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Reuben kannte sich im Hinterland von Marin County genauso gut aus wie in den Straßen von San Francisco. Als Kind und Jugendlicher hatte er oft Freunde in Sausalito und Mill Valley besucht und die obligatorischen Wanderungen auf den Mount Tamalpais und durch die atemberaubenden Muir Woods gemacht.

Deswegen hatte er es eigentlich nicht nötig, das Büro des Sheriffs aufzusuchen, bevor er sich an die Verfolgung machte, aber er tat es trotzdem, denn sein Gehör war schärfer denn je, und er hoffte, Stimmen zu hören, ohne selbst gesehen zu werden.

Er parkte nahe dem Gemeindezentrum von San Rafael und nahm seinen Beobachtungsposten zwischen den Bäumen ein, weit entfernt vom Stimmengewirr der Reporter, die das Büro des Sheriffs belagerten.

Er schloss die Augen und versuchte sich auf die Stimmen im Büro zu konzentrieren. Es musste Schlüsselworte geben, denen er Informationen entnehmen konnte. Binnen Sekunden empfing er die ersten Signale. Ja, die Kidnapper hatten sich wieder gemeldet, aber das wollte man der Öffentlichkeit noch nicht mitteilen. «Wir geben nur raus, was der Sache dient», sagte ein Mann im Befehlston. «Und das hier dient der Sache nicht.» – «Sie drohen damit, noch ein Kind zu töten.»

Mehrere Leute redeten durcheinander, und es klang nach Protest. Argument – Gegenargument. Die Bank auf den Bahamas zeigte sich wenig kooperativ, und die eigenen Hacker waren bis jetzt nicht weit genug gekommen, um den Weg des Lösegelds zuverlässig verfolgen zu können.

Trotz Regen und Brandung hatte die Leiche des kleinen Mädchens Bodenspuren an Schuhen und Kleidung aufgewiesen, die aus Marin County stammen mussten. Natürlich war daraus noch nichts Endgültiges zu schließen, aber das Fehlen anderer Bodenproben war ein gutes Zeichen, und es erhärtete Reubens Verdacht.

Im Schritttempo patrouillierten Streifenwagen auf den bewaldeten Hügeln. Hier und da wurden Verkehrskontrollen durchgeführt, und einzelne Teams gingen von Tür zu Tür, um die Anwohner zu befragen und Häuser zu durchsuchen. Also musste er achtgeben, den Gesetzeshütern nicht in die Quere zu kommen.

Er wollte gerade zu seinem Wagen zurückgehen, als ihn etwas übermannte. Es war ein Geruch – der Geruch des Bösen, den er schon in den vorigen Nächten wahrgenommen hatte.

Irritiert setzte er seinen Weg fort. Gerade jetzt wollte er sich von nichts und niemandem von der Entführung ablenken lassen. Dann erhoben sich zwei Stimmen über das allgemeine Gemurmel der Reporter. Es waren junge Stimmen, die sich über etwas lustig machten. Sie stellten scheinbar naive Fragen und amüsierten sich über Antworten, die sie bereits kannten. Bösartig, ohne Frage. «Wir wollen was für unsere Studentenzeitung schreiben und dachten, dass Sie uns vielleicht …» – «Und die haben das arme Mädchen wirklich totgeschlagen?»

Reuben spürte das Kribbeln auf der ganzen Haut. Es war ebenso willkommen wie erschreckend.

«Na, dann gehen wir mal wieder. Wir müssen nach San Francisco zurück.» Aber das stimmte nicht.

Reuben schlich an den Rand des Gebüschs, hinter dem er sich versteckte. Dann sah er die jungen Männer. Frisuren, die in Princeton gerade Mode waren. Blaue Collegeblazer. Grinsend winkten die beiden den Reportern zum Abschied zu und gingen über den Parkplatz zu einem Landrover, der mit eingeschalteten Scheinwerfern auf sie wartete. Der Fahrer war nervös und schwitzte vor Angst. Beeilt euch!

Was folgte, klang in Reubens Ohren wie eine Kakophonie – dieses Kichern und Prahlen. Sie genossen die Gefahr, das Versteckspiel, als sie in den Wagen stiegen. Der Fahrer war ein selbstsüchtiger Feigling ohne jedes Mitgefühl für die Opfer. Auch das konnte Reuben riechen.

Er umrundete den Parkplatz und folgte dann dem Landrover, der Richtung Küste fuhr.

Es war gar nicht nötig, die Rücklichter im Blick zu behalten. Reuben verstand jedes Wort des schändlichen Gesprächs. «Die wissen einen Scheiß!»

Der Fahrer war beinahe hysterisch. Ihm gefiel das Ganze nicht, und er wünschte, er hätte sich gar nicht erst darauf eingelassen. Immer wieder sagte er, er wolle aussteigen, egal was die anderen davon hielten. Es sei eine hirnverbrannte Idee gewesen, herzukommen und sich unter die Reporter zu mischen. Doch die anderen beiden ignorierten ihn und beglückwünschten sich gegenseitig zu ihrem Coup.

Die ganze Luft war von ihrem Geruch durchdrungen. So stark hatte Reuben ihn noch nie empfunden.

Er folgte ihm durch die Nacht. Das Gespräch drehte sich jetzt um technische Fragen. Sollten sie die Leiche jetzt gleich auf die Muir Woods Road werfen oder lieber bis zum Morgengrauen warten?

Die Leiche. Reuben konnte sie riechen. Sie lag bereits im Landrover. Noch ein Kind. Sein Sehvermögen nahm zu. Er konnte die jungen Männer im Wagen vor sich sehen. Die lachende Silhouette des einen zeichnete sich klar und deutlich gegen das Rückfenster ab. Dann hörte er den Fahrer fluchen, weil die Sicht wegen des Regens so schlecht war.

«Wie oft soll ich euch noch sagen, dass die Muir Woods Road zu nah ist?», sagte er. «Ihr werdet unvorsichtig.»

«Quatsch! Je näher, desto besser. Begreifst du nicht, dass das der Clou ist? Am besten legen wir die Leiche direkt vors Büro des Sheriffs.»

Gelächter.

Reuben verringerte den Abstand. Der Geruch wurde so stark, dass er kaum noch Luft bekam. Er mischte sich mit dem der verwesenden Leiche. Reuben musste würgen.

Das Kribbeln auf seiner Haut wurde immer stärker. Seine Brust krampfte sich zusammen, aber es war eher lust- als schmerzvoll. Langsam wuchs ihm das Fell. Es war, als streichelte jemand seinen Körper von Kopf bis Fuß, um ihm Kraft zu geben und ihn zu stimulieren.

Der Landrover beschleunigte.

«Okay, wir warten noch bis fünf. Wenn sie sich bis dahin nicht per E-Mail gemeldet haben, geben wir ihnen die zweite Leiche. Es muss so aussehen, als hätten wir den Kleinen gerade erst umgebracht.»

Dieses Mal war es also ein Junge.

«Wenn sich bis Mittag immer noch nichts getan hat, kriegen sie die Lehrerin mit den langen Haaren.»

Herrgott, waren denn alle schon tot?

Nein, das war es nicht. Vielmehr unterschieden sie nicht zwischen Lebenden und Toten, weil sie nach und nach alle töten wollten.

Je weiter sie fuhren, desto wütender wurde Reuben.

Inzwischen war er gewachsen, sodass sein Kopf ein ganzes Stück über das Lenkrad hinausragte. Seine Hände waren vollkommen behaart. Festhalten! Bloß das Steuer nicht loslassen! Seine Finger hatten die Form nicht verändert. Aber die Mähne fiel ihm jetzt bis auf die Schultern, und sein Sehvermögen schärfte sich minütlich. Im Umkreis von ein paar Hundert Metern konnte er jetzt so gut wie alles hören.

Der Porsche fuhr wie von allein.

Der Landrover bog ab. Dann ging es durch das waldige Städtchen Mill Valley, das an einer gewundenen Straße lag.

Reuben ließ sich etwas zurückfallen.

Andere Stimmen drangen zu ihm durch.

Es waren die Kinder. Sie weinten und schluchzten, während die Lehrerinnen sie zu beruhigen versuchten und ihnen etwas vorsangen. Keiner bekam genügend Luft. Manche husteten, andere stöhnten. Reuben spürte, dass sie sich in völliger Dunkelheit befanden. Und dass er ganz nah war!

Der Landrover beschleunigte wieder und fuhr einen unbefestigten Feldweg hinunter. Die Bäume links und rechts verschluckten das Scheinwerferlicht.

Reuben wusste genau, wo sich die Kinder befanden. Er konnte es spüren.

Er lenkte den Porsche in ein Eichendickicht auf dem Hügel, von dem der Landrover ins steil abfallende Tal fuhr, und stieg aus, um die unbequemen Kleider und Stiefel auszuziehen. Seine Verwandlung schritt jetzt rapide voran und versetzte ihn auch dieses Mal in Ekstase.

Am liebsten wäre er sofort losgegangen und musste sich zwingen, erst die Kleider im Wagen zu verstecken. Er wusste, wie wichtig es war. Genauso wichtig war es, den Wagen abzuschließen und den Schlüssel im Wurzelwerk eines nahen Baums zu verstecken.

Der Landrover war jetzt im Tal und bog in eine Lichtung ein. Dort lag ein großes ansehnliches Haus mit drei Stockwerken, die alle hell erleuchtet waren. Im hinteren Teil des Grundstücks, halb von Bäumen verdeckt, lag eine alte, von Kletterpflanzen überwucherte Scheune.

Die Kinder und ihre Lehrerinnen waren in der Scheune.

Wie beißender Rauch stieg Reuben das Gerede der jungen Männer in die Nase.

Er rannte den Hügel hinunter und kam den Kidnappern von Baum zu Baum, von einem verschlafenen Haus zum anderen, mit jedem kraftvollen Sprung näher, bis er die Lichtung erreichte.

Die jungen Männer betraten das Haus.

Es strahlte wie ein Geburtstagskuchen in den dunklen Himmel.

Plötzlich brach ein lautes Grollen aus Reuben heraus, ehe er es verhindern konnte. Es musste einfach raus, weil es ihm sonst die Brust zerrissen hätte. Es war ein Geräusch, wie es nur ein wildes Tier machen konnte.

Die drei jungen Männer drehten sich im Hausflur um und sahen das Tier auf sich zustürmen. Sie waren neunzehn oder zwanzig. Ihre Schreie gingen in Reubens Gebrüll unter. Der Fahrer fiel hin, aber die anderen beiden, die draufgängerischen, gutgelaunten, ergriffen die Flucht.

Mühelos packte Reuben den ersten, schlitzte ihm den Hals auf und sah zu, wie das Blut herausspritzte. Am liebsten hätte er ihm die Zähne ins Fleisch geschlagen und ihn verschlungen, aber dazu war jetzt keine Zeit. Er hob den leblosen Körper an und zerquetschte ihn gierig zwischen seinen Pfoten. Dann ließ er von ihm ab und schleuderte ihn fort, in Richtung Straße.

Es war höchst unbefriedigend, seine Beute nicht ausweiden zu können. Alles ging viel zu schnell.

Sekunden später warf er sich auf die anderen beiden, die durch die Hintertür fliehen wollten und feststellten, dass sie verschlossen war. Einer kratzte verzweifelt an der Glasscheibe. Der andere hatte eine Pistole. Reuben schlug sie ihm aus der Hand und brach ihm dabei das Handgelenk.

Diesen hier würde er zerfleischen und verschlingen, er konnte sich nicht beherrschen, er musste es einfach tun. Der Heißhunger war übermächtig. Und warum auch nicht? Er würde den Kerl ja eh nicht am Leben lassen.

Auch das Grollen konnte er nicht unterdrücken, als er seine Zähne in Kopf und Hals des Mannes schlug. Dann biss er so kräftig zu, wie er konnte, und spürte, wie Knochen zersplitterten. Es knackte und krachte. Ein Wimmern kam aus dem sterbenden Mann.

Reuben genoss es, das Blut aufzulecken, das dem Mann übers Gesicht rann. Mörder! Widerwärtiger Mörder!

Dann biss er ihm in die Schulter und zerrte daran. Der Geschmack war überwältigend, aber alles stank nach dem Bösen, nach abgrundtiefer Verderbtheit. Am liebsten hätte Reuben dem Mann das Innerste nach außen gekehrt und ihn in tausend Stücke gerissen. Schon so lange hatte er sich danach gesehnt, dass er nicht verstand, warum er es sich jetzt versagte.

Doch wo war der Dritte? Er durfte den Letzten des Trios nicht entkommen lassen.

Aber der hatte ohnehin keine Chance. Hilflos war er in einer Ecke zusammengesunken und zitterte am ganzen Körper, die Hände abwehrend von sich gestreckt. Speichel tropfte ihm aus dem Mund – oder war es Erbrochenes? Er hatte sich sogar in die Hose gemacht und hockte in einer Pfütze seines eigenen Urins.

Sein erbärmlicher Anblick brachte Reuben noch mehr in Rage. Er hat die Kinder ermordet. Kaltblütig ermordet. Das ganze Haus stinkt nach Mord. Und nach Feigheit. Reuben warf sich auf ihn, schlug ihm die Vorderpfoten in die Brust und zerquetschte sie. Wieder hörte er Knochen knacken, und er blickte dem Mann so lange in das fahle, angstverzerrte Gesicht, bis das Leben aus seinen Augen wich. Du stirbst viel zu schnell, du Bestie!

Er trampelte den verkrampften Körper nieder, aber das war ihm noch nicht genug. Immer noch stieß er sein wütendes Grollen aus. Wieder hob er den leblosen Körper an und schleuderte ihn gegen ein Fenster, sodass ein Scherbenregen niederging und die Leiche unter sich begrub.

Plötzlich fühlte er sich ganz leer und enttäuscht. Alle waren tot. Frustriert stöhnte er auf. Alles war viel zu schnell gegangen. Er warf den Kopf in den Nacken, riss das Maul auf und stieß ein wildes Gebrüll aus, bis sein Kiefer schmerzte. Er schloss das Maul, riss es wieder auf und brüllte noch einmal. Diese übermächtige Gier war neu. Er hätte die Türen packen und mit den Zähnen zerfetzen können. Hauptsache, er könnte die Zähne in irgendetwas schlagen und es zerstören, bis nichts davon übrig blieb.

Speichel tropfte aus seinem Mund. Ärgerlich strich er mit den blutbesudelten Pfoten darüber. Die Kinder! Hast du die Kinder vergessen? Darum bist du doch gekommen!

Widerwillig trottete er durch den Hausflur zur Tür zurück und warf sich gegen die Spiegel und Bilder an den Wänden. Am liebsten hätte er das ganze Mobiliar zerstört, aber er musste zu den Kindern.

Ein Alarmanlagentableau wie sein eigenes in Mendocino fiel ihm ins Auge. Er drückte auf die blaue Taste, um ärztliche Hilfe anzufordern, und auf die rote, um die Feuerwehr zu alarmieren.

Augenblicklich zerriss ein schriller Alarm die Stille.

Er drückte die Pfoten auf die Ohren und heulte vor Schmerz auf. Es hämmerte in seinem Kopf. Aber er hatte keine Zeit, um nach dem Lautsprecher zu suchen, aus dem dieser unerträgliche Lärm kam, und ihn auszuschalten. Er musste sich beeilen.

In wenigen Sekunden erreichte er die Scheunentür und riss die Schlösser ab, die mit splitterndem Holz herausbrachen und zu Boden fielen.

Im Schein der hellen Fenster, die vom Haus herüberleuchteten, sah er den Bus. Er war mit einer Eisenkette und mehreren Lagen Klebeband umspannt – eine abgeschlossene Folterkammer.

Die Kinder weinten und schrien, aber gegen den ohrenbetäubenden Lärm der Alarmanlage nahm sich ihre Verzweiflung beinahe zaghaft aus. Reuben konnte ihre Not riechen. Sie dachten, sie müssten sterben. Gleich würden sie erkennen, dass sie gerettet waren, befreit.

Er zog an dem Klebeband und zerriss es, als sei es dünnes Papier. Dann schlug er ein Fenster und die Bustür ein.

Ein ekelhafter Gestank stieg ihm in die Nase – Exkremente, Urin, Erbrochenes, Schweiß. Was hatten die Kinder nur erleiden müssen! Doch ihre Qualen sollten nun ein Ende haben.

Der Alarm brachte Reuben ganz durcheinander und machte es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Aber das meiste war ja getan.

Er zog sich aus der Scheune zurück und lief in den Regen hinaus. Die Erde unter seinen Pfoten war reiner Schlamm. Er wollte das tote Kind aus dem Landrover ziehen und es an eine Stelle legen, wo es gefunden würde. Aber er konnte den Lärm nicht länger ertragen. Bestimmt würde man das Kind auch so finden. Trotzdem fühlte es sich falsch an, es einfach liegen zu lassen, wo es jetzt war. Es war seine Aufgabe, den ganzen Schauplatz so herzurichten, dass das Richtige geschah, sobald Hilfe eintraf.

Aus den Augenwinkeln sah er kleine und größere Gestalten aus dem Bus klettern.

Sie bewegten sich in seine Richtung. Bestimmt konnten sie ihn sehen und erkannten, was für eine Kreatur er war. Das Haus war so hell erleuchtet, dass sie auch das Blut auf seinem Fell und an seinen Pfoten sehen mussten.

Das würde ihnen nur noch mehr Angst machen. Er musste verschwinden.

Er bewegte sich auf die nassglänzenden Bäume im hinteren Teil des Grundstücks zu und tauchte in den großen, stillen Wald ein, der sich in westliche Richtung zog, die Muir Woods.