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Es war die seltsamste Party, auf der Reuben je war.
Die Spurensicherung mit Beamten aus San Francisco, Mendocino County und vom FBI hatte ihre Arbeit erledigt und war wieder abgezogen.
Simon Oliver war mit Verdacht auf Herzinfarkt in die nächste Notaufnahme gebracht worden, aber es hatte sich herausgestellt, dass er lediglich eine Panikattacke erlitten hatte.
Die letzten Zeugen wurden noch vernommen, aber die meisten waren nur noch hier, um sich von dem Schrecken zu erholen. Im ganzen Haus roch es nach Regen, Kaffee, Zitronentee und Rotwein.
Alle Kekse, die man finden konnte, waren aus den Vorratskammern geholt und auf Tabletts gelegt, Salamis aufgeschnitten und mit Crackern und Senf serviert worden. Die Frau eines stellvertretenden Sheriffs aus der näheren Umgebung hatte frischgebackenes Kürbisbrot vorbeigebracht.
Im Frühstückszimmer, in der Küche und im Esszimmer saßen oder standen Menschen in kleinen Grüppchen zusammen und erzählten sich gegenseitig immer wieder, was passiert war, wiederholten, was sie vor dem Sheriff, der Autobahnpolizei und den Mitarbeitern des Staatsanwalts von Fort Bragg ausgesagt hatten.
Galton und seine Cousins hatten ihr Bestes getan, um das Bibliotheksfenster wetterfest zu machen, und es mit Plastikplanen abgedichtet. Auch die Haustür hatten sie repariert und wieder eingehängt.
Alle hielten sich an irgendeinem Getränk fest und redeten miteinander.
In den Kaminen brannten große Feuer. Alle Lampen waren angeschaltet – Wand- und Deckenlampen genau wie die kleinen Tischleuchten in den Nischen und auf Truhen, die Reuben vorher noch nie benutzt hatte.
Einige jüngere Autobahnpolizisten und Sanitäter waren geblieben und bewegten sich wie Singles durch die Räume, sich gegenseitig und die «wichtigen» Gäste beäugend, die in kleinen Grüppchen herumstanden.
Dr. Cutler hatte sich tief in das große alte Sofa neben dem Dielenkamin gekauert. Obwohl sie eine Wolldecke um die Schultern gelegt hatte, zitterte sie – nicht vor Kälte, sondern von den Nachwirkungen des Schocks. Sie sprach mit einem Polizisten und sagte: «Es muss sich um eine Spezies handeln, für die es keinen wissenschaftlichen Begriff gibt. Oder es ist eine monströse Mutation mit übermäßigem Knochenwachstum und abnormer Behaarung. Wenn ich nur dran denke, wie der Fußboden unter seinen Schritten gezittert hat! Das Ding muss dreihundert Pfund wiegen.»
Grace, Phil und Jim saßen am großen Esstisch und unterhielten sich mit Felix, der ihnen erklärte, dass Jaska und Klopow seit Jahren mit Menschenversuchen in Verbindung gebracht würden, die zuerst von der sowjetischen Regierung finanziert wurden und später von fragwürdigen Privatiers mit dubiosen Motiven.
«Soviel ich weiß, betrieben sie Okkultismus», sagte er, «und behaupteten, die Sowjets hätten die Bedeutung alter Sagen und Legenden verstanden, die von anderen aus purer Dummheit nicht ernst genommen würden.»
Grace betrachtete Felix mit offensichtlichem Wohlwollen.
«Sie meinen, die haben sich für Wolfsmenschen und so weiter interessiert und für Privatleute medizinische Forschungen an Menschen angestellt?», fragte Phil.
Jim blickte ernst drein und beobachtete Felix unauffällig, als er sprach.
«Überrascht Sie das wirklich?», fragte Felix. «Es gibt Wissenschaftler, die milliardenschweren Auftraggebern fragwürdige Verjüngungskuren verpassen, Wachstumshormone, Stammzellen, Schafssekrete, geklonte Haut- und Knochenimplantate, ganz zu schweigen von Schönheitsoperationen, die sich sonst kein Mensch leisten kann. Niemand weiß, wohin ihre Forschungen sie geführt haben, welche Erkenntnisse sie gewonnen haben. Sie beanspruchten das Monopol der Forschung über Wolfsmenschen für sich, obwohl es möglicherweise sogar geheime amerikanische Labors gibt, die sich mit dieser Thematik befassen.»
Grace murmelte etwas davon, dass es immer Wissenschaftler und Ärzte gäbe, die sich nicht an moralische Standards gebunden fühlten und glaubten, sie könnten tun und lassen, was sie wollten.
«Genau», sagte Felix. «Als ich von Arthur Hammermill hörte, dass Jaska Reubens Familie unter Druck setzte, dachte ich, dass wir vielleicht helfen könnten.»
«Sie haben die beiden Russen in Paris kennengelernt?», fragte Phil.
«Ich kenne sie schon länger», sagte Felix. «Und ihre Methoden waren mir von Anfang an suspekt. Ich habe ihnen alles zugetraut. Ich nehme an, die Polizei wird ihr Reha-Zentrum in Sausalito als eine Scheineinrichtung enttarnen. In Wahrheit hatten sie wahrscheinlich vor, Stuart und Reuben außer Landes zu bringen.»
«Und alles nur, um herauszufinden, warum die jungen Männer diese merkwürdigen Symptome aufweisen …», sagte Phil kopfschüttelnd.
«Weil sie von dieser Kreatur gebissen worden sind», sagte Grace und schüttelte ebenfalls den Kopf. «Sie wollten herausfinden, ob mit dem Speichel des Wolfsmenschen etwas übertragen wurde, das aus dem Blut der Opfer isoliert werden kann.»
«Ganz genau», sagte Felix.
«Nun, da wären sie enttäuscht worden», sagte Grace. «Wir haben ja selbst schon alles getestet, was irgend getestet werden konnte.»
«Du unterschätzt die Möglichkeiten, die solche Leute haben», sagte Phil. «Du bist ja keine Forscherin im eigentlichen Sinne, sondern Chirurgin. Aber die beiden waren so etwas wie die Erschaffer von Frankenstein.»
Jim warf Reuben einen vielsagenden Blick zu und sah müde, besorgt und beinahe ängstlich aus. Er hatte Simon Oliver zum Krankenhaus begleitet und war erst vor einer Stunde zurückgekehrt.
«Eins ist jedenfalls gewiss», sagte Grace. «Egal ob wir Chirurgen, Priester oder Dichter sind – wir alle haben dieses Monster mit eigenen Augen gesehen.»
«Das wird kaum eine Rolle spielen», sagte Phil. «Es ist wie mit Gespenstern. Wenn du eins siehst, glaubst du an seine Existenz, aber niemand wird dir glauben. Du wirst es erleben, Grace! Man wird uns auslachen, genau wie jetzt schon alle ausgelacht werden, die behaupten, sie hätten diese Kreatur gesehen. Selbst wenn sich alle Augenzeugen am gleichen Fleck versammelten und eine eindrucksvolle Demonstration abhielten, würde es keinen Unterschied machen.»
«Das stimmt», sagte Jim.
«Und was schließen Sie daraus?», fragte Felix und sah Grace aufmerksam an. «Hat es Ihnen eine Erkenntnis vermittelt, die Sie vorher nicht hatten?»
«Dass es real ist», sagte Grace und zuckte mit den Schultern. «Kein verkleideter Verbrecher und kein Hirngespinst. Es muss sich um eine Laune der Natur handeln, eine ziemlich üble allerdings. Ein Mensch mit einer monströsen Deformierung. Bestimmt kommt eines Tages ans Licht, um was es sich genau handelt.»
«Durchaus möglich», sagte Felix.
«Und wenn es eine unbekannte Spezies ist?», sagte Phil. «Ein Lebewesen, das einfach nur noch nicht entdeckt wurde?»
«Unsinn», sagte Grace. «Das ist heutzutage nicht möglich. Nicht hier. In Neuguinea vielleicht, aber nicht hier. Nein, nein. Es ist ein Einzelexemplar, das so geworden ist, weil ihm etwas Schreckliches zugestoßen ist … oder es ist etwas, das man früher als Missgeburt bezeichnet hätte.»
«Hmmm, ich weiß nicht», sagte Phil skeptisch. «Was könnte eine derartige Fehlentwicklung denn verursacht haben?»
«Bestimmt findet sich eines Tages eine Erklärung», sagte Grace überzeugt. «Früher oder später wird diese Kreatur eingefangen. In unserer modernen Welt gibt es keine Schlupflöcher mehr. Und erst wenn man weiß, worum es sich bei diesem Wolfsmenschen genau handelt, wird wieder Ruhe einkehren. Bis dahin wird die Hysterie über den Wolfsmenschen weiter um sich greifen, und man wird ihn weiter als den neuen Superhelden feiern. Dabei ist er nur ein bedauernswertes Wesen. Wenn er tot ist, wird man ihn vielleicht ausstopfen und in einer Glasvitrine im Smithsonian Museum aufstellen. Die Leute werden ihren Enkelkindern erzählen, dass sie ihn mit eigenen Augen gesehen haben, als er noch als Wohltäter der Menschheit galt. Man wird ihn romantisieren und Mitleid mit ihm haben, so wie seinerzeit mit dem Elefantenmenschen.»
Jim sagte nichts.
Reuben ging in die Küche, wo der Sheriff den dreizehnten Kaffee trank und sich mit Galton über Werwolfgeschichten «aus dieser Gegend» unterhielt, die vor langer Zeit spielten.
«Und dann gab’s da doch diese geisteskranke Lady», sagte der Sheriff. «Hier im Haus soll sie gewohnt haben. Ich weiß noch, dass meine Großmutter von ihr erzählte. Sie soll dem Bürgermeister von Nideck erzählt haben, dass hier in den Wäldern Werwölfe hausten.»
«Keine Ahnung, wovon Sie sprechen», sagte Galton. «Ich bin älter als Sie und habe noch nie etwas davon gehört.»
«Doch, doch! Die Lady ging so weit zu behaupten, die Nidecks seien alle Werwölfe. Sie muss sich ziemlich aufgeführt haben. Getobt und geschrien soll sie haben, weil sie unbedingt wollte, dass man ihr glaubt.»
«Also wirklich … Ihre Großmutter muss eine blühende Phantasie gehabt haben», sagte Galton.
Stuart war mit Margon Sperver verschwunden. Baron Thibault half Laura, die letzten Feigenkekse und Kokosmakronen auf ein chinesisches Tablett mit zartem Blumendekor zu legen. Die ganze Küche roch nach Äpfeln und Zimttee. Laura sah äußerst angespannt aus, aber sie schien Thibault zu mögen, denn sie hatte sich schon den ganzen Abend mit ihm unterhalten.
«Moralität ist aber immer eine Frage des Kontextes», hörte Reuben ihn zu Laura sagen. «Und das meine ich jetzt nicht relativistisch. Aber zu ignorieren, in welchem Kontext eine bestimmte Entscheidung getroffen wird, ist per se amoralisch.»
«Wie wären dann unveränderliche Wahrheiten definiert?», fragte Laura. «Ich verstehe, was Sie meinen, aber mir leuchtet nicht ein, was moralisches Handeln in einem ständig veränderlichen Kontext ausmacht.»
«Der Schlüssel ist die Anerkennung der genauen Umstände, unter denen moralische Entscheidungen gefällt werden», sagte Thibault.
Die ersten Gäste begannen zu gehen.
Die letzten Zeugenbefragungen waren abgeschlossen, und der Sheriff gab bekannt, die Suche nach dem Wolfsmenschen in der näheren Umgebung sei vorerst beendet. Außerdem habe er gerade erfahren, Jaska und Klopow würden im Zuge polizeilicher Ermittlungen in Deutschland und Frankreich von Interpol gesucht.
In der Nähe von San Jose hatte jemand sehr gute Fotos von dem Wolfsmenschen gemacht. «Auf mich wirken sie echt», sagte der Sheriff mit Blick auf sein iPhone. «Es ist unsere Bestie. Sehen Sie selbst! Die Frage ist nur, wie dieses Vieh in so kurzer Zeit so weit kommen konnte.»
Die Spurensicherung rief an und sagte, der Tatort könne wieder freigegeben werden.
Bald herrschte allgemeiner Aufbruch.
Reubens Familie hatte ein Flugzeug gechartert, das auf sie wartete. Reuben begleitete seine Mutter zur Tür.
«Die Freunde der Nidecks waren eine große Hilfe», sagte Grace. «Dieser Felix hat es mir besonders angetan. Zuerst dachte ich, Arthur Hammermill sei heimlich verliebt, als er von dem Mann regelrecht ins Schwärmen kam, aber jetzt verstehe ich ihn.»
Zärtlich küsste sie Reuben auf beide Wangen.
«Begleite Stuart bitte ins Krankenhaus, wenn Dr. Cutler ihm seine Spritzen gibt.»
«Natürlich, Mom. Ich betrachte ihn als meinen kleinen Bruder.»
Grace sah ihn nachdenklich an.
«Denk nicht andauernd über die offenen Fragen nach, Mom», sagte Reuben. «Du selbst hast mir beigebracht, dass man mit offenen Fragen einfach leben muss.»
«Hast du Angst, dass ich mir Sorgen mache, Reuben? Ich muss dir gestehen, dass dieser Abend auf gewisse Weise eine Befreiung für mich war. Natürlich war es schrecklich, und ich möchte so etwas nicht noch einmal erleben. Aber eines Tages werde ich dir sagen, was meine eigentliche Befürchtung war.» Müde schüttelte sie den Kopf. «Die Medizin verblüfft heute manchmal die rationalsten Menschen. Als Arzt sieht man tagtäglich die unerklärlichsten und unglaublichsten Dinge. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie erleichtert ich bin.» Sie zögerte, als wollte sie sich näher erklären, doch dann sagte sie nur: «Chirurgen können genauso abergläubisch sein wie alle anderen.»
Schweigend gingen sie zu dem wartenden Wagen.
Reuben umarmte Jim und versprach, ihn bald anzurufen. «Ich weiß, was für eine Last du mit dir herumträgst», flüsterte er ihm ins Ohr. «Ich mute dir eine Menge zu.»
«Hast du jetzt das ganze Haus voll von diesen Kreaturen?», fragte Jim. «Wie soll es weitergehen, Reuben? Wo willst du hin? Gibt es einen Weg zurück? Heute Abend haben sie alle perfekt getäuscht, aber wie lange kann das gutgehen?» Im nächsten Moment bereute er, was er gesagt hatte, und umarmte Reuben noch einmal.
«Die Ereignisse von heute haben mir erst mal Zeit und Luft verschafft», sagte Reuben.
«Ich weiß. Und ich gönne es dir, Reuben. Ich möchte nicht, dass dir jemand weh tut, dass du gefangen oder verletzt wirst. Aber ich weiß nicht, was ich für dich tun kann.»
Einige Polizisten machten immer noch Fotos, und der Sheriff ermahnte sie: «Aber nichts privat bei Facebook posten!»
Es schien ewig zu dauern, bis alle gegangen waren.
Dr. Cutler war die Letzte. Sie hatte noch einmal nach Stuart sehen wollen, aber schließlich eingesehen, dass man den Jungen nach allem, was er durchgemacht hatte, nicht wecken sollte. Seine Mutter sollte noch einige Tage im Krankenhaus bleiben. Reuben versprach der Ärztin, dass er Stuart begleiten würde, wenn er sie besuchte. Sie solle sich keine Sorgen machen.
Phil umarmte Reuben unbeholfen. «Ich warne dich, mein Sohn: Eines Tages stehe ich unangemeldet mit einem Köfferchen vor der Tür.»
«Das wäre schön», sagte Reuben. «Ein Stück weiter in Richtung der Klippen steht ein Gästehaus mit wunderbarem Meerblick. Es muss grundrenoviert werden, aber es wäre ideal für dich. Du könntest Tag und Nacht Schreibmaschine schreiben, ohne jemanden zu stören.»
«Mach mir den Mund nicht wässrig, sonst niste ich mich hier noch ein. Sehr zur Freude deiner Mutter. Sag einfach Bescheid, wenn’s dir passt, okay?»
Reuben küsste ihn auf die Bartstoppeln und half ihm in den Wagen.
Schließlich waren alle weg. Reuben ging durch den Regen ins Haus zurück und verriegelte die Tür.