26

Er fing Grace ab, als sie das Haus betrat. Niemand war da gewesen, als er zu Hause ankam, und er hatte alles an Kleidung und Büchern zusammengepackt, was er brauchte, und es in seinem Porsche verstaut. Er war nur in den Hausflur zurückgekehrt, um die Alarmanlage wieder einzuschalten.

Fast hätte sie laut aufgeschrien. Sie trug noch ihre grüne OP-Kleidung, hatte das rote Haar aber schon gelöst, und ihre Haut zeichnete sich leichenblass gegen Haar und Augenbrauen ab, was sie erschöpft und verzweifelt wirken ließ.

Im nächsten Moment umarmte sie ihn. «Wo hast du die ganze Zeit gesteckt?», fragte sie vorwurfsvoll. Dann küsste sie ihn auf beide Wangen und nahm sein Gesicht in die Hände. «Warum hast du nicht angerufen?»

«Alles in Ordnung, Mom. Mir geht’s gut», sagte er. «Ich bin in meinem Haus in Mendocino. Ich brauche das jetzt. Ich bin nur kurz vorbeigekommen, um dir zu sagen, dass ich dich lieb habe und dass du dir keine Sorgen zu machen brauchst.»

«Nein, Reuben, du musst hierbleiben!» Sie sprach so leise, wie sie es nur tat, wenn sie der Hysterie nahe war. «Ich lasse nicht zu, dass du wieder weggehst.»

«Doch, ich gehe, Mom. Es geht mir gut. Wirklich.»

«Nein, dir geht’s nicht gut. Schau dich doch an! Weißt du eigentlich, was mit deinen Testproben passiert ist, Blut, Urin, Gewebe …? Alles hat sich in Luft aufgelöst, Reuben! Alles!» Das letzte Wort modulierte sie nur noch tonlos mit den Lippen. «Du bleibst jetzt hier, Reuben! Wir müssen rausfinden, was mit dir los ist.»

«Keine Chance, Mom.»

«Reuben!» Grace zitterte. «Ich lasse dich nicht gehen.»

«Doch, Mom, du musst», sagte er. «Sieh mich an und hör mir zu. Ich weiß, dass ich mich verändert habe, seit diese Sache passiert ist. Psychisch und physisch. Aber du musst mir vertrauen, Mom. Ich gehe so verantwortungsvoll damit um, wie ich kann. Ich weiß, dass du mit diesem Arzt aus Paris …»

«Dr. Jaska», sagte Grace und schien froh zu sein, dass endlich die eigentliche Frage angesprochen wurde. «Dr. Akim Jaska. Er ist Endokrinologe und auf so etwas wie das hier spezialisiert.»

«Das weiß ich ja alles. Ich weiß auch, dass er in einer Privatklinik in Sausalito weitere Tests durchführen will und dass du das auch willst.»

Sie sagte weder ja noch nein und wirkte unentschlossen.

«Ist es nicht so?», fragte Reuben.

«Dein Vater ist dagegen», sagte sie. «Er mag Jaska nicht. Die ganze Sache missfällt ihm.»

Sie begann zu weinen, obwohl sie es gar nicht wollte. Wieder wurde sie ganz leise, als sie sagte: «Ich habe solche Angst um dich, Reuben.»

«Ich weiß, Mom. Ich habe ja selber Angst. Aber ich bitte dich zu tun, was das Beste für mich ist. Und das Beste für mich ist, mich zufrieden zu lassen.»

Grace riss sich von ihm los und lehnte sich mit dem Rücken an die Haustür. «Ich kann dich nicht gehen lassen.» Sie biss sich auf die Lippen. «Du schreibst die blumigsten Artikel über diesen Werwolf, dieses Monster, das dich angegriffen hat. Du hast ja keine Ahnung, was wirklich dahintersteckt.»

Es brach ihm das Herz, sie so zu sehen. Er bewegte sich auf sie zu, aber sie machte eine abwehrende Geste und schien wild entschlossen zu sein, ihn unter keinen Umständen gehen zu lassen.

«Mom!», flehte er.

«Reuben, dieser Wolfsmensch … dieses Ding tötet Menschen», stammelte sie. «Und jedes Beweisstück von dieser Bestie, das an den Tatorten gefunden wird, verschwindet auf mysteriöse Art. Das bedeutet nichts anderes, als dass es dasselbe Wesen ist, das dich angegriffen hat. Es hat dich mit etwas ganz Fürchterlichem infiziert, etwas extrem Gefährlichem, etwas, das dich von Grund auf verändert …»

«Glaubst du etwa, dass ich zum Werwolf werde?»

«Nein, natürlich nicht. Dieser Irre ist kein Werwolf. Was für ein Unsinn! Aber er ist verrückt. Ganz und gar verrückt. Von all seinen Opfern bist du der Einzige, der überlebt hat. In deinem Blut, deinen Sekreten steckt seitdem etwas, das helfen kann, diese Kreatur zu finden. Das ist die gute Nachricht. Die schlechte ist, dass wir nicht wissen, was dieser Virus mit dir macht.»

Immerhin wusste Reuben jetzt, wie sie die Sache sah. Natürlich. Es war logisch.

«Mein Baby, komm mit ins Krankenhaus und lass dich untersuchen! Nicht in diese ominöse Privatklinik, sondern ins San Francisco General …»

«Mom!» Reuben hielt es nicht mehr aus. «Ich dachte schon, du hältst mich für diesen Wolfsmenschen.» Es war schrecklich, sie so auf die Probe zu stellen, aber er konnte nicht anders. Am liebsten hätte er sie in den Arm genommen und sie vor der Wahrheit und all ihren Konsequenzen geschützt. Doch sie war nun einmal Dr. Grace Golding.

«Nein, Reuben. Du kannst nicht an senkrechten Mauern hochklettern und über Dächer fliegen, geschweige denn Menschen zerstückeln.»

«Dann bin ich ja erleichtert», murmelte Reuben.

«Aber diese Kreatur, wer oder was auch immer sie sein mag, ist möglicherweise hoch infektiös, verstehst du? Vielleicht verbreitet sie so etwas wie die Tollwut, etwas, das verrückt macht. Ich fürchte sogar, dass diese Bestie dich mit etwas viel Schlimmerem als der Tollwut angesteckt hat. Deswegen möchte ich, dass du mit mir auf der Stelle ins Krankenhaus gehst. Jaska sagt, er kennt Fälle mit verblüffenden Ähnlichkeiten. Er hält es für möglich, dass du mit einem zerstörerischen Virus infiziert worden bist.»

«Nein, Mom, ich kann nicht. Ich bin nur hergekommen, damit du dich mit eigenen Augen davon überzeugen kannst, dass es mir gutgeht.» Reuben versuchte es ihr leichtzumachen. «Nun hast du es gesehen, und ich werde gehen. Also geh bitte von der Tür weg und lass mich durch, Mom!»

«Gut, wenn du nicht ins Krankenhaus willst, dann bleib wenigstens hier», sagte Grace. «Ich lasse dich nicht fort.»

«Ich muss, Mom.»

Reuben schob sie zur Seite und musste dabei so grob werden, dass er es sich nie verzeihen würde. Bevor sie ihn zurückhalten konnte, war er draußen auf der Treppe, auf dem Weg zu seinem Wagen.

Sie stand in der Haustür, und als Reuben sich nach ihr umsah, kam sie ihm winzig vor. Winzig, verletzlich, schwach, verängstigt und vollkommen überfordert – seine wunderschöne Mutter, die tagtäglich Leben rettete.

Schon an der nächsten Straßenecke liefen ihm Tränen über die Wangen. Als er das Café erreichte, wo Laura auf ihn wartete, konnte er vor lauter Tränen nichts mehr sehen. Er gab ihr die Autoschlüssel und ging um den Wagen herum, um auf dem Beifahrersitz Platz zu nehmen.

«Es ist vorbei», sagte er, als sie auf der Schnellstraße waren. «Ich werde nie wieder Teil dieser Familie sein. Herrgott, was soll ich bloß tun?»

«Soll das heißen, sie weiß Bescheid?»

«Nein. Sie kennt ein paar Details, aber nicht die ganze Wahrheit, nicht das Wichtigste. Und ich kann es ihr nicht sagen. Lieber würde ich sterben.»

Noch bevor sie die Golden Gate Bridge überquerten, war er eingeschlafen.

Als er wieder aufwachte, war es schon fast Abend. Laura verließ den Highway 101 und bog in die Straße ein, die zur Nideck Road führte.