rückweg und würden sich gleich bei einem Kaffee am Kamin von der Kälte erholen.

«Aber Sie sind viel zu groß, um noch ein Junge zu sein», sagte Marchent. «Außerdem sind Sie äußerst sensibel, Reuben. Es gehört schon was dazu, dieses gottverlassene Fleckchen Erde trotz dieser Kälte würdigen zu können. Mit dreiundzwanzig war ich am liebsten in New York oder Paris. Die großen Metropolen waren meins.» Sie hielt inne und sah Reuben an. «Was ist? Habe ich Sie beleidigt?»

«Nein, gar nicht.» Reuben hatte das Gefühl, schon wieder rot zu werden. «Ich rede zu viel über mich. Aber keine Sorge, Marchent, ich verliere den Artikel nicht aus den Augen. Buscheichen, Gräser, feuchte Erde, Farnkraut. Ich registriere alles.»

«Ich weiß. Nie wieder ist der Geist so aufnahmefähig wie in der Jugend», sagte Marchent. «Wir werden die nächsten zwei Tage miteinander verbringen, da möchte ich direkt sein. Sie schämen sich Ihrer Jugend, nicht wahr? Das ist nicht nötig. Sie sind ein attraktiver Mann, um ehrlich zu sein: der attraktivste, den ich je gesehen habe. Nein, nein, das meine ich ernst. Wer so aussieht, hat keinen Grund, schüchtern zu sein.»

Reuben schüttelte den Kopf. Marchent wusste ja nicht, was sie da sagte. Er hasste es, als attraktiv, hinreißend oder süß bezeichnet zu werden. «Was, wenn die Leute das nicht mehr sagen? Meinst du, dann fühlst du dich besser?», hatte Celeste einmal gefragt. «Hast du darüber schon mal nachgedacht? Was mich betrifft, Sonnyboy, wäre ich nicht mit dir zusammen, wenn du nicht so gut aussähst.» Es sollte ein Scherz sein, aber Celestes Scherze hatten oft einen bitteren Beigeschmack.

«Jetzt habe ich Sie doch beleidigt», sagte Marchent. «Bitte verzeihen Sie mir. Ich glaube, alle Normalsterblichen glorifizieren Menschen, die so gut aussehen wie Sie. Aber das Wesentliche an Ihnen ist, dass Sie ein Poet sind.»

Als sie die gepflasterte Terrasse erreichten, wurde es kühler. Der Wind hatte jetzt etwas Schneidendes, und die Sonne sank hinter silbernen Wolken langsam ins Meer.

Marchent blieb kurz stehen und schien um Atem zu ringen, aber Reuben war sich nicht sicher, ob das der Grund für ihr Zögern war. Der Wind ließ ihr Haar flattern, und sie legte die Hand schützend an die Stirn. Dann hob sie den Kopf und blickte zum obersten Fenster hinauf, als suchte sie dort etwas. Plötzlich kam sich Reuben wie das verlorenste Wesen der Welt vor, und ihm wurde schmerzhaft bewusst, wie abgeschieden und einsam dieser Ort war.

Das nächste Dorf, Nideck, war Kilometer entfernt, und wenn es hochkam, wohnten dort vielleicht zweihundert Menschen. Auf der Fahrt hatte er dort angehalten, aber die meisten Läden an der Hauptstraße waren geschlossen gewesen. Die einzige Pension stand zum Verkauf, und zwar schon «seit Ewigkeiten», wie der Tankwart sagte, aber Reuben solle sich keine Sorgen machen, es gebe hier kein Funkloch, Internet und Handys funktionierten hier einwandfrei.

Trotzdem kam ihm die Welt jenseits der windigen Terrasse in diesem Moment ganz unwirklich vor.

«Spukt es hier?», fragte er und folgte Marchents Blick zu dem obersten Fenster. «Sehen Sie Gespenster?»

«Dieses Haus braucht keine», sagte sie. «Die Zeiten sind so schon finster genug.»

«Es ist einfach ein wunderbares Haus», sagte Reuben. «Die Nidecks hatten einen ausgezeichneten Geschmack. Ich bin mir ganz sicher, dass Sie einen Käufer mit einer romantischen Ader finden, der es beispielsweise in ein einzigartiges, unvergessliches Hotel umfunktioniert.»

«Eine gute Idee. Andererseits: Warum sollte jemand ausgerechnet hier Urlaub machen? Der Strand ist nur ein schmaler Streifen und schwer zu erreichen. Die Redwoodbäume sind phantastisch, aber wer aus der Gegend von San Francisco nimmt eine Fahrt von vier Stunden auf sich, um Redwoodbäume zu sehen? Das kann man in Kalifornien einfacher haben. Und das Dorf haben Sie ja selber gesehen. Bei Licht betrachtet, gibt es hier weit und breit nichts als Kap Nideck, wie Sie es nennen. Manchmal habe ich Angst, dass selbst dieses Haus nicht mehr lange stehen wird.»

«Das dürfen Sie nicht sagen! Nicht mal denken. Wer würde denn so ein wunderbares Haus niederreißen?»

Marchent nahm seinen Arm, und sie gingen über den sandigen Plattenweg an Reubens Wagen vorbei zur Tür auf der anderen Seite des Hauses. «Wenn Sie in meinem Alter wären, würde ich mich in Sie verlieben», sagte sie. «Hätte ich früher einen so charmanten Mann kennengelernt, würde ich heute bestimmt nicht allein leben.»

«Warum eine Frau wie Sie allein lebt, kann ich nicht verstehen», sagte Reuben. Sie war die anmutigste und selbstsicherste Frau, die er kannte. Selbst nach ihrem Streifzug durch die Wildnis sah sie noch so elegant aus, als machte sie einen Einkaufsbummel am Rodeo Drive. Am linken Handgelenk trug sie ein schmales Perlenarmband, das ihren lässigen Bewegungen zusätzlichen Glanz verlieh, obwohl Reuben nicht genau sagen konnte, wie dieser Effekt zustande kam.

Nach Westen hin war das Gelände baumlos, daher war es nur zu verständlich, warum man den Blick in diese Richtung frei gehalten hatte. Inzwischen toste der Wind übers Meer, und grauer Nebel senkte sich über den Pazifik. Ich muss mich mit der Atmosphäre vertraut machen, dachte Reuben. Dazu gehört auch so eine Düsternis wie jetzt gerade. Es war, als fiele ein Schatten auf seine Seele, aber es war ein durchaus angenehmes Gefühl.

Er wollte dieses Haus haben, sein Leben an diesem Ort verbringen. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, die Zeitung hätte einen anderen Reporter hergeschickt, aber man hatte sich nun mal für ihn entschieden. Da hatte er wirklich Glück gehabt.

«Mein Gott, es wird ja beinahe sekündlich kälter», sagte Marchent, und beide beschleunigten ihre Schritte. «Ich hatte ganz vergessen, wie schnell das hier an der Küste geht. Obwohl ich damit aufgewachsen bin, überrascht es mich immer noch.» Doch dann blieb sie noch einmal stehen, um an der Fassade hochzusehen. Wieder sah es so aus, als suchte sie etwas oder jemanden. Dann legte sie wieder die Hand an die Stirn und blickte in den heraufziehenden Nebel.

Bestimmt würde sie es eines Tages bereuen, dass sie sich entschlossen hatte, das Haus zu verkaufen, dachte Reuben. Doch es schien nötig zu sein. Und schließlich hatte er nicht über ihre Gefühle zu entscheiden.

Trotzdem war es ihm peinlich, dass er genug Geld hatte, um das Haus zu kaufen, und er hatte das Gefühl, dass er ausdrücklich erklären sollte, warum er kein Gebot abgab. Aber das wäre einfach zu unhöflich gewesen. Und abgesehen davon war er in Gedanken immer noch am Kalkulieren und Phantasieren.

Die Wolken wurden dichter und dunkler, und die Luftfeuchtigkeit war hoch. Wieder folgte Reuben Marchents Blick die mittlerweile ganz im Dunkeln liegende Hausfassade hinauf. Die rautenförmigen bleiverglasten Fenster glänzten, und die gigantischen Redwoodbäume hinter der Ostseite des Hauses kamen ihm völlig überdimensioniert vor.

«Was denken Sie gerade?», fragte Marchent.

«Oh, nichts Besonderes. Ich habe gerade zu den Redwoodbäumen hinübergesehen. Sie lösen in mir immer ganz merkwürdige Gefühle aus. Neben ihnen wird alles andere so klein. Als würden sie sagen: ‹Wir waren schon da, bevor der erste Mensch hier an Land ging, und wir werden immer noch hier sein, wenn ihr und eure Häuser längst verschwunden seid.›»

Marchent lächelte, aber sie sah traurig aus, als sie sagte: «Das stimmt. Mein Onkel Felix hat diese Bäume sehr geliebt. Er hat dafür gesorgt, dass sie nicht gefällt werden dürfen.»

«Gott sei Dank», murmelte Reuben. «Es läuft mir immer kalt den Rücken herunter, wenn ich alte Fotos sehe, auf denen Holzfäller in den Redwoodwäldern arbeiten und tausend Jahre alte Baumriesen vernichten. Stellen Sie sich das bloß mal vor: tausend Jahre!»

«Genau das hat Onkel Felix auch gesagt, fast wörtlich.»

«Er würde auch nicht wollen, dass das Haus abgerissen wird, nicht wahr?» Sofort bereute Reuben, was er gesagt hatte. «Entschuldigen Sie bitte. Das hätte ich nicht sagen sollen.»

«Aber Sie haben absolut recht. Das hätte er ganz sicher nicht gewollt. Er hat dieses Haus sehr geliebt. Er hatte gerade angefangen, es zu renovieren, als er verschwand.»

Mit einem merkwürdig sehnsüchtigen Blick wandte Marchent sich ab.

«Wir werden wohl nie erfahren, was passiert ist», sagte sie seufzend.

«Was meinen Sie damit, Marchent?»

«Nun ja … wie mein Onkel verschwunden ist.» Sie lachte bitter auf. «So ein Unsinn! Verschwunden! Wahrscheinlich ist er völlig zu Recht für tot erklärt worden. Trotzdem kommt es mir so vor, als würde ich ihn verraten, wenn ich das Haus verkaufe oder Dinge sage wie: ‹Wir wissen nicht, was passiert ist, aber er wird ganz gewiss nie wieder durch diese Tür gehen.›»

«Verstehe», sagte Reuben leise. Er hatte keinerlei Gefühl für den Tod und konnte sich darunter nichts vorstellen. Seine Mutter, sein Vater, sein Bruder und seine Freundin hatten ihm das oft vorgehalten. Seine Mutter war die gute Seele der Abteilung für Traumapatienten am General Hospital von San Francisco, und seine Freundin kannte die dunkle Seite der Menschen von ihrer Arbeit als Staatsanwältin, während sein Vater den Tod sogar in fallendem Laub sah.

Er selbst hatte sechs Artikel über zwei Mordfälle geschrieben, und beide Frauen seines Lebens hatten diese Artikel erst in den Himmel gelobt und ihm dann Vorträge darüber gehalten, was er alles nicht begriffen hatte.

Eine Bemerkung seines Vaters kam ihm in den Sinn. «Du bist ziemlich naiv, Reuben, aber das Leben wird dich früh genug lehren, was du wissen musst.» Er sagte oft ungewöhnliche Dinge. Erst am Vortag hatte er beim Essen gesagt: «Es vergeht kein Tag, an dem ich keine universelle Frage stelle. Was ist der Sinn des Lebens? Hat es überhaupt einen? Oder ist alles nur Schall und Rauch? Sind wir alle verdammt?»

Und später hatte Celeste gesagt: «Ich weiß, warum nichts wirklich zu dir durchdringt, Sonnyboy. Deine Mutter schildert ihre Operationen in allen unappetitlichen Einzelheiten, während sie einen Krabbencocktail löffelt, und dein Vater spricht nur von absolut bedeutungslosen Dingen. Ich wünschte, ich könnte das so locker nehmen wie du. Jedenfalls ist es ein gutes Gefühl, dich an meiner Seite zu haben.»

Aber war es auch für ihn ein gutes Gefühl? Nein. Kein bisschen. Trotzdem musste man Celeste zugutehalten, dass sie viel liebenswürdiger und netter war, als man meinen könnte, wenn man sie nur reden hörte. Sie war eine knallharte Staatsanwältin, ein Meter sechsundfünfzig pures Dynamit, aber wenn sie mit ihm zusammen war, war sie anschmiegsam und einfach nur süß. Sie achtete darauf, wie er sich kleidete, und rief stets zurück, wenn er sie mal nicht erreichen konnte. Wenn er fachliche Fragen hatte, die sie nicht selbst beantworten konnte, setzte sie ihn umgehend mit kompetenten Kollegen in Verbindung. Trotzdem war ihre Art zu reden oft harsch und zynisch.

Plötzlich hatte Reuben das Gefühl, dass das Haus etwas Düsteres, Tragisches ausstrahlte, und er wollte dahinterkommen, was es war, denn in erster Linie erinnerte es ihn an Cellomusik, tiefe, volltönende, etwas raue und vor allem klare Cellomusik. Es war, als spräche das Haus zu ihm – oder als würde es das tun, sobald er aufhörte, die Stimmen von zu Hause im Ohr zu haben.

Sein Handy vibrierte in seiner Tasche. Ohne den Blick vom Haus abzuwenden, schaltete er es aus.

«Meine Güte, wie Sie aussehen!», sagte Marchent. «Sie frieren ja! Wie gedankenlos von mir. Kommen Sie, wir gehen rein.»

«Halb so schlimm», sagte Reuben. «In Russian Hill schlafe ich immer bei offenem Fenster. Ich bin solche Temperaturen gewohnt.»

Er folgte ihr die Stufen hinauf und durch die massive, gewölbte Tür.

Angenehme Wärme schlug ihnen entgegen, obwohl sie in einer riesigen Diele mit hohen Deckenbalken standen, von der in lichter Höhe endlose holzgetäfelte Flure abgingen, die sich im Zwielicht verloren.

An der gegenüberliegenden Wand loderte ein Feuer in einem höhlenartigen Kamin. Davor standen alte, unförmige Sofas und Sessel.

Die brennenden Eichenscheite hatte Reuben schon auf der Wanderung gerochen. Der Geruch war ihm ab und zu angenehm in die Nase gestiegen.

Marchent führte ihn zu dem Samtsofa, das dem Kamin am nächsten stand. Auf einem großen marmornen Couchtisch stand ein silbernes Kaffeeservice.

«Wärmen Sie sich auf», sagte sie und stellte sich selbst mit ausgestreckten Händen ans Feuer.

Die großen alten Kaminböcke waren aus Messing, das Kamingitter schmiedeeisern, die Kaminziegel schwarz.

Marchent drehte sich um und ging fast lautlos über die alten, abgewetzten Orientteppiche und schaltete einige Lampen an, die überall im Raum verteilt waren. Nach und nach wurde es hell und freundlich.

Die Sitzmöbel waren trotz ihrer enormen Ausmaße bequem und die zerschlissenen Schonbezüge praktisch. Hier und da standen karamellfarbene Lederstühle. Etliche altmodische Bronzestatuen stellten mythologische Figuren dar. An den Wänden hingen alte, nachgedunkelte Landschaftsgemälde in schweren Goldrahmen.

Es wurde so warm, dass Reuben kurz davor war, Jacke und Schal abzulegen.

Er blickte auf die alte, dunkle Holztäfelung über dem Kamin, die mit klassischen Schnitzereien verziert war, genau wie die der anderen Wände. Der Kamin war von Bücherschränken eingerahmt, in denen große alte Lederbände, Bücher mit Leinenrücken und sogar Taschenbücher standen. Hinter Reuben, an der Ostseite des Hauses, schloss sich eine schöne alte Bibliothek an, ebenfalls holzgetäfelt. Schon immer hatte er davon geträumt, einmal so eine Bibliothek zu besitzen. Auch dort schien ein Kaminfeuer zu brennen.

«Das ist ja atemberaubend», sagte er. Er stellte sich vor, wie sein Vater dort säße, seine Gedichte durchsähe und sich endlose Notizen machte. Er würde diese Bibliothek lieben. Es war der ideale Ort, um über universelle Fragen nachzudenken.

Seine Mutter würde sich hier allerdings nicht wohlfühlen. Aber warum eigentlich nicht? Seine Eltern liebten einander, waren aber grundverschieden. Phil versuchte, Grace’ Arztfreunde zu ertragen, und in ihren Augen waren seine wenigen Akademikerfreunde von früher schreckliche Langweiler. Gedichte verabscheute Grace aus grundsätzlichen Erwägungen, genau wie die Filme, die Phil mochte. Wenn er auf einer Dinnerparty seine Meinung über irgendetwas äußerte, wechselte sie das Thema, wandte sich ihrem Tischnachbarn zu, verließ den Raum, um noch eine Flasche Wein zu holen, oder begann zu husten.

Sie tat das nicht, um ihn zu verletzen, denn so war sie nicht. Vielmehr stürzte sie sich voller Elan auf Dinge, die sie liebte, und sie vergötterte Reuben. Er war sich darüber bewusst, dass sie ihm mehr Selbstvertrauen gegeben hatte, als die meisten Menschen aus ihrem Elternhaus mitbekamen. Nur seinen Vater konnte sie manchmal schwer ertragen, was Reuben oft sogar verstehen konnte.

In letzter Zeit war es jedoch immer schwieriger geworden, die Spannungen auszuhalten, weil seine Mutter nicht zu altern schien, vor Energie sprühte und ihren Beruf so engagiert wie eh und je ausübte, während sein Vater alt und verbraucht war. Celeste hatte sich schnell mit seiner Mutter angefreundet («Wir beide sind Powerfrauen!»), und gelegentlich traf sie sich mit ihr sogar zum Mittagessen, während sie seinen Vater, den «alten Mann», wie sie ihn nannte, ignorierte. Manchmal fragte sie Reuben warnend: «Willst du etwa wie er werden?»

Was meinst du, Dad, würde es dir hier gefallen?, dachte Reuben. Wir könnten zwischen den Redwoodbäumen spazieren gehen und das verwahrloste Gästehaus instand setzen, für deine Dichterfreunde. Andererseits ist das Haus so groß, dass sie auch dort übernachten könnten. Sie könnten hier regelrechte Symposien abhalten, und Mom könnte herkommen, wann immer sie Lust hat.

Aber wahrscheinlich würde sie nie kommen.

Reuben sah kurz auf und sagte sich, dass er seine Phantasie zügeln sollte. Schließlich war er gekommen, um Marchent Fragen zu stellen. Die aber blickte nachdenklich ins Feuer und schien es nicht eilig zu haben, das Gespräch fortzusetzen. Also hing auch er weiter seinen Gedanken nach.

«Nur dass ich es richtig verstehe», würde Celeste sagen. «Ich arbeite sieben Tage die Woche, und du hast einen Job in San Francisco. Willst du jetzt etwa jeden Tag vier Stunden zur Arbeit fahren?»

Es wäre die letzte große Enttäuschung, die er ihr bereitete. Die erste war, dass er nicht wusste, wer er war. Sie hatte ihr Jurastudium in Rekordzeit absolviert und mit zweiundzwanzig die Zulassung zum Gericht bekommen. Er dagegen hatte sein Studium geschmissen, weil er nicht genug Scheine in einer Fremdsprache vorweisen konnte und im Übrigen ohnehin keinen Lebensplan hatte. Lieber hörte er sich Opern an, las Gedichte und Abenteuerromane, reiste alle paar Monate nach Europa und raste mit seinem Porsche jenseits des Tempolimits durch die Gegend – immer auf der Suche nach seinem wahren Ich. Genauso hatte er das einmal zu ihr gesagt, und sie hatte gelacht. Beide hatten sie gelacht. «Wenn du meinst, dass du so ans Ziel kommst, Sonnyboy …», hatte sie gesagt. «Ich dagegen habe jetzt einen Termin bei Gericht.»

Marchent probierte den Kaffee. «Heiß genug», sagte sie.

Sie schenkte Reuben etwas in eine Porzellantasse und zeigte auf das silberne Milchkännchen und das silberne Zuckerschälchen. Alles hier war so geschmackvoll, so kultiviert. Aber Celeste würde es wahrscheinlich spießig finden, und seine Mutter hätte bestimmt überhaupt keinen Blick dafür. Grace hatte eine Abneigung gegen alles Häusliche, außer Festessen. Und für Celeste war die Küche ein Ort, an dem man Cola light aufbewahrte. Seinem Vater hingegen gefiel es hier gewiss. Er wusste über so vieles Bescheid, unter anderem über Silber- und Porzellangeschirr, die Geschichte der Gabel, Weihnachtsbräuche in aller Welt, die Geschichte der Mode, Kuckucksuhren, Wale, Weine und Baustile. Reubens Spitzname für ihn war «Miniver Cheevy», nach dem romantischen Helden aus einem Gedicht Edwin Arlington Robinsons, der sein Leben damit verbrachte, sich in vergangene Epochen zu träumen.

Tatsache war, dass Reuben sehr schätzte, was er hier zu sehen bekam, vom überdimensionalen Kamin bis zu den kunstvollen Buchstützen.

«Und was brütet Ihr Dichterhirn jetzt gerade aus?», fragte Marchent.

«Ach … Die Deckenbalken, sie sind riesig, vielleicht die längsten, die ich je gesehen habe. Und dann die Perserteppiche mit dem typischen Blumendekor … Nur der kleine Gebetsteppich dort ist nicht persisch. Unter diesem Dach wohnt bestimmt kein böser Geist.»

«Keine negative Energie, meinen Sie? Da haben Sie recht. Aber Sie können sicher verstehen, dass ich immer um Onkel Felix trauern würde, wenn ich hierbliebe. Er war ein bemerkenswerter Mann. Inzwischen ist mir übrigens wieder eingefallen, wie das mit seinem Verschwinden damals war. Ich war achtzehn, als er hier aus der Haustür ging, um nach Vorderasien zu reisen.»

«Warum Vorderasien?», fragte Reuben. «Was wollte er dort?»

«An einer archäologischen Grabung teilnehmen. Das tat er oft. Das letzte Mal sollte es in den Irak gehen. So wie ich es verstanden hatte, ging es um die Ausgrabung einer antiken Stadt, die gerade entdeckt worden war und so alt wie Mari oder Uruk sein sollte. Aber ob das stimmt, habe ich nie herausgefunden. Jedenfalls war er vor der Reise ganz aufgeregt, was ungewöhnlich war. Wochenlang hatte er mit Freunden in aller Welt telefoniert. Damals habe ich mir nicht viel dabei gedacht. Er verreiste oft und kam immer wieder zurück. Wenn es nicht gerade um eine Ausgrabung ging, war es eine Bibliothek irgendwo auf der Welt, wo einer seiner zahlreichen Gelehrtenfreunde ein altes Manuskript aufgestöbert hatte, das noch nie katalogisiert worden war. Dutzende arbeiteten für ihn, und ständig schickten sie ihm ihre Forschungsergebnisse. Er lebte losgelöst in seiner eigenen Welt.»

«Er muss Aufzeichnungen hinterlassen haben, wenn er so sehr mit diesen Dingen beschäftigt war», sagte Reuben.

«Aufzeichnungen? Sie machen sich ja kein Bild davon, wie viele! Die Zimmer oben sind voll davon. Manuskripte, Ordner, zerfledderte Bücher … All das müsste einmal durchgesehen werden, und jemand müsste entscheiden, was mit all dem Zeug passieren soll. Aber sollte das Haus morgen verkauft werden, würde ich alles in ein gutklimatisiertes Lagerhaus schaffen lassen und mich später in Ruhe um die Sachen kümmern.»

«Was genau hat er denn erforscht? War er auf der Suche nach etwas Bestimmtem?»

«Er hat nie darüber gesprochen. Einmal hat er gesagt: ‹Die Welt braucht Beweise. So viel ist schon verloren gegangen.› Ich glaube aber, das hat er ganz allgemein gemeint. Jedenfalls weiß ich, dass er Ausgrabungen finanziert hat. Er hatte auch viel Kontakt zu Archäologie- und Geschichtsstudenten. Hier gab einer dem anderen die Klinke in die Hand. Vielen hat er Privatstipendien gegeben.»

«Das ist ja großartig», sagte Reuben. «Was für ein Leben!»

«Nun, er konnte es sich leisten. Er war ein reicher Mann, das wusste ich schon immer, aber erst als ich sein Erbe antrat, habe ich begriffen, wie reich er war. Soll ich Sie einmal herumführen?»

Die Bibliothek war großartig.

Reuben bewunderte die Büchersammlung, obwohl er sich sicher war, dass in diesem Zimmer kein Mensch je einen Brief geschrieben oder ein Buch gelesen hatte. Vielmehr schien es eine dieser Vorzeigebibliotheken zu sein. Marchent bestätigte seine Vermutung. Der antike französische Schreibtisch war auf Hochglanz poliert, seine Messingbeschläge strahlten wie aus purem Gold.

Die Regale reichten bis an die Decke und enthielten die wichtigsten Klassiker. Sie waren ledergebunden, und niemand wäre auf die Idee gekommen, sie in einen Rucksack zu packen oder in einem Flugzeug zu lesen. Es gab auch ein zwanzigbändiges Wörterbuch der englischen Sprache, eine alte Ausgabe der Encyclopaedia Britannica, großformatige Kunstbände, Atlanten und dicke Bücher, deren vergoldete Titel längst verblichen waren.

Es war ein ehrfurchteinflößender Raum. Reuben stellte sich vor, wie sein Vater hier am Schreibtisch saß, während es draußen, hinter den bleiverglasten Fenstern, langsam dunkel wurde, oder in dem Plüschsessel am Fenster saß und las. Die Fenster auf der Ostseite des Hauses erstreckten sich über mindestens neun Meter.

Inzwischen war es so dunkel geworden, dass man den Wald nicht mehr sehen konnte, aber am Morgen würde man direkt hineinblicken. Reuben kam immer mehr zu der Überzeugung, dass dieses hier Phils Zimmer sein müsste, sollte er das Haus je kaufen. Bestimmt würde sein Vater ihm sogar zum Kauf raten, wenn Reuben ihm nur diese Bibliothek beschrieb. Sein Blick fiel auf das Eichenparkett mit den großen, quadratischen Intarsien und die alte Bahnhofsuhr an der Wand.

Rote Samtvorhänge wurden von Messingstangen gehalten. Über dem Kamin hing ein großes Foto, das eine Gruppe von sechs Männern zeigte. Alle trugen Khakianzüge, hinter ihnen waren Bananenstauden und Tropenbäume zu sehen. Das Foto musste mit einer Planfilmkamera aufgenommen worden sein, denn es war gestochen scharf. Erst heute, im digitalen Zeitalter, konnte man Fotos so stark vergrößern, ohne die Qualität zu mindern. Das Foto hier war aber nicht bearbeitet oder retuschiert worden. Sogar die Fasern der Bananenblätter sahen aus wie eingraviert. Die feinsten Knitterfalten in den Jacken der Männer waren zu erkennen, genau wie der Staub auf ihren Stiefeln.

Zwei von ihnen trugen Gewehre, die anderen standen mit leeren Händen lässig herum.

«Ich habe es von einem kleineren Foto anfertigen lassen», sagte Marchent. «Es war ziemlich teuer, aber ich wollte kein Gemälde von meinem Onkel haben, sondern ein authentisches Foto. Deswegen habe ich mich für dieses Format entschieden, eins zwanzig mal eins achtzig. Sehen Sie den Mann in der Mitte? Das ist Onkel Felix. Es war das einzige aktuelle Foto, das ich vor seinem Verschwinden von ihm hatte.»

Reuben sah es sich genauer an.

Die Namen der Männer standen in schwarzer Tinte auf dem unteren Rand, aber Reuben konnte sie schlecht lesen.

Marchent schaltete den Kronleuchter an, und nun sah Reuben ihren Onkel Felix klar und deutlich. Er war ein gutaussehender Mann mit dunkler Haut und dunklem Haar, groß und schlank. Er hatte die gleichen feingliedrigen Hände, die Reuben an Marchent so bewunderte, und auch das Lächeln der beiden ähnelte sich. Er schien ein liebenswürdiger Mensch zu sein, mit einer fast kindlichen Neugier und Begeisterungsfähigkeit. Sein Alter war schwer zu schätzen, es musste irgendwo zwischen zwanzig und fünfunddreißig liegen, obwohl er dem Erzählen nach älter gewesen sein musste.

Auch die anderen Männer sahen interessant aus, wenn auch ernster. Der Mann ganz links war so groß wie die anderen, aber er trug sein Haar schulterlang, und ohne seinen Khakianzug hätte man ihn für einen Büffeljäger im Wilden Westen halten können. Sein Gesicht schien regelrecht zu leuchten und erinnerte an die verträumte Figur eines Rembrandtgemäldes, auf die ein geheimnisvolles, beinahe göttliches Licht fällt.

Marchent beobachtete Reuben und folgte seinem Blick. «O ja, der», sagte sie. «Ein imposanter Typ, was? Er war Felix’ bester Freund und Mentor. Margon Sperver. Onkel Felix nannte ihn einfach nur Margon – und manchmal Margon, den Gottlosen, aber ich weiß nicht, warum. Margon hat immer darüber gelacht. Laut Felix war er der geborene Lehrer. Wenn mein Onkel eine Frage nicht selbst beantworten konnte, sagte er: ‹Vielleicht weiß es der Lehrer.› Und dann griff er zum Telefon und rief Margon, den Gottlosen, an, in welchem Winkel der Welt der auch gerade stecken mochte. Hier im Haus gibt es ein paar Tausend Fotos von diesen Männern, Sergej, Margon, Frank Vandover und den anderen. Sie waren die engsten Vertrauten meines Onkels.»

«Und Sie konnten keinen von ihnen erreichen, als er verschwunden war?»

«Nicht einen. Aber wir haben ja auch erst ein Jahr nach seiner Abreise mit der Suche begonnen. Bis dahin dachten wir, er würde sich bald melden. Manchmal waren seine Reisen kürzer, aber dann wieder ging er für längere Zeit in Länder wie Äthiopien oder Indien, wo wir ihn nicht erreichen konnten. Einmal hat er sich eineinhalb Jahre nach seiner Abreise von einer Südseeinsel gemeldet. Mein Vater hat ihm dann ein Flugzeug geschickt, um ihn abzuholen. Aber um auf Ihre Frage zurückzukommen: Dass ich keinen seiner Freunde finden konnte, nicht einmal Margon, seinen Mentor, hat alles nur noch schlimmer gemacht.»

Marchent seufzte und schien plötzlich sehr müde zu sein. Dann sagte sie leise: «Zuerst hat mein Vater nicht mit Nachdruck gesucht. Kurz nach Felix’ Verschwinden war er zu viel Geld gekommen, und zum ersten Mal war er richtig glücklich. Ich glaube, er wollte dieses Glück nicht schmälern, indem er groß über Felix’ Schicksal nachdachte. ‹Felix, immer nur Felix›, sagte er ungehalten, wenn ich nach ihm fragte. Meine Mutter und er wollten das Erbe genießen, das ihnen, glaube ich, irgendeine Tante vermacht hatte.»

Es war ihr deutlich anzumerken, dass es sie Überwindung kostete, über diese Dinge zu sprechen. Reuben streckte die Arme aus – langsam, um sie nicht zu erschrecken – und zog sie an sich. Dann küsste er sie so auf die Wange, wie sie es am Nachmittag bei ihm getan hatte.

Einen Moment lang schmiegte sie sich an ihn, küsste ihn kurz auf die Lippen und sagte, sie fände ihn ganz reizend.

«Was für eine erschütternde Geschichte», sagte er.

«Sie sind ein merkwürdiger Bursche, so jung und zugleich so alt.»

«Na, hoffentlich», sagte er.

«Und dann Ihr Lächeln! Warum zeigen Sie es so selten?»

«Tu ich das? Tut mir leid.»

«Sie haben recht, es ist wirklich eine erschütternde Geschichte.» Marchent betrachtete wieder das Foto. «Das ist Sergej», sagte sie und zeigte auf einen großen blonden Mann mit hellen Augen, der ganz verträumt oder gedankenverloren dastand. «Ich glaube, ihn kannte ich am besten. Die anderen kannte ich nicht so gut. Zuerst war ich davon überzeugt, dass ich Margon finden würde. Die Telefonnummern, die ich in Felix’ Unterlagen fand, gehörten zu Hotels in Asien und dem Nahen Osten. Dort kannte man Margon natürlich, aber niemand wusste, wo er steckte. Dann habe ich alle Hotels in Kairo und Alexandria abtelefoniert, und wenn ich mich recht erinnere, auch in Damaskus. Onkel Felix und Margon waren oft in Damaskus gewesen, weil es dort ein altes Kloster gab, in dem unbekannte Manuskripte aufgetaucht waren. Die alten Manuskripte befinden sich hier in den oberen Zimmern, ich weiß genau, wo sie liegen.»

«Wie alt sind sie denn? Vielleicht sind sie ein Vermögen wert», sagte Reuben.

«Kann schon sein, aber das interessiert mich nicht. Ich fühle mich für sie verantwortlich, aber ich weiß nicht, was ich damit tun soll. Sie müssen erhalten werden, aber wie? Was würde Felix wollen? Er war sehr kritisch gegenüber manchen Museen und Bibliotheken. Wohin würde er diese Dokumente geben? Seine früheren Studenten hätten dazu natürlich gern Zugang. Sie haben nie aufgehört, anzurufen und danach zu fragen. Aber so etwas will gut überlegt sein. Es sind Schätze, die mit Sachverstand archiviert und gepflegt werden müssen.»

«Das ist wahr. Ich habe viel Zeit in den Bibliotheken von Berkeley und Stanford verbracht», sagte Reuben. «Hat er selbst auch Bücher veröffentlicht? Ich meine über seine Funde?»

«Nicht dass ich wüsste.»

«Glauben Sie denn, dass Felix und Margon die letzte Reise zusammen gemacht haben?»

Marchent nickte. «Was immer passiert ist, hat beide getroffen. Mein schlimmster Albtraum ist, dass allen das Gleiche passiert ist.»

«Allen sechs?»

«Genau. Schließlich hat sich keiner von ihnen je wieder gemeldet und nach Felix gefragt. Zumindest weiß ich nichts davon. Es kamen auch keine Briefe mehr, dabei hat es vorher eine rege Korrespondenz gegeben. Ich habe viel Zeit und Mühe investiert, um sie zu finden, aber als ich ihre alten Briefe endlich aufgestöbert hatte, enthielten sie keine Absender, jedenfalls keine identifizierbaren, und so erwies sich auch das als Sackgasse.»

Reuben versuchte zu begreifen, was das zu bedeuten hatte, und fragte: «Also sind alle wie vom Erdboden verschluckt?»

«Ganz genau.»

«Gibt es denn keine Aufzeichnungen über die Reise, die Felix machen wollte?»

«Doch, das nehme ich an. Aber niemand konnte seine privaten Aufzeichnungen je lesen, weil er dafür eine Art Geheimschrift erfunden hat. Niemand außer den anderen fünf konnte sie lesen. Sie haben alle diese Geheimschrift benutzt, jedenfalls hatte ich den Eindruck, als ich später ihre Briefe und Notizen fand. Sie haben sie nicht immer benutzt, aber offenbar beherrschten sie sie alle. Sie wird nicht mit lateinischen Buchstaben geschrieben. Ich kann sie Ihnen zeigen. Vor ein paar Jahren habe ich sogar ein Computergenie angeheuert, um den Code zu knacken, aber er konnte sich keinen Reim darauf machen.»

«Unglaublich. Meine Leser werden fasziniert sein. Das Haus könnte zu einer richtigen Touristenattraktion werden.»

«Aber es ist nichts Neues. Sie kennen doch die alten Artikel über Onkel Felix.»

«In den alten Artikeln geht es aber immer nur um Felix. Kein Wort von seinen Freunden. Was Sie mir hier erzählen, ist viel detaillierter. Es ist Stoff für einen Dreiteiler.»

«Klingt gut», sagte Marchent. «Schreiben Sie einfach, was Ihnen wichtig ist. Und wer weiß … Vielleicht weiß einer Ihrer Leser ja, was aus den sechs geworden ist.»

Das war tatsächlich möglich. Trotzdem wollte Reuben keine falschen Hoffnungen wecken, nachdem Marchent seit zwanzig Jahren mit dieser Tragödie gelebt hatte.

Sie führte ihn aus der Bibliothek.

Reuben sah sich noch einmal nach den beeindruckenden Männern auf dem Foto um. Wenn ich das Haus tatsächlich kaufe, dachte er, werde ich das Foto nicht abnehmen. Falls Marchent es mir überlässt oder ich mir eine Kopie anfertigen darf. Schließlich sollte Felix Nideck in irgendeiner Form in diesem Haus präsent bleiben.

«Sie würden dem neuen Eigentümer bestimmt nicht dieses Foto überlassen, oder?», fragte er.

«Doch, ich denke schon», sagte Marchent. «Ich habe es ja im Kleinformat. Das Haus steht mit dem gesamten Mobiliar zum Verkauf.» Sie machte eine ausladende Handbewegung, als sie durch die weitläufige Diele gingen. «Habe ich das nicht erwähnt? Kommen Sie, ich zeige Ihnen noch schnell den Wintergarten, bevor es Zeit zum Essen ist. Felice ist taub und fast blind, aber sie verfügt über eine innere Uhr und legt Wert auf Pünktlichkeit.»

«Es riecht schon nach Essen», sagte Reuben. «Köstlich.»

«Ein junges Mädchen aus dem Dorf geht ihr zur Hand. Die jungen Leute hier in der Gegend sind alle ganz wild darauf, dieses Haus von innen zu sehen, und verlangen kaum Geld, wenn man ihnen hier irgendeinen Job anbietet. Ich merke übrigens gerade, wie hungrig ich bin.»

Der Wintergarten im Westflügel war voller alter orientalischer Töpfe in phantastischen Farben, aber die Pflanzen darin waren verdorrt. Die gusseisernen Pfeiler, von denen die Glaskuppel gestützt wurde, waren weiß angemalt und erinnerten Reuben an ausgeblichene Knochen. In der Mitte des schwarzen Granitfußbodens befand sich ein Springbrunnen. Hierher wollte Reuben am Morgen noch einmal zurückkommen, wenn das Licht von drei Seiten hereinfiel. Jetzt war es hier nur feucht und kalt.

«Bei gutem Wetter hat man dort eine schöne Aussicht.» Marchent zeigte auf die Glastüren, die ins Freie führten. «Einmal wurde hier drinnen sogar eine Party gefeiert. Die Leute tanzten hier und auf der Terrasse, bis hinunter zu dem Geländer am Rand der Klippe. Felix’ Freunde waren alle da. Sergej Gorlagon sang russische Lieder und begeisterte alle damit. Auch Onkel Felix amüsierte sich königlich. Er bewunderte seinen Freund Sergej, ein wahrer Hüne. Felix lief immer zu Hochform auf, wenn gefeiert wurde. Er war ein geistreicher Unterhalter und ein wunderbarer Tänzer. Mein Vater dagegen hat immer nur darüber gejammert, was das wieder alles kostet.» Marchent zuckte mit den Schultern. «Ich muss das Haus noch reinigen lassen. Eigentlich hätte ich es tun sollen, bevor Sie kamen.»

«Ich kann mir gut vorstellen, was für ein schöner Raum das hier sein kann», sagte Reuben. «Überall stehen Kübel mit Orangenbäumchen und Bananenstauden, ausladende Ficusbäume reichen bis zur Glaskuppel, dazu Orchideenbäume und blühende Rankengewächse … Ich würde hier morgens die Zeitung lesen.»

Marchent lachte. «O nein, mein Lieber. Die Zeitung würden Sie in der Bibliothek lesen, das ist nämlich das Morgenzimmer. Hier aber hält man sich nachmittags auf, wenn die Sonne im Süden steht und alles mit Licht durchflutet. Und abends beobachtet man hier die Sonnenuntergänge. Wie kommen Sie übrigens auf Orchideenbäume?»

«Ich liebe sie», sagte Reuben. «In der Karibik habe ich welche gesehen. Als Nordlichter sehnen wir uns wohl alle nach den Tropen. Wir waren einmal in einem kleinen Hotel in New Orleans, eigentlich nur eine Frühstückspension im French Quarter, aber auch dort säumten Orchideenbäume den Pool. Die lila Blüten fielen hinein. Die ganze Wasseroberfläche war ein einziger lila Blütenteppich. So etwas Schönes hatte ich noch nie gesehen.»

«Sie sollten wirklich ein Haus wie dieses haben», sagte Marchent. Für einen Moment verdüsterte sich ihre Miene, aber dann lächelte sie wieder und drückte Reuben die Hand.

Ins weiß getäfelte Musikzimmer warfen sie nur einen kurzen Blick. Auch der Holzfußboden war weiß gestrichen. Der Flügel, sagte Marchent, habe die Luftfeuchtigkeit nicht vertragen und sei schon vor längerer Zeit entfernt worden. «Die Wandtäfelung und alles andere stammt aus einem Schloss in Frankreich.»

«Das glaube ich gern», sagte Reuben und bewunderte die Holzschnitzereien und das verblichene Blumendekor der Tapete. Dieses Zimmer würde Celeste gefallen, denn sie liebte Musik und spielte gern Klavier, wenn sie allein war. Sie nahm es zwar nicht besonders ernst, aber wenn Reuben in ihrer Wohnung aufwachte, spielte sie manchmal das kleine Spinett, das dort stand. Doch, das Musikzimmer würde ihr bestimmt gefallen.

Das große, düstere Esszimmer war eine Überraschung.

«Das ist kein Esszimmer, sondern ein Bankettsaal», sagte Reuben.

«Tatsächlich war es früher ein Ballsaal», sagte Marchent. «Aus der ganzen Umgebung kamen die Leute hierher, wenn ein Ball gegeben wurde. Als Kind war ich mal dabei.»

Genau wie in der Diele dominierte hier eine dunkle Holztäfelung unter der hohen Decke, die dunkelblau und mit Sternen bemalt war. Es war eine gewagte Dekoration, aber sie war äußerst effektvoll.

Sie gingen auf den Tisch zu. Er war mindestens sieben Meter lang, aber das Zimmer war so groß, dass er sich auf dem dunklen polierten Parkett fast verlor. Dann nahmen sie auf gegenüberliegenden, mit rotem Samt bezogenen Stühlen Platz.

An der Wand hinter Marchent standen zwei große schwarze Kredenzen im Stil der Neorenaissance, deren exquisite Schnitzereien Jagdszenen darstellten. Sie enthielten schweres Silbergeschirr, Trinkkelche und stapelweise Leinentücher, bei denen es sich offenbar um Tischdecken und Servietten handelte. Andere Großmöbel – Schränke und Truhen – standen in den nicht beleuchteten Bereichen des Zimmers und waren nicht genau zu erkennen.

Der riesige Kamin aus schwarzem Marmor war von zwei Ritterrüstungen eingefasst, und der Boden stellte eine mittelalterliche Kampfszene dar. Davon gab es bestimmt ein gut ausgeleuchtetes Foto, das Reuben für seinen Artikel verwenden konnte.

Abgesehen vom knisternden Feuer stellten zwei barocke Kandelaber die einzige Lichtquelle dar.

«In dieser Umgebung sehen Sie wie ein Fürst aus», sagte Marchent und lachte. «Als gehörten Sie hierher.»

«Eine nette Vorstellung», sagte Reuben. «Aber dann wären Sie eine Herzogin, und wir befänden uns in einem österreichischen Jagdschloss nahe Wien, nicht in Kalifornien.»

«Waren Sie schon mal in Wien?»

«Oft», sagte Reuben und dachte daran, wie Phil ihn durch Maria Theresias Schloss geführt hatte und über alles, was sie sahen, etwas zu erzählen wusste – von den Wandmalereien bis zu den prächtigen Kachelöfen. Ja, Phil würde von diesem Haus begeistert sein. Er würde es verstehen.

Sie aßen von altem, handbemaltem Porzellan. Manche Stücke waren beschädigt und wiesen Gebrauchsspuren auf, was ihre Schönheit aber nicht minderte. Das Silberbesteck war das schwerste, das Reuben je in den Händen gehalten hatte.

Felice, eine vom Alter gebeugte Frau mit dunkler Haut und weißem Haar, kam und ging, ohne ein Wort zu sagen. Das «junge Mädchen» aus dem Dorf, Nina, war ein robustes dunkelhaariges Persönchen, das von Marchent, dem Esszimmer und den Speisen, die es auf Silbertabletts hereinbrachte, ziemlich eingeschüchtert zu sein schien. Sie kicherte unsicher, seufzte und warf Reuben einen neugierigen Blick zu, als sie sich wieder entfernte.

«Sie scheinen einen Fan zu haben», flüsterte Marchent.

Das Rinderfilet war perfekt geschmort, das Gemüse frisch und nicht zerkocht, der Salat schmackhaft mit leichtem Öl und Kräutern angemacht.

Reuben trank mehr Rotwein, als er eigentlich vorgehabt hatte, aber der Wein war samtig und vollmundig und schien aus einer hervorragenden Lage zu stammen. Er aß auch zu viel. Das tat er immer, wenn er glücklich war, und das war er, sehr sogar.

Marchent erzählte mehr von der Geschichte des Hauses, die Reuben, so gut es ging, bereits recherchiert hatte, bevor er hergekommen war.

Marchents Urgroßvater, jener Felix Nideck, der das Haus erbaut hatte, war ein Holzbaron gewesen. Ihm gehörten zwei Sägemühlen an der Küste sowie ein kleinerer Hafen, den es schon lange nicht mehr gab. Das Holz für dieses Haus war in der Umgebung geschlagen und verarbeitet worden, während Marmor und Granit mit Schiffen angelandet worden waren. Die Steine für das Mauerwerk waren teils zu Lande, teils übers Wasser angeliefert worden.

«Das Geld der Nidecks stammte ursprünglich aus Europa», sagte Marchent. «Aber hier haben sie es beträchtlich vermehrt.»

Onkel Felix hatte den größten Teil davon geerbt, aber Marchents Vater, Abel, gehörten die Läden im Dorf, als Marchent noch ein Kind war. Die meisten Grundstücke an der Küste waren schon verkauft worden, bevor sie aufs College kam, aber nur wenige der neuen Eigentümer hatten dort gebaut.

«All das geschah, als Felix auf einer seiner ausgedehnten Reisen war. Mein Vater verkaufte die Läden und die Grundstücke am Wasser, und als Felix zurückkehrte, war er furchtbar wütend. Ich weiß noch, wie sie gestritten haben, aber die Sache war nicht mehr rückgängig zu machen.» Marchent seufzte. «Ich wünschte, mein Vater hätte sich mit Felix besser verstanden. Vielleicht hätte er dann eher nach ihm gesucht. Aber das alles ist ja nun Vergangenheit.»

Immer noch waren zwanzig Hektar rund ums Haus in Familienbesitz, einschließlich des Redwoodwalds, zahlloser Eichen und des bewaldeten Hügels, der im Westen zum Strand abfiel. Irgendwo dort im Wald, sagte Marchent, müsse es ganz hoch oben in den Wipfeln noch ein altes Baumhaus geben, das Felix gezimmert hatte. «Aber da war ich noch nie», sagte sie. «Meine jüngeren Brüder sagen, dass es sehr komfortabel ist, aber eigentlich hätten sie nicht hinaufsteigen dürfen, bevor Felix offiziell für tot erklärt worden war.»

Marchent wusste nicht viel mehr über die Familie als allgemein bekannt war – eine Familie, die die Geschichte der Region geprägt hatte. «Ich glaube, das Geld kam von Öl und Diamanten. Und dann gab es da noch Grundbesitz in der Schweiz.» Marchent zuckte mit den Schultern.

Ihr treuhänderisches Vermögen war konventionell angelegt und wurde in New York verwaltet, genau wie das ihrer jüngeren Brüder.

Bei der Testamentseröffnung hatte sich herausgestellt, dass große Summen bei der Bank of America und der Wells Fargo Bank lagen, und es war sehr viel mehr, als Marchent erwartet hatte.

«Dann müssten Sie das Haus eigentlich nicht verkaufen», sagte Reuben.

«Doch. Ich will frei sein», sagte sie und schloss kurz die Augen. Dann ballte sie eine Hand zur Faust und klopfte sich auf die Brust. «Ich muss wissen, dass es vorbei ist, verstehen Sie? Und dann sind da ja auch noch meine Brüder.» Mit verändertem Gesichtsausdruck und veränderter Stimme fuhr sie fort: «Sie sind ausbezahlt worden, damit sie das Testament nicht anfechten.» Dann zuckte sie wieder mit den Schultern und sagte traurig: «Trotzdem bestehen sie auf ‹ihren Anteil›.»

Reuben nickte, obwohl er es nicht wirklich verstand.

Ich werde versuchen, dieses Haus zu kaufen.

Inzwischen war er davon fast schon überzeugt, egal wie hoch die Renovierungs-, Heiz- und Reparaturkosten sein würden. Es gab Dinge, zu denen man einfach nicht Nein sagen konnte.

Doch damit wollte er jetzt noch nicht herausplatzen, zumal Marchent von dem Unfall zu erzählen begann, bei dem ihre Eltern ums Leben gekommen waren. Sie befanden sich auf dem Rückflug von Las Vegas. Ihr Vater war ein ausgezeichneter Pilot, und es war eine Strecke, die er schon hundertmal geflogen war.

«Vielleicht ging alles so schnell, dass sie es gar nicht richtig mitbekommen haben», sagte Marchent. «Es war so neblig, dass sie den Strommast nicht sehen konnten.»

Damals war Marchent achtundzwanzig gewesen. Felix war bereits seit zehn Jahren verschwunden, und so hatte man sie zum Vormund ihrer jüngeren Brüder erklärt. «Ich fürchte, ich habe es gründlich vermasselt», sagte sie. «Nach dem Unfall waren sie nicht mehr dieselben. Sie begannen zu trinken und Drogen zu nehmen und umgaben sich mit den fragwürdigsten Leuten. Ich wollte nach Paris zurück und habe mich nicht genug um sie gekümmert. So sind sie immer weiter abgerutscht.»

Sie waren sechzehn und siebzehn gewesen, als der Unfall passierte, und schon immer wie Zwillinge aufgetreten. Sie machten aus allem ein Geheimnis, hatten sogar eine Geheimsprache und behandelten andere so verächtlich, dass niemand es lange mit ihnen aushielt.

«Bis vor einigen Jahren hingen in diesem Zimmer sehr wertvolle impressionistische Gemälde», sagte Marchent. «Meine Brüder haben sie gestohlen. Als außer Felice niemand im Haus war, kamen sie her, nahmen sie von den Wänden und verhökerten sie weit unter Wert. Ich war furchtbar wütend, aber es war unmöglich, die Bilder zurückzubekommen. Später habe ich festgestellt, dass sie auch Teile des Tafelsilbers gestohlen hatten.»

«Das muss Sie sehr getroffen haben», sagte Reuben.

Marchent lachte. «Das kann man wohl sagen. Es ist furchtbar, dass die Sachen unwiederbringlich verschwunden sind und meine Brüder nicht einmal viel mehr davon hatten als eine Sauftour in Sausalito, die mit einer Razzia endete.»

Felice kam leise herein. Sie wirkte erschöpft und zerbrechlich, aber sie räumte den Tisch flink und geübt ab. Marchent stand auf, um das «junge Mädchen» auszubezahlen, dann kam sie zurück.

«War Felice schon immer hier?», fragte Reuben.

«O ja, zusammen mit ihrem Sohn, der letztes Jahr gestorben ist. Er hat sich um alles gekümmert, und er hasste meine Brüder. Dann wurde das Gästehaus zweimal in Brand gesteckt und mehrere Autos demoliert. Ich habe Leute von außerhalb eingestellt, aber sie waren hier fehl am Platz. Momentan gibt es keinen Verwalter oder Hausmeister, nur den alten Mr. Galton, der unten an der Straße wohnt. Er ist immer für uns da, wenn wir etwas brauchen. Erwähnen Sie das ruhig in Ihrem Artikel. Mr. Galton kennt dieses Haus wie seine Westentasche, auch den Wald. Wenn ich hier weggehe, nehme ich Felice mit. Für sie gibt es hier nichts mehr zu tun.»

Marchent hörte auf zu sprechen, als Felice den Nachtisch hereinbrachte – Kristallschalen mit Himbeeren, die in Sherry eingelegt waren.

«Felix hat Felice aus Jamaika mitgebracht», fuhr sie dann fort. «Zusammen mit jeder Menge Kunst- und Kultgegenständen. Wenn er von seinen Reisen zurückkehrte, hatte er immer neue Schätze dabei – eine olmekische Statue, ein Gemälde aus der Kolonialzeit Brasiliens oder eine mumifizierte Katze. Warten Sie ab, bis Sie die Gemäldegalerie und die Abstellkammern oben sehen. Es gibt kistenweise Tontafeln, die …»

«Moment mal!», sagte Reuben. «Doch nicht etwa antike Tontafeln aus Mesopotamien, mit babylonischer Keilschrift?»

Marchent lachte. «Doch, genau die.»

«Die müssen ja unbezahlbar sein», sagte Reuben. «Das ist eine eigene Reportage wert. Ich muss sie sehen. Sie zeigen sie mir doch, oder? Ich werde erst mal noch nichts darüber schreiben. Das würde nur vom eigentlichen Thema ablenken. In erster Linie geht es ja darum, das Haus zu verkaufen.»

«Ja, ich zeige Ihnen alles», sagte Marchent. «Sehr gern sogar. Jetzt, da wir drüber reden, kommt es mir nicht mehr so schwierig vor.»

«Vielleicht kann ich Ihnen behilflich sein, die Sachen zuzuordnen und zu sortieren. Als ich in Berkeley studiert habe, war ich in den Semesterferien öfter an Ausgrabungsstätten. Meine Mutter sagte immer, wenn ihr Sohn schon kein Arzt würde, sollte er wenigstens so viel Bildung wie möglich anhäufen. Deswegen hat sie mir Zugang zu verschiedenen Ausgrabungsstätten verschafft.»

«Hat es Ihnen gefallen?»

«Mir fehlte die nötige Geduld», gestand Reuben. «Aber es war interessant, vor allem Çatalhöyük in der Türkei, eine der ältesten Ausgrabungsstätten der Welt.»

«Ja, da war ich auch schon», sagte Marchent und strahlte. «Es ist wirklich großartig. Haben Sie auch Göbekli Tepe gesehen?»

«Ja, in meinem letzten Sommer in Berkeley. Ich habe darüber sogar etwas für eine Zeitschrift geschrieben. Dadurch habe ich meinen jetzigen Job bekommen. Im Ernst, Marchent, ich möchte alle Schätze sehen, die dieses Haus birgt! Und ich möchte helfen, mich darum zu kümmern, was daraus wird. Vorausgesetzt, es ist Ihnen recht. Was halten Sie davon, wenn ich eine Reportage daraus mache, sobald mit dem Verkauf alles in trockenen Tüchern ist, eine Reportage über das kulturhistorische Erbe des Felix Nideck? Wäre das in Ihrem Sinne?»

Einen Moment lang sah Marchent ihn ganz überwältigt an. Dann sagte sie: «Mehr als ich sagen kann.»

Ihre Reaktion berührte Reuben zutiefst. Celeste schnitt ihm immer das Wort ab, wenn er über seine Ausflüge in die Archäologie sprach, und sagte Dinge wie: «Und was hat dir das gebracht, Reuben? Was hast du von diesen Ausgrabungen mitgenommen?»

«Wollten Sie nie Arzt werden, wie Ihre Mutter?», fragte Marchent.

Reuben lachte. «Ich kann mir dieses naturwissenschaftliche Zeug nicht merken», sagte er. «Ich kann Dickens und Shakespeare und Chaucer und Stendhal zitieren, aber alles, was ich über die Stringtheorie, DNA oder Schwarze Löcher erfahre, vergesse ich sofort wieder. Dabei habe ich versucht, mich mit diesen Dingen zu beschäftigen. Aber es nützt nichts. Deswegen könnte ich niemals Arzt sein. Außerdem bin ich einmal in Ohnmacht gefallen, als ich Blut sah.»

Marchent lachte, ohne ihn auszulachen.

«Meine Mutter ist Unfallchirurgin. Sie führt jeden Tag fünf oder sechs Operationen durch.»

«Und sie ist enttäuscht, dass Sie nicht Medizin studiert haben.»

«Genau. Aber nicht so enttäuscht wie über meinen älteren Bruder Jim. Dass er Priester geworden ist, war der eigentliche Schlag. Wir sind zwar katholisch, aber das hätte meine Mutter nie gedacht. Ich habe meine eigene Theorie, warum er sich dazu entschlossen hat. Ich glaube, es ist etwas Psychisches. Aber er ist ein guter Priester. Er arbeitet in der Kirche St. Francis at Gubbio in San Francisco und leitet eine Tafel für Obdachlose. Er arbeitet mehr als meine Mutter. So viel wie die beiden arbeitet niemand, den ich kenne.» Celeste wäre in dieser Hitliste die Nummer drei.

Sie unterhielten sich über verschiedene Ausgrabungen. Reuben war noch nie der akribische Typ gewesen und deshalb nicht besonders gut darin, Tonscherben zu analysieren. Aber er konnte sich dafür begeistern. Er war erpicht darauf, die Tontafeln zu sehen.

Zunächst setzten sie ihr Gespräch aber fort. Marchent beklagte ihr «Versagen» gegenüber ihren Brüdern, die sich nie für das Haus oder Felix interessiert hätten, geschweige denn für Felix’ Nachlass.

«Nach dem Tod meiner Eltern wusste ich nicht, was ich tun sollte», sagte sie, stand auf und ging an den Kamin, um die Holzscheite so lange umzuschichten, bis die Flammen wieder aufloderten. «Zu dem Zeitpunkt hatten meine Brüder bereits fünf Internate durch. Einmal waren sie wegen Alkoholmissbrauchs rausgeschmissen worden, ein anderes Mal wegen Drogenkonsums, das dritte Mal wegen Drogenhandels.»

Sie kam an den Tisch zurück, und Felice brachte noch ein Viertel des hervorragenden Weins.

Dann erzählte Marchent vertrauensvoll weiter. «Es gibt kaum eine Entzugsklinik, die sie nicht von innen kennen, hier und auch im Ausland. Sie wissen ganz genau, was sie einem Richter erzählen müssen, um nicht eingesperrt, sondern in eine Klinik geschickt zu werden. Und wenn sie das geschafft haben, wissen sie auch, was sie den Therapeuten erzählen müssen. Es ist erstaunlich, wie sie es immer wieder schaffen, das Vertrauen der Ärzte zu gewinnen. Und natürlich nutzen sie ihre Klinikaufenthalte, um alles an Psychopharmaka zu klauen, was sie in die Finger kriegen können, bevor sie entlassen werden.»

Plötzlich sah sie besorgt auf und sagte: «Reuben, darüber werden Sie doch nicht schreiben, oder?»

«Niemals», sagte Reuben. «Aber den meisten Journalisten können Sie nicht trauen. Ich hoffe, das ist Ihnen klar.»

«Mehr oder weniger», erwiderte sie.

«Ein guter Freund von mir in Berkeley ist an einer Überdosis gestorben. Bei der Gelegenheit habe ich meine Freundin kennengelernt, Celeste. Er war ihr Bruder. Er war jemand, der alles hatte, was man sich nur wünschen konnte. Doch dann wurde er süchtig und verreckte wie ein Hund in der Toilette einer Nachtbar, und man konnte nichts mehr für ihn tun.»

Manchmal dachte Reuben, dass es Willies Tod war, der ihn und Celeste zusammenschweißte. Zumindest war es eine Zeitlang so gewesen. Nach Berkeley hatte Celeste in Stanford Jura studiert und gleich nach dem Examen einen Job bei der Staatsanwaltschaft bekommen. Willies Tod verlieh ihrer Beziehung einen gewissen Ernst, war wie eine Begleitmusik in Moll.

«Man weiß einfach nicht, warum manche Menschen den Drogen verfallen», sagte Reuben. «Willie zum Beispiel war brillant, aber die Drogen hatten ihn voll im Griff. Auch seine Freunde haben mit Drogen experimentiert, aber sie sind wieder davon losgekommen, während er dem Zeug völlig ausgeliefert war und schließlich unterging.»

«Wie bei mir», sagte Marchent. «Zu irgendeinem Zeitpunkt habe ich auch alles genommen, was meine Brüder nahmen, aber es gab mir nichts, und so habe ich wieder aufgehört.»

«Mir geht’s genauso.»

«Natürlich sind meine Brüder furchtbar wütend, dass ich alles geerbt habe. Aber sie waren noch Kinder, als Onkel Felix seine letzte Reise antrat. Wäre er zurückgekehrt, hätte er sein Testament bestimmt noch geändert und auch ihnen etwas vermacht.»

«Hatten sie denn nichts von Ihren Eltern geerbt?»

«Doch, natürlich. Auch von unseren Groß- und Urgroßeltern. Aber sie haben alles in null Komma nichts durchgebracht, mit Partys für Hunderte von Leuten und der Unterstützung von Rockbands, die ebenfalls Junkies waren und nicht die geringsten Erfolgsaussichten hatten. Wenn sie betrunken sind, fahren sie ihre Autos zu Schrott und steigen ohne den kleinsten Kratzer aus dem Wrack. Eines Tages werden sie jemanden umbringen – oder sich selbst.»

Wenn Haus und Grundstück verkauft waren, wollte Marchent ihnen eine hübsche Summe zukommen lassen. Dazu war sie zwar nicht verpflichtet, aber sie wollte es so. Die Bank würde das Geld in Etappen auszahlen, damit es ihnen nicht so zwischen den Fingern zerrann wie das frühere Erbe. Das würde ihnen ganz und gar nicht gefallen. An das Haus hatten sie keinerlei Bindung, und wenn sie es für möglich hielten, Felix’ historische Schätze bei einem Hehler loszuwerden, hätten sie sicher keine Hemmungen, auch die noch zu stehlen.

«Der Punkt ist, dass sie keine Ahnung haben, welche Schätze dieses Haus birgt. Manchmal brechen sie hier ein und stehlen irgendwelche Gebrauchsgegenstände, die sie leicht zu Geld machen können. Aber meistens begnügen sie sich mit Erpressung. Wenn sie abends betrunken sind, rufen sie mich an und drohen mit Selbstmord. Meist endet es damit, dass ich ihnen einen Scheck schicke. Dafür nehmen sie sogar meine Appelle, meine Tränen und Ratschläge bezüglich ihres Umgangs mit Geld in Kauf. Sobald sie den Scheck erhalten, setzen sie sich dann in die Karibik ab, nach Hawaii oder Los Angeles und starten die nächste Sause. Das Letzte, was ich von ihnen gehört habe, ist, dass sie in die Pornoindustrie einsteigen wollen. Sie haben sogar schon eine Möchtegern-Schauspielerin gefunden, die sie sich für diese Zwecke warmhalten. Falls das Mädchen noch nicht volljährig ist, enden sie womöglich doch noch im Gefängnis. Vielleicht ist es unvermeidbar. Jedenfalls sagen unsere Anwälte das. Trotzdem machen wir alle gute Miene zum bösen Spiel und tun so, als kämen meine Brüder in absehbarer Zeit doch noch auf den rechten Weg.»

Marchent ließ den Blick durch das Zimmer schweifen. Reuben konnte nicht wissen, wie es auf sie wirkte. Er wusste nur, wie er es empfand und dass er niemals den Anblick vergessen würde, den sie in diesem Moment bot. Das Kerzenlicht machte ihre Gesichtszüge weich, ihre Wangen waren vom Wein leicht gerötet, ihre Lippen dunkelrot, und ihr Blick wirkte in sich gekehrt, als sie ins Feuer schaute.

«Ich kann einfach nicht verstehen, dass sie sich nie für die Dinge in diesem Haus oder für Felix interessiert haben. Eigentlich interessieren sie sich für gar nichts, weder für Musik noch Kunst oder Geschichte.»

«Kaum zu glauben», sagte Reuben.

«Das ist das Erfrischende an Ihnen, Reuben: Ihnen fehlt der angeblich so coole Zynismus der Jugend.»

Wieder ließ Marchent den Blick durchs Zimmer schweifen, und Reuben spürte, dass sie unruhig wurde, als sie auf das dunkle Sideboard blickte, den marmornen Kaminsims und den runden Kronleuchter, dessen Kerzen nicht angezündet worden waren – offenbar schon länger nicht, da sie ganz staubig waren.

«Was haben wir in diesem Zimmer nicht alles erlebt», sagte sie. «Onkel Felix hatte mir versprochen, mich in alle Ecken der Welt mitzunehmen, wir hatten so viele Pläne. Zuerst sollte ich aber das College abschließen, da war er ganz streng. Danach wollten wir eine Weltreise machen.»

«Werden Sie nicht todunglücklich sein, wenn Sie dieses Haus verkaufen?» sagte Reuben. «Vielleicht bin ich ein bisschen betrunken, aber ich kann mir gut vorstellen, dass Sie es bereuen werden, wenn das Haus weg ist.»

«Nein, damit habe ich abgeschlossen», sagte Marchent. «Ich wünschte, Sie könnten mein Haus in Buenos Aires sehen. Nein, nein, das hier ist wie eine Pilgerfahrt, eine Reise in die Vergangenheit. Dieses Haus ist für mich lediglich ein Ort, an dem ich noch etwas zu erledigen habe.»

Plötzlich verspürte Reuben den Drang, ihr zu sagen, dass er das Haus kaufen wolle und sie ihn jederzeit hier besuchen könne. Aber das war anmaßender Unsinn. Seine Mutter hätte ihn lauthals ausgelacht.

«Es ist ja schon neun», sagte Marchent plötzlich mit Blick auf die Uhr. «Wie die Zeit vergangen ist! Kommen Sie, lassen Sie uns nach oben gehen und uns den Rest morgen bei Tageslicht ansehen.»

Sie sahen sich einige Schlafzimmer mit interessanten Tapeten an und Badezimmer mit altmodischen Kacheln, Waschschüsseln und Wannen, die auf Klauenfüßen standen. Das meiste waren amerikanische Antiquitäten, aber es waren auch europäische dabei. Die Zimmer waren geräumig, bequem eingerichtet und einladend, momentan allerdings staubig und kalt.

Dann öffnete Marchent die Tür zu «einer von Felix’ persönlichen Bibliotheken», bei der es sich eher um ein großes Arbeitszimmer handelte. An den Wänden hingen Tafeln wie in einer Schule, Pinnwände und jede Menge Bücherregale.

«Hier ist seit zwanzig Jahren nichts angerührt worden», sagte Marchent und zeigte auf die Fotos, Zeitungsausschnitte und verblichenen Notizen. Selbst die Schrift auf den Tafeln war noch zu sehen.

«Unglaublich», sagte Reuben.

«Felice glaubt nämlich immer noch, dass er eines Tages heimkommt, und es hat Zeiten gegeben, als auch ich es glaubte. Jedenfalls habe ich nicht gewagt, etwas anzurühren. Als ich herausfand, dass meine Brüder hier eingedrungen waren und Sachen gestohlen hatten, war ich entsetzt.»

«Ich habe die doppelten Schlösser gesehen.»

«Tja, so weit ist es schon gekommen. Außerdem habe ich eine Alarmanlage installieren lassen. Aber ich glaube, Felice schaltet sie nicht ein, wenn ich weg bin.»

«Diese Bücher hier sind auf Arabisch geschrieben, oder?» Reuben ging an den Regalen entlang. «Und das hier? Das kann ich nicht entziffern.»

«Ich auch nicht», sagte Marchent. «Onkel Felix wollte, dass ich alle Sprachen lerne, die er beherrschte, aber dazu fehlte es mir an Talent. Er dagegen lernte Sprachen im Vorbeigehen.»

«Das hier ist Italienisch und das da Portugiesisch.» Reuben blieb am Schreibtisch stehen. «Ist das sein Tagebuch?»

«Ein Mittelding zwischen Tagebuch und Arbeitskladde. Ich nehme an, dass er das aktuelle Tagebuch auf seine letzte Reise mitgenommen hat.»

Die blau linierten Seiten waren mit eigenartigen Zeichen beschriftet. Nur das Datum war lesbar: 1. August 1991.

«Es ist an der Seite aufgeschlagen, die er zuletzt geschrieben hat», sagte Marchent. «Was für eine Sprache könnte das sein? Es haben sich schon einige Leute damit beschäftigt, und sie haben unterschiedliche Vermutungen darüber angestellt. Es scheint sich um eine Mischung aus Geheimschrift und einem vorderasiatischen Dialekt zu handeln, der aber nicht mit dem Arabischen verwandt ist, wenigstens nicht direkt. Komplettiert wird das Ganze von Symbolen, die bislang niemand deuten konnte.»

«Merkwürdig», murmelte Reuben.

Das Tintenfass war eingetrocknet. Daneben lag ein Füller, in den in goldenen Buchstaben ein Name eingraviert war: FELIX NIDECK. Auf dem Schreibtisch stand auch ein gerahmtes Foto. Es zeigte die sechs Männer, die in lässiger Haltung und offenbar bester Laune mit Weingläsern in den Händen unter Blumengirlanden standen. Alle strahlten. Felix hatte die Arme um den großen blonden helläugigen Sergej gelegt, und Margon, der Gottlose, lächelte zufrieden in die Kamera.

«Der Füller war ein Geschenk von mir», sagte Marchent. «Er liebte Füller, allein schon wegen des Geräuschs, mit dem sie übers Papier gleiten. Diesen hier habe ich bei Gump’s in San Francisco gekauft. Sie dürfen ihn ruhig anfassen. Hauptsache, wir legen ihn wieder an seinen Platz.»

Reuben zögerte. Vor allem das Tagebuch hätte er gern berührt, aber ein kalter Schauder hatte ihn erfasst, und ihm war, als spürte er die Anwesenheit einer anderen Person, die er nicht identifizieren konnte. War es der Mann auf dem Foto, der so glücklich wirkte, dessen Augen von Lachfältchen umspielt wurden und dessen Haar in einer leichten Brise flatterte?

Reuben sah sich um … die vollgestopften Regale, die alten Landkarten an den Pinnwänden und auf dem Schreibtisch … Er fühlte sich diesem Mann sehr verbunden, auch wenn es vielleicht nur eine vorübergehende Laune war.

«Wie gesagt: Sobald sich ein Käufer findet, lasse ich diese Sachen einlagern. Schon vor längerer Zeit habe ich alles abfotografieren lassen. Jedes Regal, jeder Schreibtisch, jede Pinnwand gibt es als Fotodatei. Das ist allerdings die einzige Inventarisierung, die ich bislang vorgenommen habe.»

Reuben starrte auf eine der Schultafeln. Die Kreideschrift war verblasst, aber sie war auf Englisch, und er konnte sie ohne weiteres entziffern. Halblaut sprach er vor sich hin: «‹Der Schein festlicher Fackeln, Petroleumlampen und brennender Scheiterhaufen, die ihm zu Ehren entzündet worden waren, die Pracht des königlichen Hofes, dessen hellster Stern er war – alles schien in diesem einzigartigen Juwel zu leuchten und eine Strahlkraft zu entfalten, die sich sowohl aus der Zukunft als auch aus der Vergangenheit speiste.›»

«Sie lesen das wunderbar», flüsterte Marchent. «Ich habe diese Worte noch nie ausgesprochen gehört.»

«Ich kenne diesen Text», sagte Reuben. «Ich muss ihn schon mal gelesen haben.»

«Ach, wirklich? Das hat noch keiner gesagt. Wo ist er Ihnen denn begegnet?»

«Lassen Sie mich nachdenken. Ich weiß, wer das geschrieben hat. Ja, genau, das ist Hawthorne, Nathaniel Hawthorne, eine Passage aus der Kurzgeschichte Der antike Ring

«Oh, das ist ja phantastisch! Moment mal.» Marchent begann, die Regale abzusuchen. «Hier. Das sind seine Lieblingsautoren.» Sie holte einen abgegriffenen Lederband mit Goldschnitt aus dem Regal und begann darin zu blättern. «Tatsächlich! Hier steht es. Es ist mit Bleistift unterstrichen. Das hätte ich niemals alleine gefunden.»

Ganz beglückt nahm Reuben das Buch entgegen. «Wie aufregend! Zum ersten Mal erweist sich mein Englischstudium als nützlich.»

«Bildung ist immer nützlich», sagte Marchent. «Wie kommen Sie darauf, dass sie unnütz sein könnte?»

Reuben begann zu lesen. Viele Stellen waren mit Bleistift angestrichen, und auch die merkwürdigen Symbole fanden sich hier wieder.

Marchent lächelte glücklich, aber vielleicht sah es im Licht der grünen Schreibtischlampe auch nur so aus. «Ich sollte Ihnen dieses Haus überlassen, Reuben Golding», sagte sie. «Hätten Sie die Mittel, um es instand zu halten?»

«Ohne weiteres», sagte er. «Aber Sie brauchen es mir nicht zu schenken, Marchent. Ich werde es kaufen.» Jetzt war es raus. Unwillkürlich wurde er rot, aber er schämte sich nicht, sondern war nur aufs äußerste erregt. «Ich muss nach San Francisco zurück, um mit meinen Eltern zu sprechen. Und mit meiner Freundin natürlich. Sie sollen verstehen, was es mir bedeutet, obwohl ich es so oder so kaufen werde – aber natürlich nur, wenn es Ihnen recht ist. Glauben Sie mir, ich will es wirklich! Ich denke schon darüber nach, seit ich angekommen bin. Ich glaube, ich würde es mein Leben lang bereuen, jetzt nicht zuzugreifen. Und wenn ich das Haus tatsächlich kaufe, wird die Tür für Sie immer offen stehen, Marchent, Tag und Nacht.»

Marchent lächelte immer noch. Sie schien ganz präsent zu sein und zugleich weit, weit fort. «Sie haben also Geld?»

«Ja. Nicht so viel wie Sie, aber es reicht.» Reuben wollte nichts von den Grundstücksmaklern sagen, die den Wohlstand seiner Familie begründet hatten, auch nichts über das Treuhandvermögen, das er schon besessen hatte, bevor er überhaupt geboren wurde. Stattdessen dachte er an das Geschrei, das seine Mutter und Celeste anstimmen würden, wenn er ihnen von seinen Plänen erzählte. Grace arbeitete jeden Tag so hart, als sei sie mittellos, und von ihrem Sohn erwartete sie das Gleiche. Auf seine Art hatte auch Phil sein Leben lang gearbeitet. Und dann war da Jim, der alles aufgegeben hatte, um Priester zu werden. Er dagegen würde sein Kapital antasten, um dieses Haus zu kaufen. Aber das war es ihm wert. Celeste würde es ihm nie verzeihen. Aber das war ihm gleichgültig.

«Das dachte ich mir schon», sagte Marchent. «Dann arbeiten Sie also nicht, weil Sie Geld verdienen müssen? Sie haben ein schlechtes Gewissen wegen Ihres Reichtums, nicht wahr?»

«Ja, ein bisschen», murmelte Reuben.

Marchent streckte die Hand aus und legte sie an seine Wange. Ihre Lippen bewegten sich, aber sie sagte nichts. Ihre Stirn legte sich in Falten, aber ihr Mund lächelte noch.

«Mein lieber Junge», sagte sie. «Wenn du eines Tages einen Roman über dieses Haus schreiben solltest, wirst du ihn Kap Nideck nennen, und auch ich werde darin vorkommen, nicht wahr?»

Reuben zog sie näher an sich. «Ich werde deine wunderschönen Augen beschreiben und dein weiches goldenes Haar, deinen schlanken Hals und deine Hände, die mich an flatternde Vögel erinnern, wenn du gestikulierst. Und deine Stimme, deine klare, präzise Aussprache, die an flüssiges Silber erinnert.»

Ja, ich werde schreiben, dachte er. Bedeutungsvolle, wunderbare Dinge. Ich kann es. Und ich werde meine Texte dir widmen, weil du die Erste bist, die es mir zutraut.

«Wer hat das Recht zu sagen, ich hätte kein Talent, keine Leidenschaft …», murmelte er vor sich hin. «Warum sagt jemand so etwas zu einem jungen Menschen? Das ist doch nicht fair, oder?»

«Nein, mein Lieber, das ist es nicht», sagte Marchent. «Ich frage mich nur, warum du auf so etwas überhaupt hörst.»

Plötzlich verstummten die kritischen Stimmen in Reubens Kopf, und erst dann merkte er, wie laut sie die ganze Zeit gewesen waren. Hatte er je eine ruhige Minute gehabt? Sonnyboy, mein Baby, mein Kleiner, kleiner Bruder, kleiner Reuben … Was verstehst du schon vom Tod? Was verstehst du vom Leid? Was bildest du dir ein? Du brauchst es gar nicht erst zu versuchen! Du hast dich doch nie gründlich mit etwas beschäftigt! All das zählte nicht mehr. Er sah seine Mutter vor sich. Dann Celeste mit ihrem kleinen, lebhaften Gesicht und den großen braunen Augen. Aber er hörte ihre Stimmen nicht mehr.

Er beugte sich vor, um Marchent zu küssen. Sie wandte sich nicht ab. Ihre Lippen waren so weich wie die eines Kindes. Er küsste sie ein zweites Mal. Er spürte, dass dieser Kuss etwas in ihr erweckte, und im selben Moment ergriff auch ihn die Leidenschaft.

Als Nächstes spürte er ihre Hand auf seiner Schulter, und sie stieß ihn sanft fort. Dann senkte sie den Kopf und holte tief Luft, nahm seine Hand und führte ihn zu einer geschlossenen Tür.

Reuben war sich sicher, dass dahinter ein Schlafzimmer lag, und er fasste einen Entschluss. Es spielte keine Rolle, was Celeste davon hielt, falls sie je etwas davon erfuhr. Auf keinen Fall wollte er sich diese Gelegenheit entgehen lassen.

Marchent zog ihn mit sich in ein dunkles Zimmer und knipste eine schummrige Lampe an.

Erst nach und nach begriff er, dass sie in einer Art Galerie standen, die zugleich ein Schlafzimmer war. Überall standen alte Statuen auf Sockeln, in Regalen und auf dem Boden.

Das Bett stammte aus dem England des Elisabethanischen Zeitalters und war wie eine Kammer in der Kammer, mit einem Dach und geschnitzten Holztüren, die man gegen die nächtliche Kühle schließen konnte.

Die Bettdecke aus grünem Samt war staubig, aber das war ihm vollkommen egal.