16

Während Laura noch schlief, legte Reuben frische Holzscheite in das sterbende Feuer im Wohnzimmerkamin. Ihm war zwar nicht kalt, aber er liebte den Anblick, wenn der Widerschein des Feuers über Decke und Wände zuckte und die Flammen neu aufloderten.

Er stand noch am Kamin, als sie hereinkam.

Sie hatte ein Nachthemd angezogen, das dem zerrissenen aus ihrer ersten Nacht glich, mit Manschetten und Kragen aus alter Spitze und kleinen Perlmuttknöpfen, die im Halbdunkel schimmerten.

Auch ihr Haar schimmerte seidig, denn sie hatte es gerade gekämmt.

Sie setzte sich in einen alten Sessel vorm Feuer und zeigte auf den daneben, der größer war und Reuben mehr Platz bot.

Er setzte sich und signalisierte ihr mit einer Geste, dass sie zu ihm kommen sollte.

Sie setzte sich auf seinen Schoß. Er umarmte sie, und sie legte den Kopf an seine Brust.

«Sie suchen dich», sagte sie. «Aber das weißt du, oder?»

«Ja, natürlich.» Er hatte sich immer noch nicht daran gewöhnt, wie tief und rau seine Stimme war. Dabei sollte er froh sein, dass er überhaupt noch sprechen konnte. «Hast du gar keine Angst, so ganz allein in diesem Haus?», fragte er. «Das heißt, ich sehe ja, dass du keine hast, aber warum nicht?»

«Wovor sollte ich denn Angst haben?», sagte sie. Sie sprach selbstsicher und ganz natürlich, während sie mit den Fingern in ihrem langen Haar spielte. Dann fuhr sie mit der Hand an seiner Brust hinab, umkreiste die Brustwarzen und zwickte zärtlich hinein.

«Böses Mädchen!», flüsterte er und erschauderte. Dann entfuhr ihm ein tiefes Knurren, und sie lachte leise.

«Im Ernst», sagte er. «Ich habe Angst um dich, wenn du hier so ganz allein bist.»

«Ich bin hier aufgewachsen», sagte sie mit der größten Selbstverständlichkeit. «Hier ist mir nie etwas Schlimmes passiert.» Nach einer kleinen Pause fügte sie hinzu: «Und es ist das Haus, in dem du zu mir gekommen bist.»

Er sagte nichts, sondern streichelte ihr nur übers Haar.

«Du bist derjenige, um den ich Angst habe», fuhr sie fort. «Seit du fortgegangen bist, habe ich mich beinahe zu Tode geängstigt. Und ich tue es immer noch. Vielleicht ist dir jemand gefolgt oder hat dich gesehen …»

«Niemand ist mir gefolgt», sagte er. «Ich würde es hören und riechen, wenn hier jemand wäre, der es nicht gut mit mir meint.»

Dann schwiegen sie eine Weile, und Reuben betrachtete das Feuer.

«Ich weiß, wer du bist», sagte er schließlich. «Ich habe über dich gelesen.»

Sie sagte nichts.

«Heute hat ja jeder eine Geschichte, die bestens dokumentiert ist. Ich weiß, was dir passiert ist.»

«Dann hast du mir was voraus», sagte sie. «Ich habe nämlich keine Ahnung, wer du bist und warum du zu mir gekommen bist.»

«Noch weiß ich das selbst nicht.»

«Dann warst du nicht immer so?»

«Nein.» Reuben lachte leise. «Ganz und gar nicht.» Er fuhr sich mit der Zunge über die Zähne und unter der seidigen Haut entlang, die dort saß, wo er als Mensch Lippen hatte.

«Hier kannst du jedenfalls nicht bleiben», sagte Laura. «Ich meine, hier in der Gegend. Sie werden dich finden. Die Welt ist so klein geworden, seit man praktisch überall überwacht werden kann. Wenn sie den kleinsten Hinweis finden, dass du hier im Wald warst, werden sie ihn durchkämmen. Er sieht zwar aus wie ein undurchdringlicher Urwald, aber das täuscht.»

«Ich weiß», sagte er.

«Du gehst ein hohes Risiko ein.»

«Ich höre Stimmen, denen ich folgen muss, fast gegen meinen Willen. Wenn jemand leidet oder im Sterben liegt, muss ich hin, um ihn zu retten.»

Nach und nach erzählte er ihr alles, etwa so, wie er es Jim erzählt hatte. Er sprach von den Gerüchen, die er wahrnahm, seinen Attacken gegen die Angreifer, von der Todesangst ihrer Opfer, von der Selbstverständlichkeit, mit der er unterscheiden konnte, wer gut und wer böse war, und von dem Mann, der seine Frau erschossen hatte.

«Stimmt», sagte sie. «Er hätte auch die Kinder getötet. Ich habe davon heute im Autoradio gehört.»

«Ich kam zu spät, um die Frau zu retten», sagte Reuben. «Ich bin nicht unfehlbar. Im Gegenteil. Ich mache furchtbare Fehler.»

«Aber du bist achtsam», beschwichtigte sie ihn. «So achtsam wie mit dem jungen Mann da oben im Norden.»

«Welcher junge Mann im Norden?»

«Der Reporter», sagte sie. «Der gutaussehende, in dem Haus in Mendocino.»

Reuben zögerte. Ein furchtbarer Schmerz durchzuckte ihn, und er sagte nichts.

«Die Frau in Mendocino hat nichts geahnt, oder?», fragte Laura.

«Nein.»

«Wäre es nicht so überraschend gekommen, hättest du bestimmt …» Laura sprach nicht weiter.

«Ja», sagte Reuben. «Sie haben sie überrascht. Mich auch.» Dann wurde er still.

Nach einer ganzen Weile fragte Laura sanft: «Warum bist du so weit nach Süden gegangen?»

Reuben verstand nicht, was sie meinte.

«Liegt es daran, dass es hier unten viel mehr Stimmen gibt?»

Reuben antwortete nicht, aber er glaubte zu verstehen, was sie meinte. Sie dachte wohl, er sei aus den Wäldern in die Gegend von San Francisco gekommen – eine vernünftige Überlegung.

Zu gern hätte er ihr alles gesagt, aber er konnte nicht. Noch nicht. Er konnte aber auch nicht aufhören, sie festzuhalten. Es war ein überwältigendes Gefühl, sie so liebevoll und schützend in den Armen zu halten. Er konnte ihr nicht sagen, dass er nicht immer seine gegenwärtige Gestalt hatte, sondern derjenige war, den sie als den «jungen Mann da oben im Norden» bezeichnete. Wenn sie es wüsste und sich dann wütend oder enttäuscht von ihm abwandte, würde er es nicht ertragen.

Der junge Mann da oben im Norden. Reuben versuchte sich seine menschliche Gestalt vorzustellen, Grace’ «Baby», Celestes «Sonnyboy», Jims «Kleinen» und Phils Sohn. Warum sollte sich Laura für diesen nichtssagenden jungen Mann interessieren? Allein der Gedanke war absurd. Schließlich hatte sich auch Marchent Nideck nicht wirklich für ihn interessiert. Sie fand ihn süß und nett und schätzte seine poetische Ader, aber vor allem sah sie in ihm einen reichen Erben, der ein geeigneter Käufer für Kap Nideck war. Das hatte aber nichts mit echtem Interesse zu tun, und Liebe war es schon gar nicht.

Bei Laura aber ging es um Liebe.

Er schloss die Augen und horchte auf ihren rhythmischen Atem. Sie war eingeschlafen.

Hinter den Fenstern murmelte der Wald. Reuben konnte einen Luchs riechen. Es machte ihn ganz unruhig. Er wollte ihn verfolgen, stellen, töten und sich dann an ihm weiden. Es war, als hätte er den Geschmack schon auf der Zunge. Ihm lief die Spucke im Maul zusammen. Auch die Bäche, die sich durch die Redwoodbäume schlängelten, murmelten. Eulen riefen in den Baumwipfeln. Allerlei kleines Getier huschte durchs Unterholz.

Reuben fragte sich, was Laura wohl von ihm hielte, wenn sie sah, wie er sich im Wald verhielt, wie er den kämpfenden, fauchenden Luchs tötete und sein noch warmes Fleisch verschlang. Das war das Beste an diesen Fressorgien: das frische Fleisch. Das Blut pulsierte noch, das Herz seiner Beute schlug noch. Was würde Laura denken, wenn sie all das wüsste?

Sie hatte ja keine Ahnung, wie es war, einem Mann den Arm auszureißen, geschweige denn den Kopf. Wie jeder Mensch blendete sie das Grauen aus, von dem sie tagtäglich umgeben war. Egal was sie schon alles erlitten hatte, war sie doch nie Augenzeugin eines gewaltsamen Todes gewesen. Nein, was er mit seinen Opfern anstellte, war selbst für jemanden mit der Lebensgeschichte von Laura etwas Unvorstellbares.

Nur wer Tag für Tag mit den Mördern dieser Welt zu tun hatte, wusste, wie sie wirklich waren. Als Reporter hatte er nicht lange gebraucht, um das zu begreifen. Die Polizisten, die er interviewt hatte, wussten es auch. Und Celeste, die sich verändert hatte, seit sie bei der Staatsanwaltschaft arbeitete. Auch Grace war, wie sie war, weil sie die Opfer sah, die mit Messern im Bauch und Kugeln im Kopf in die Notaufnahme geschoben wurden.

Doch Polizisten, Anwälte und Ärzte kamen mit tödlicher Gewalt erst im Nachhinein in Berührung. Sie waren nicht dabei, wenn der Mörder sein Opfer malträtierte. Sie konnten das Böse nicht riechen. Sie konnten die verzweifelten Hilfeschreie nicht hören.

Eine tiefe Traurigkeit überfiel ihn. Er begehrte Laura so sehr. Aber welches Recht hatte er, ihr diese furchtbaren Dinge zu erzählen? Durfte er ihr «Geschichten» erzählen, die alles plausibel und vernünftig klingen ließen, was vielleicht gar nicht plausibel und vernünftig war, sondern brutal und primitiv und finster?

Wenigstens diese Augenblicke mit ihr will ich genießen, dachte er. Hier am Kamin, in dem kleinen Haus, in dem alles schön und einfach ist. Wenigstens das hier soll schön und unbelastet sein.

Er schlummerte ein und spürte nur noch ihren Herzschlag.

Eine Stunde oder mehr verging.

Dann schlug er die Augen auf. Der Wald lag ganz still da.

Trotzdem stimmte da draußen etwas nicht. Und zwar ganz und gar nicht. Eine Stimme durchdrang die Stille, eine dünne, schrille, verzweifelte Stimme.

Es war ein Mann. Er schrie um Hilfe. Weit hinter dem Wald. Reuben kannte die Richtung. Er wusste auch, dass der Geruch ihn leiten würde.

Er trug Laura ins Schlafzimmer und legte sie sanft aufs Bett. Trotzdem schreckte sie auf, kam hoch und stützte sich auf die Ellenbogen.

«Du gehst?»

«Ich muss. Ich werde gerufen.»

«Man wird dich fangen. Sie sind überall.» Laura begann zu weinen. «Hör auf mich!», flehte sie. «Du musst in den Norden zurück, in die Wälder, weit weg von hier!»

Er beugte sich über sie und küsste sie. Dann wandte er sich zum Gehen. «Ich komme bald wieder.»

Sie folgte ihm, aber in Sekundenschnelle war er auf der Lichtung, sprang auf einen Baum und machte sich in den Wipfeln der Redwoodbäume auf den Weg zur Küste.

Stunden später stand er in einem Wäldchen und blickte auf den gigantischen Pazifik. Kalt lag er unter einem tiefen silbrigen Himmel. Der Mond hinter den Regenwolken schien nur auf einen Teil des unruhigen Wassers. Reuben wünschte, der Mond teilte sein Geheimnis und wüsste die Wahrheit über ihn. Aber der Mond war nur der Mond.

Er verfolgte den Wagen, in dem der Mann gefangen gehalten wurde, und sprang von den Bäumen auf das Wagendach. Als der Wagen langsamer wurde, weil er auf eine gefährliche Kurve des Highway 1 zufuhr, riss er die Türen auf und zerrte die widerlichen, brutalen Verbrecher heraus. Sie hatten den Begleiter des Mannes erschossen, ihn selbst aber am Leben gelassen. Gefesselt, geknebelt und dem Ersticken nah lag er im Kofferraum. Sie wollten ihn zwingen, an einem Geldautomaten Geld abzuheben. Mit ein paar Hundert Dollar würden sie sich zufriedengeben und den Mann dann töten, so wie sie schon den anderen getötet hatten.

Bevor Reuben den Mann befreite, zerfleischte und verschlang er die Verbrecher. Dann setzte er den Mann auf die Klippen am Meer und versprach ihm, dass bald Hilfe kommen würde. Danach lief er über die Klippen, genoss den salzigen Wind und ließ sich vom Regen das Blut aus dem Fell waschen.

Der Sonnenaufgang nahte, und er war erschöpft. Er fühlte sich so einsam, als hätte er Laura nie in den Armen gehalten.

Wir alle brauchen Liebe, selbst die übelsten Mörder und die mörderischsten Tiere. Wir alle brauchen Liebe.

So schnell er konnte, kehrte er zu seinem Porsche am Panoramic Highway zurück. In seinem Versteck wartete er auf die Rückverwandlung. Wieder kam sie schneller als gedacht. Es schien wirklich so zu sein, dass er den Prozess willentlich steuern konnte. Er konzentrierte sich darauf, es schnell hinter sich zu bringen.

Dann fuhr er nach Mill Valley und checkte in dem hübschen kleinen Mill Valley Inn ein. Sich mitten in der Throckmorton Street im Zentrum der kleinen Stadt zu verstecken war eine gute Idee. Kein Mensch würde den Wolfsmenschen dort vermuten. Außerdem wollte er Laura noch einmal sehen, bevor er in den Norden zurückkehrte – vielleicht für lange Zeit.