36

Im Esszimmer zündeten sie die Kerzen an, die in schweren Silberleuchtern auf dem Tisch und den Truhen standen. Thibault fachte das Kaminfeuer neu an.

Felix saß am Tisch und hatte den Arm um Laura gelegt, die leise weinte und die Hand an die Lippen presste. Das Haar trug sie jetzt offen, sodass es ihr wie ein zarter weißer Schleier vors Gesicht fiel und mit tausend glitzernden Pünktchen das Licht der Kerzen reflektierte.

Reuben liebte diesen Anblick, aber dass Felix Laura so nah war, gab seinem Herzen einen Stich. Doch schon im nächsten Moment stand Felix auf, als hätte er Reubens Unbehagen gespürt, nahm Abstand von Laura und forderte ihn mit einer Handbewegung auf, sich zu Laura zu setzen. Dann ging er um den Tisch herum und setzte sich neben Thibault.

Einen Moment lang herrschte Stille in dem großen, warmen Zimmer. Nur das Feuer knisterte. Der Schein der flackernden Kerzen huschte über ihre Gesichter, und es roch süßlich nach Bienenwachs.

Laura hatte aufgehört zu weinen und den Kopf an Reubens Brust gelegt. Er hielt sie fest, streichelte ihr Gesicht und küsste sie auf die Stirn.

«Es tut mir alles so leid», flüsterte er.

«Du kannst ja nichts dafür», sagte sie. «Außerdem bin ich freiwillig hier. Ich weiß gar nicht, warum ich weine.»

Plötzlich schämte Reuben sich für seine Eifersucht. Endlich war Felix gekommen. Reuben hatte sich dieses Treffen anders vorgestellt, aber immerhin waren der so sehr Herbeigesehnte und Thibault jetzt da, und er und Laura hatten die beiden für sich allein. Er konnte sich keine bessere Gesellschaft vorstellen, um den Schrecken dieser Nacht zu verwinden. Es war vorbei.

Felix sah ihn so freundlich an, dass er innerlich zur Ruhe kam. Auch Thibault saß ganz ruhig da, die schweren Lider halb geschlossen, das graue Haar zerzaust – ein freundlicher, weiser alter Mann.

«Wir konnten Sie nicht vorher darüber informieren, was wir vorhatten», sagte Felix. «Wir mussten Klopow und Jaska unschädlich machen. Mit Jaska war es einfach. Er hatte sich an Ihre Mutter und an Stuart herangemacht. Aber Klopow ist erst im letzten Moment aufgetaucht.»

«Jaska scheint ihr untergeben gewesen zu sein», sagte Reuben. «Steckte sie hinter alledem?»

«Sie war die letzte Überlebende der Regierungsabteilung, die uns vor zwanzig Jahren gefangen genommen hat», sagte Felix. «Jaska war ihr Schüler. Wir mussten sie provozieren, um sie herzulocken. Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Wir konnten Sie leider nicht vorwarnen. Aber so, wie es nun gelaufen ist, bleibt kein Verdacht an Ihnen und Stuart hängen. Das Wüten des Wolfsmenschen wird nicht mehr mit Ihnen in Verbindung gebracht.»

«Ja, das war clever», sagte Reuben.

«Sie waren aber niemals wirklich in Gefahr», sagte Thibault. «Und wenn ich das sagen darf: Sie haben ganz großartig reagiert. Genau wie mit Marrok. Wir hätten nie gedacht, dass Marrok Sie aufsuchen würde. Das war nicht Teil unseres Plans.»

«Seit wann beobachten Sie mich denn schon?», fragte Reuben.

«Eigentlich von Anfang an», sagte Felix. «Seit ich in Paris im Herald Examiner von Marchents Tod las. Als dann der ‹Wolfsmensch von San Francisco› zum ersten Mal in den Medien auftauchte, bin ich sofort hergeflogen.»

«Dann waren Sie nach unserem Treffen bei den Anwälten also gar nicht außer Landes?»

«Nein. Wir waren die ganze Zeit in Ihrer Nähe. Thibault traf nur wenige Stunden nach mir ein, Margon hatte einen weiteren Weg, weil er erst den Atlantik überqueren musste, und dann kamen auch Vandover und Gorlagon. Ich war die ganze Zeit hier im Haus. Es war clever, wie Sie das Allerheiligste entdeckten. So bezeichnen wir die Geheimkammer unter uns. Nur den Eingang vom Keller her haben Sie nicht entdeckt. Der stillgelegte Heizkessel ist eine Attrappe. Später kann ich es Ihnen zeigen. Wenn man an der rechten unteren Klappe zieht, öffnet sich die Tür, die dahinterliegt. Sie führt zu einer ganzen Reihe von Geheimkammern, die alle beleuchtet und beheizt sind. Sie sind mit einem Tunnel verbunden, der nach Westen führt und am Fuße der Klippen in einer Höhle endet, unten am Strand.»

«Ich kenne die Stelle», sagte Laura. «Wenigstens glaube ich das.» Sie griff nach einer spitzenbesetzten Stoffserviette, die neben einer Schale mit Obst und Süßigkeiten lag, und tupfte sich die Augen trocken. «Ich habe sie auf meinen Spaziergängen entdeckt. Ich wollte sie mir ansehen, konnte aber nicht über die rutschigen Felsen klettern. Trotzdem bin ich mir sicher, dass ich sie gesehen habe.»

«Gut möglich», sagte Felix. «Es ist ziemlich gefährlich dort, oft wird die Höhle sogar überflutet. Deswegen eignet sie sich am besten für Morphenkinder, die gut schwimmen und klettern können.»

«Dann haben Sie sich also die ganze Zeit in den Räumen hinter der Kellertür aufgehalten?», fragte Reuben.

«Ja, meistens. Manchmal waren wir aber auch im Wald. Und wir sind Ihnen natürlich nach Santa Rosa gefolgt, wenn Sie Stuart besucht haben. Wir wussten sofort, was passiert war. Wir waren auch dabei, als Sie ihn nach seiner Flucht gesucht haben. Hätten Sie ihn nicht gefunden, wären wir eingeschritten. Aber Sie haben alles wunderbar in den Griff bekommen, genauso wie wir es von Ihnen erwartet hatten.»

«Der Wolfsmensch, der heute in unser Haus eingebrochen ist …», sagte Laura. «Ist er auch auf dem Foto in der Bibliothek?»

«Ja, Sergej», sagte Thibault amüsiert und nickte. «Wir haben alle darum gewetteifert, die Rolle zu übernehmen, aber Sergej war am hartnäckigsten. Frank Vandover ist jetzt bei ihm. Dr. Klopow hat uns zehn Jahre lang gefangen gehalten und einen von uns sogar umgebracht. Deswegen war dieser Abend eine große Genugtuung für uns alle.»

«Die beiden kehren morgen zurück», sagte Felix. «Momentan legen sie eine gut sichtbare Spur des Wolfsmenschen, die weit in den Süden führt. Noch vor dem Morgengrauen sorgen sie dafür, dass der Wolfsmensch in Mexiko gesichtet wird. Wenn Sie zurückkehren, hoffe ich, dass sie Ihnen willkommen sind und wir alle Ihre Gäste sein dürfen.»

«Es ist Ihr Haus», sagte Reuben. «Betrachten Sie mich lediglich als eine Art Verwalter.»

«Nein, mein Junge», sagte Felix und klang genau wie Marchent. «Das Haus gehört Ihnen. Ohne jede Frage. Aber wir würden Ihre Einladung gern annehmen.»

«Bitte sehr», sagte Reuben. «Sie können hierbleiben, so lange Sie wollen. Und suchen Sie sich aus, in welchen Zimmern Sie wohnen wollen.»

«Ich würde gern mein altes Zimmer nehmen, wenn Sie nichts dagegen haben», sagte Felix. «Und Margon hat immer gern in einem der kleineren gewohnt, die gegenüber dem Wald nach Norden rausgehen. Thibault wird ein Südzimmer nehmen, neben Stuarts, und Frank und Sergej sollten die nordöstlichen Eckzimmer gegenüber dem Eichenwald nehmen.»

«Ich werde mich gleich darum kümmern», sagte Laura und stand auf.

«Das ist nicht nötig, meine Liebe», sagte Felix. «Bitte setzen Sie sich wieder. Ich habe mich bereits davon überzeugt, dass alles so heimelig ist wie früher. Natürlich ist alles älter und manches sogar ein wenig muffig geworden, aber an dem alten Komfort hat sich nichts geändert. Ich möchte, dass Sie jetzt bei uns bleiben. Sie wollen doch sicher auch wissen, wie alles zusammenhängt.»

Reuben streckte die Arme aus, zog Laura wieder zu ihrem Stuhl, und sie setzte sich.

«In einem Haus dieser Größe brauchen Sie ein, zwei zuverlässige Bedienstete», sagte Felix und zwinkerte Reuben zu. «Sonst verkommt diese wunderbare junge Lady noch zum Hausmütterchen.»

«Ich weiß», sagte Reuben und wurde rot. Die Andeutung, er könnte Laura ausgenutzt und sie ans Haus gefesselt haben, kränkte ihn, und am liebsten hätte er protestiert, aber er wollte die Männer nicht verärgern und wünschte sich, dass sie möglichst lange blieben. Deswegen überlegte er, wie er das Gespräch wieder auf Dr. Klopow lenken konnte.

Laura kam ihm zu Hilfe, indem sie fragte: «Hat Klopow Sie in der Sowjetunion gefangen gehalten?»

«Zuerst», sagte Felix. «Die Gefangennahme selbst fand allerdings in Paris statt. Es war eine internationale Operation, und die Drahtzieher waren ein Mann aus meiner eigenen Familie und seine Frau.»

«Marchents Eltern», sagte Reuben.

«Richtig», sagte Felix ohne Groll. «Aber das ist eine lange Geschichte. Um es kurz zu machen: Mein Neffe Abel hat uns an Klopow und ihre Bande verkauft, für eine exorbitante Summe. Wir wurden nach Paris gelockt, wo uns ein Dr. Philippe Durrell, der angeblich für den Louvre arbeitete, bis dato unbekannte archäologische Fundstücke aus Vorderasien zeigen wollte.» Er seufzte. Dann fuhr er fort: «Dieser Durrell war ein Meister der schönen Worte und hat uns am Telefon das Blaue vom Himmel versprochen. Also sind wir alle nach Paris gereist, wo er uns in ein kleines Hotel am linken Seine-Ufer eingeladen hatte.»

«Die Falle musste in einer großen, belebten Stadt zuschnappen, verstehen Sie?», sagte Thibault und räusperte sich. Sein Bariton klang sonor wie immer, aber es war zu hören, dass diese Erinnerungen ihn nicht kaltließen. «Es musste an einem Ort passieren, wo unsere Sinne so sehr von Geräuschen und Gerüchen überflutet waren, dass wir nicht oder zu spät merkten, wer sich uns da näherte. Außer Sergej wurden wir alle betäubt. Er konnte fliehen und hat uns all die Jahre gesucht.»

Thibault sah Felix an, der ihn mit einer Handbewegung ermunterte weiterzusprechen.

«Kurz darauf stellte die Sowjetregierung die Zahlungen an Durrells und Klopows Team ein. Wir wurden aus Russland geschmuggelt und in ein Beton-Gefängnislabor in der Nähe von Belgrad verlegt. Da ging dann der Konkurrenzkampf zwischen den beiden los, und für uns ging es ums nackte Überleben.» Von Erinnerungen überkommen, schüttelte er den Kopf. «Ehrlicherweise muss man Philippe Durrell zugestehen, dass er brillant war.»

«Das waren sie alle», sagte Felix. «Auch Klopow, Jaska und die anderen. Sie kannten Einzelheiten aus unserer Vergangenheit, über die wir nur staunen konnten. Außerdem hatten sie Kenntnisse auf Gebieten, über die andere Wissenschaftler nicht einmal zu spekulieren wagen.»

«Ich weiß», sagte Reuben. «Meine Mutter war von Jaska anfangs ziemlich beeindruckt. Aber sie hat relativ bald Verdacht geschöpft.»

«Ihre Mutter ist eine bemerkenswerte Frau», sagte Felix. «Sie scheint sich ihrer Schönheit gar nicht bewusst zu sein, als sei sie ein körperloses Wesen, das nur aus geistiger Aktivität besteht.»

Reuben lachte. «Sie möchte ernst genommen werden.»

«Nur zu verständlich», sagte Thibault. «Gut, dass sie Philippe Durrell nicht kennengelernt hat. Er hätte sie noch stärker beeindruckt. Er hatte großen Respekt vor uns und war ernsthaft an allem interessiert, was er über uns in Erfahrung bringen konnte. Als wir uns weigerten, unsere Wolfsgestalt anzunehmen, hat er geduldig gewartet, und als wir uns weigerten, ihm irgendetwas über uns zu erzählen, hat er uns in lange Gespräche verwickelt und darauf gehofft, dass uns doch etwas herausrutscht.»

«Ja, er hat uns ernst genommen», sagte Felix. «Und er wollte unbedingt wissen, was wir von der Welt gesehen hatten.»

Reuben selbst hätte das nur zu gern erfahren.

Thibault fuhr fort: «Er behandelte uns wie kostbare Exemplare einer seltenen Spezies, verwöhnte und beobachtete uns permanent. Klopow hingegen war ungeduldig und anmaßend, bis sie regelrecht brutal wurde und sich wie jemand benahm, der einem Schmetterling die Flügel abreißt, um ihn besser untersuchen zu können.» Die aufkeimenden Erinnerungen schienen ihm zuzusetzen. «Sie war wild entschlossen, unsere Verwandlung herbeizuführen, und als es eines Tages tatsächlich passierte, stellten wir fest, dass wir selbst in Wolfsgestalt nicht fliehen konnten, weil unser Gefängnis solider gebaut war, als wir gedacht hatten, und die Wachen zu zahlreich. Danach haben wir uns nie wieder verwandelt.»

«Sie müssen wissen, dass man das Chrisam nicht einfach aus uns herausholen kann», setzte Felix die Schilderung fort. «Weder mit einer Spritze noch durch eine Speichelprobe oder dergleichen. Die spezifischen Zellen werden binnen kürzestem inaktiv und zerfallen schließlich ganz. Das wusste ich von meiner eigenen Forschung, obwohl mir zu Beginn des wissenschaftlichen Zeitalters nur primitive Methoden zur Verfügung standen. Später konnte ich die Ergebnisse von damals in meinem Labor hier im Haus bestätigen. Unsere Vorfahren wussten es auch schon. Sie hatten zwar noch keine Beweise dafür, aber das heißt nicht, dass sie dumm waren. Schließlich waren wir nicht die ersten Morphenkinder, die man hinter Schloss und Riegel sperrte, weil man ihnen das Chrisam abzapfen wollte.»

Reuben fuhr es kalt den Rücken herunter. Als er – es schien Jahre her zu sein – das erste Mal zu Jim gegangen war, um die Beichte abzulegen, hatten ihm all diese Möglichkeiten vor Augen gestanden – Gefangenschaft, Zwangsuntersuchungen und womöglich noch Schlimmeres.

«Um aber auf die Gegenwart zurückzukommen …», sagte Felix. «Selbst wenn man sehr schnell arbeitet, kann man das Serum einem anderen Organismus nicht auf künstlichem Wege übertragen. Verschiedene Stoffe müssen zusammenwirken, um das Chrisam weiterzugeben. Deswegen bleibt sogar der Biss von Morphenkindern meist folgenlos. Wir wissen ganz genau, um welche Wirkstoffkombination es geht und dass man uns nicht zwingen kann, davon etwas abzugeben, auch nicht in Wolfsgestalt.»

«Richtig», pflichtete Thibault dem alten Freund bei. «Deswegen ist es wahrscheinlicher, dass ein Gebissener stirbt. Denn selbst wenn wir so manipuliert werden, dass wir uns gegen unseren Willen verwandeln, und man uns dann einen Köder vorsetzt, dem wir das Chrisam übertragen sollen, können wir ihm den Kopf abreißen, und das ist dann das Ende des Experiments.»

«Verstehe», sagte Reuben. «Ich habe selbst schon darüber nachgedacht, was in so einem Fall zu tun ist. Trotzdem kann ich mir kaum vorstellen, was Sie erleiden mussten. Aber es ist etwas, womit wir wohl rechnen müssen.»

«Stellen Sie sich vor, jahrelang isoliert zu werden», sagte Felix. «In eiskalten Zellen, die Tag und Nacht in völliger Dunkelheit liegen. Man lässt Sie hungern, beschimpft und bedroht sie. Psychische Folter, indem man ihnen immer wieder den Eindruck vermittelt, Ihre Kameraden seien tot … Eines Tages werde ich Ihnen die ganze Geschichte erzählen, wenn Sie daran interessiert sind. Aber lassen Sie uns auf den Punkt kommen. Wir haben nicht nur unsere Verwandlung verweigert, sondern jede Form der Kooperation. Auch wenn man uns Drogen gab oder uns folterte, blieben wir standhaft. Schon lange vorher hatten wir uns beigebracht, uns in einen Bewusstseinszustand zu versetzen, der uns gegen Angriffe dieser Art immun macht. Irgendwann verlor Klopow die Geduld – mit uns, aber auch mit Durrell, der eher an endlosen Gesprächen über das Mysterium der Morphenkinder und unserer Philosophie interessiert war.»

Felix sah Thibault an, damit der weitererzählte.

Thibault nickte widerstrebend und sagte: «Klopow ließ Reynolds Wagner, unseren Freund und Mitgefangenen, auf einen Operationstisch schnallen, und dann begann sie mit ihrem Team, ihn bei lebendigem Leibe zu sezieren.»

«O mein Gott!», flüsterte Reuben entsetzt.

«Wir wurden gezwungen, per Videoübertragung in unseren Zellen zuzuschauen», fuhr Thibault fort. «Eine detaillierte Schilderung möchte ich uns allen ersparen. Fakt ist, dass Reynolds der Tortur nicht standhielt. Blind vor Wut, verwandelte er sich, obwohl er das gar nicht wollte. Er tötete drei Ärzte und beinahe auch Dr. Klopow, aber gerade noch rechtzeitig schossen sie und die anderen Überlebenden Reynolds in den Kopf und zerstörten sein Gehirn. Aber er hörte immer noch nicht auf. Halbtot fiel er einen Assistenten an. Dann hat Klopow so lange auf seinen Hals geschossen, bis er praktisch enthauptet und von seinem Hals nichts mehr übrig war. Dann durchtrennte sie ihm die Wirbelsäule, und Reynolds ging tot zu Boden.» Thibault schloss die Augen und massierte sich die Nasenwurzel.

«Sie hatte uns schon länger den Tod angedroht», sagte Felix. «Aus unseren Leichen glaubte sie wertvolle Erkenntnisse gewinnen zu können, und der Einzige, der sie bislang davon abgehalten hatte, war Durrell.»

«Ich kann mir schon denken, was dann passierte», sagte Reuben.

«Ich weiß», sagte Felix. «Sie haben es mit eigenen Augen gesehen.» Er lehnte sich zurück und starrte auf den Tisch. «Wie Sie von Ihrer Begegnung mit Marrok wissen, löste Wagner sich vor unseren Augen auf.»

«Klopow und die anderen versuchten verzweifelt, seinen Zerfall zu stoppen», sagte Thibault. «Aber sie konnten nichts dagegen tun. Da begriffen sie, dass wir ihnen tot nichts nützten. Um die Zeit etwa beschloss Vandover, sich das Leben zu nehmen. Jedenfalls machte er Klopow das glauben. Also griffen sie notgedrungen auf Durrells Methode zurück und versuchten, uns mit endlosen Gesprächen zu ermüden und unseren Widerstand zu brechen. Seit der Sache mit Wagner hasste Durrell Klopow, aber ohne sie war er aufgeschmissen, und er hatte nicht die Macht, sie von dem Projekt abziehen zu lassen. Zusammen mit Jaska hatte sie alles im Griff, und seit dem Tod der anderen drei Ärzte war ihre Position noch gefestigter. Es war furchtbar, aber irgendwie gelang es uns, das alles zu überleben.»

«Zehn lange Jahre?», sagte Reuben fassungslos. Er konnte sich das Elend vorstellen, als wäre er dabei gewesen.

«Zehn lange Jahre», bestätigte Felix. «Immer wieder haben wir uns Tricks ausgedacht, die sie zwingen sollten, uns miteinander in Kontakt treten zu lassen, aber sie waren zu clever, um darauf hereinzufallen. Dann mussten sie Belgrad aufgrund der politischen Veränderungen verlassen. Außerdem hatte Sergej uns endlich gefunden und machte Druck. In dem allgemeinen Durcheinander und der gebotenen Eile machten sie dann den entscheidenden Fehler: Zum Transport in einem Lieferwagen führten sie uns zusammen, ohne uns vorher zu betäuben.»

«Sie nahmen an, dass wir inzwischen psychisch und physisch zu geschwächt waren, um etwas zu unternehmen», sagte Thibault.

«Aber sobald wir zusammen waren, verwandelten wir uns», sagte Felix. «Wir sprengten unsere Fesseln und töteten das gesamte Team, inklusive Durrell. Nur Klopow und Jaska gelang die Flucht. Dann haben wir das Labor bis auf die Grundmauern abgebrannt.»

Beide Männer schwiegen einen Moment lang und schienen ihren Erinnerungen nachzuhängen.

Schließlich sagte Thibault mit einem versonnenen Lächeln: «Wir flohen in die Stadt, wo Sergej schon alles für uns vorbereitet hatte. Mit Klopow und Jaska wollten wir abrechnen, sobald wir uns in Sicherheit gebracht hätten.»

«Aber dazu kam es nicht», sagte Laura.

«Leider nicht. Wir konnten sie nicht finden. Wahrscheinlich waren sie unter falschen Namen abgetaucht. Aber da Ärzte bei jeder Neuanstellung ihre Qualifikation nachweisen müssen und im Fall einer Frau auch der Geburtsname dazugehört, gingen wir immer davon aus, dass wir Klopow früher oder später aufspüren würden.» Er lächelte bitter. «Und genau das ist vor einigen Wochen passiert. In der Zwischenzeit hatten die beiden neue Finanziers gefunden, und mit diesen Leuten müssen wir uns demnächst auch noch beschäftigen, aber das hat Zeit.»

Er räusperte sich, bevor er fortfuhr: «Dann kam die Nachricht aus Amerika, dass Felix’ geliebte Marchent von ihren eigenen Brüdern umgebracht worden war und dass ein Morphenkind die Mörder auf die traditionelle Art bestraft hatte.»

Alle schwiegen eine Weile.

«Ich war mir immer sicher, dass ich Marchent eines Tages wiedersehen würde», sagte Felix leise. «Ich bedaure unendlich, dass ich mich nicht mit ihr in Verbindung gesetzt oder sie einfach besucht habe, als ich endlich wieder die Gelegenheit dazu hatte.» Er wandte den Blick von den anderen ab und starrte auf die Tischplatte, als bewunderte er ihren seidenen Glanz, aber in Wahrheit sah er in diesem Moment gar nichts. «Wenn sie auf Reisen war, war ich oft hier», sagte er. «Manchmal habe ich sie sogar vom Wald aus beobachtet. Aber wissen Sie …»

Er konnte nicht weitersprechen.

«Sie wollten ihr nicht sagen, wer Sie verraten hatte», vermutete Laura.

«Genau», sagte Felix mit brüchiger Stimme. «Sie sollte auch nicht wissen, dass ich mich an ihren Eltern gerächt hatte. Wie hätte sie es auch verstehen sollen, ohne die ganze Geschichte zu kennen, und die wollte ich ihr nicht erzählen.»

Wieder schwiegen alle.

«Als dann der Wolfsmensch in San Francisco aktiv wurde …» Felix wollte den Faden wieder aufnehmen, aber seine Stimme versagte.

«Da wussten Sie, dass Marrok das Chrisam weitergegeben hatte», half Laura ihm weiter. «Ihr nächster Gedanke war, dass die Ärzte, hinter denen Sie seit all den Jahren her waren, der Versuchung nicht widerstehen und diesem Wolfsmenschen nachstellen würden.»

Felix nickte.

Eine Zeitlang war nur der Regen zu hören, der gegen die Fenster trommelte, und das Feuer, das im Kamin fauchte und knisterte.

«Wären Sie auch hergekommen, wenn es nicht um Klopow und Jaska gegangen wäre?», fragte Reuben nach einer Weile.

«Ganz gewiss», sagte Felix. «Ich hätte Sie mit dieser Sache nicht alleingelassen. Schon allein wegen Marchent wäre ich gekommen. Außerdem wollte ich ein paar Dinge haben, die hier im Haus geblieben sind. Aber ich wollte Sie auch kennenlernen. Ich hätte Sie Ihrem Schicksal nicht einfach so überlassen. Das tun wir nie. Deswegen habe ich jenes merkwürdige Treffen bei den Anwälten herbeigeführt. Wenn ich aus irgendeinem Grund verhindert gewesen wäre, hätte ich Thibault, Vandover oder Sergej geschickt. Wir waren zufällig gerade zusammen, als die Nachricht aus San Francisco kam. Wir wussten sofort, dass Marrok dahintersteckte und dass der Wolfsmensch, der hier Furore machte, Sie waren.»

«Kümmern Sie sich um jedes neue Morphenkind?», fragte Reuben.

«So oft passiert das nicht», sagte Felix. «Wirklich nicht. Und wenn, dann nicht auf so spektakuläre Art und Weise. Aber ja – wir kümmern uns um neue Morphenkinder.»

«Haben Sie es mir denn gar nicht übelgenommen, dass ich als Wolfsmensch so viel öffentliches Aufsehen erregt habe?», fragte Reuben.

Felix lachte leise, genau wie Thibault, und sie wechselten einen amüsierten Blick.

«Ob wir es Ihnen übelnahmen?», sagte Thibault und stieß Reubens Ellenbogen an. «Was meinen Sie wohl?»

Reuben war sich nicht sicher, wie er diese Reaktion deuten sollte, aber sie fiel glimpflicher aus, als er befürchtet hatte.

«Nun, begeistert war ich nicht gerade», sagte Felix. «Aber böse war ich Ihnen zu keinem Zeitpunkt.»

«Es gibt noch so vieles, was wir Ihnen erklären müssen», sagte Thibault freundlich. «Ihnen und Stuart. Und Laura natürlich auch.»

Und Laura natürlich auch.

Felix sah zu den dunklen Fenstern hinüber, an denen der Regen glitzerte. Dann wanderte sein Blick an die Decke mit den alten Holzbalken und dem aufgemalten Sternenhimmel.

Ich weiß, was er empfindet, dachte Reuben. Er liebt dieses Haus noch genauso wie zu der Zeit, als er es erbaute. Denn er muss der Bauherr gewesen sein. Er liebt es, er braucht es, und er möchte hier wieder einziehen.

«Es würde Jahre dauern», sagte Felix versonnen, «Ihnen alles zu erzählen, was uns wichtig ist und was wir erlebt haben.»

«Ja, mein Lieber, aber für heute reicht es», sagte Thibault und sah Felix fürsorglich an. Dann wandte er sich an Reuben. «Sie sollen wissen, dass Sie niemals in Gefahr waren, als wir uns noch im Verborgenen hielten und auf den besten Moment zum Zuschlagen warteten.»

«Verstehe», sagte Reuben. Gern hätte er noch mehr gesagt, aber für heute reichte es wirklich.

Plötzlich tauchte eine Vision vor ihm auf, die all seine Fragen unwichtig werden ließ. Es war wie Musik, die ähnlich einer triumphalen Brahms-Sinfonie anschwoll. Sein Herz schlug im Rhythmus dieser Musik, und er sah ein Leuchten, das ihm wie ein göttliches Licht vorkam.

In Gedanken war er wieder in den höchsten Wipfeln, in einem luftigen Nest, sah die Sterne über sich und fragte sich zum wiederholten Mal, ob die große Sehnsucht, die große Liebe, die er für die Schöpfung empfand, nicht in Wahrheit ein Gebet war. Aber warum war diese Frage für ihn so wichtig? War es die einzige Form der Erlösung, die er sich vorstellen konnte?

«Margon wird sich um Sie kümmern», sagte Thibault. «Es ist immer am besten, ihm die neuen Morphenkinder zu überlassen. Er ist der Älteste von uns.»

Die Aussicht gefiel Reuben. Und es freute ihn, dass dieser Mann jetzt bei Stuart, dem Wolfsjungen, war. Er konnte sich kaum vorstellen, wie verwirrend das alles für den lebhaften, wissbegierigen Jungen sein musste. Bestimmt war es für ihn viel schwerer, sich an sein neues Leben zu gewöhnen, als es für Reuben gewesen war. Umso besser, dass er von Anfang an Margon an seiner Seite hatte.

«Ich bin müde», sagte Felix. «Und der Anblick von so viel Blut vorhin hat mir Appetit gemacht.»

«Komm, das muss doch nicht sein!», sagte Thibault und stieß Felix spielerisch in die Seite.

«Du warst schon älter, als du einer von uns wurdest», sagte Felix und gab den Stoß zurück.

«Das stimmt», sagte Thibault. «Und es ist nicht das Schlechteste. Jetzt, zum Beispiel, fehlt mir nur ein Bett zu meinem Glück.»

«Und ich muss in den Wald», sagte Felix und sah Laura an. «Erlauben Sie, dass ich diesen jungen Mann mitnehme, falls er Lust hat?»

«Natürlich», erwiderte Laura und drückte Reuben die Hand. «Aber was ist mit Stuart?»

«Er ist in der Nähe», sagte Thibault. «Margon ist mit ihm rausgegangen, damit er sich austoben kann.»

«Aber da draußen sind doch Reporter», sagte Reuben. «Ich kann sie hören.»

«Genau wie Margon», sagte Felix beruhigend. «Sie kehren durch den Tunnel oder über das Dach ins Allerheiligste zurück. Machen Sie sich keine Sorgen. Überhaupt sollten Sie sich lieber daran gewöhnen, dass Sie sich von jetzt an keine Sorgen mehr zu machen brauchen.»

Laura stand mit den anderen auf und umarmte Reuben. Er spürte ihre heißen Brüste und drückte das Gesicht in ihre Halsbeuge. Er brauchte ihr nicht zu sagen, wie viel es ihm bedeutete, mit Felix den Wald zu durchstreifen.

«Komm bald zurück», flüsterte Laura.

Thibault war um den Tisch gekommen, um ihren Arm zu nehmen und sie wie ein formvollendeter Gentleman die Treppe hinaufzuführen.

Reuben wusste, dass Laura diese Geste zu schätzen wusste, als er ihr nachschaute. Dann sah er Felix an.

Felix lächelte ihm aufmunternd zu, und es war ihm anzusehen, wie sehr er sich freute, einen jungen Gefährten zu haben.