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Reuben hatte das Abendessen aufgesetzt, bevor er in den Wald ging, sodass eine Lammkeule mit Gemüse den ganzen Nachmittag langsam vor sich hin geschmort hatte.

Laura machte dazu einen köstlichen Salat mit Tomaten, Avocados, gutem Olivenöl und Kräutern, und sie setzten sich zum Essen ins Frühstückszimmer. Reuben griff hungrig zu, aber Jim probierte nur ein wenig von allem.

Laura trug ein altmodisches Kleid aus weiß-gelb karierter Baumwolle. Die langen Ärmel endeten in Manschetten, und die Knöpfe hatten die Formen von Blumen. Das glänzende Haar trug sie offen. Lächelnd verwickelte sie Jim in ein Gespräch über die Kirche und seine Arbeit.

Die Atmosphäre entspannte sich spürbar. Sie sprachen über die Muir Woods und Lauras Forschung über das «Untergeschoss», also den Waldboden, und wie man seine Zerstörung durch Tausende Besucher verhindern konnte, die verständlicherweise jedes Jahr kamen, um die unglaubliche Schönheit der Redwoodbäume mit eigenen Augen zu sehen.

Ihre Vergangenheit erwähnte Laura mit keinem Wort, und Reuben glaubte kein Recht zu haben, das Gespräch darauf zu lenken. Jim sprach voller Enthusiasmus über die Armenspeisung in St. Francis und die große Anzahl von Portionen, die dieses Jahr zu Thanksgiving ausgegeben werden sollten.

Früher hatte Reuben an Thanksgiving immer in St. Francis ausgeholfen, genau wie Phil und Celeste und sogar Grace, wenn sie dafür Zeit hatte. Es machte ihn traurig, dieses Jahr wohl nicht dabei sein zu können. Auch zu Hause würde er dieses Jahr nicht dabei sein, wenn sich die Familie um 19 Uhr zum traditionellen Festessen um den großen Tisch versammelte.

Thanksgiving war immer ein fröhliches, lebhaftes Fest in Russian Hill gewesen. Oft war Celestes Mutter dabei gewesen, und wenn Praktikanten oder Kollegen aus anderen Städten in Grace’ Krankenhaus tätig waren, die nicht die Möglichkeit hatten, Thanksgiving bei ihren Familien zu verbringen, hatte sie sie ebenfalls eingeladen. Phil schrieb jedes Jahr zu diesem Anlass ein neues Gedicht, und einer seiner älteren Studenten, ein exzentrisches Genie, das in einem heruntergekommenen Haus in Haight-Ashbury wohnte, kam oft ungefragt vorbei und blieb so lange, bis jemand ihm entschieden widersprach, wenn er seine Verschwörungstheorien von sich gab und behauptete, ein Geheimbund der Reichen und Mächtigen zerstöre die Grundfesten der Gesellschaft. Sobald dieser Punkt erreicht war, stürmte er empört aus dem Haus.

Wie auch immer – Reuben würde dieses Jahr nicht dabei sein.

Irgendwann begleitete er Jim zu seinem Wagen.

Der Wind hatte von See her aufgefrischt, und schon um sechs war es dunkel. Jim fror und hatte es eilig, nach Hause zu kommen. Er versprach, Reuben bei der Familie zu entschuldigen und zu sagen, er brauche etwas Zeit für sich, aber er bat Reuben, mit ihm in Kontakt zu bleiben.

In dem Moment kam Galton mit seinem auf Hochglanz polierten neuen Truck angefahren, sprang aus dem Wagen und verkündete ganz aufgekratzt, die Berglöwin, die seinen Hund getötet hatte, sei «erwischt» worden.

Höflich, wie es seine Art war, bekundete Jim Interesse an Galtons Geschichte. Galton klappte seinen Jackenkragen gegen den Wind hoch und erzählte in aller Ausführlichkeit, was für ein Prachtkerl sein Hund gewesen war: Er habe Gedanken lesen, Gefahr wittern, Menschenleben retten, das Unmögliche möglich machen und das Licht im Haus an- und ausschalten können.

«Aber woher wissen Sie, dass die Berglöwin tot ist?», fragte Reuben.

«Sie wurde heute Nachmittag gefunden. Vor vier Jahren ist sie von den Biologen der Universität am Ohr markiert worden, deswegen konnte man sie identifizieren. Das Vieh, das sie getötet hat, ist ihr mächtig zu Leibe gerückt. Da draußen muss wohl ein Bär sein Unwesen treiben. Seien Sie also lieber vorsichtig, Sie und Ihr hübsches Mädel.»

Reuben nickte. Ihm war eiskalt, aber Galton in seiner Daunenjacke schien die Kälte nichts auszumachen, und er redete immer weiter. «Die hätten mir lieber eine Lizenz geben sollen, um die Bestie selber zu töten», sagte er. «Aber nein, die hätten noch so lange gewartet, bis das Vieh einen Menschen anfällt. Glauben Sie mir, früher oder später wäre es dazu gekommen.»

«Und die Jungen?», fragte Reuben und konnte seinen Stolz kaum verbergen. Es erfüllte ihn mit Genugtuung, dass er die Berglöwin erschlagen und sich große Teile von ihr einverleibt hatte. Er genoss auch, dass Jim es wusste, denn er hatte es ihm erzählt, auch wenn der sich jetzt nichts anmerken ließ, sodass Galton nie dahinterkommen würde. Obwohl er sich seiner Gefühle schämte, überwog die freudige Erinnerung an die Fressorgie und seinen wunderbaren Unterschlupf in den Baumkronen.

«Die Jungen werden sich jetzt trennen und eigene Reviere suchen. Aber vielleicht bleibt eins von ihnen da, wer weiß. In Kalifornien gibt es rund fünftausend solcher Wildkatzen. Eine ist kürzlich in die Stadt spaziert, wurde im Norden von Berkeley gesichtet, zwischen den Läden und Restaurants.»

«Stimmt, davon hab ich gehört», sagte Jim. «Das hat eine ziemliche Panik ausgelöst. Aber nun muss ich los. Schön, Sie kennengelernt zu haben, Mr. Galton. Hoffentlich sehen wir uns bald mal wieder.»

«Dann haben Sie also Ihren eigenen Priester in der Familie», sagte Galton, als Jim seinen alten Suburban startete. «Sie fahren einen Porsche, und er muss sich mit der alten Familienkutsche begnügen, was?»

«An uns liegt es nicht», sagte Reuben. «Einmal hat meine Mutter ihm einen Mercedes gekauft, aber nach zwei Tagen hatte er die Nase voll von den höhnischen Bemerkungen der Obdachlosen in seiner Gemeinde und gab den Wagen zurück.»

Reuben nahm Galton beim Arm. «Kommen Sie doch rein.»

Am Küchentisch schenkte er Galton einen Kaffee ein und fragte ihn, was er über Felix Nideck wusste.

«Er war ein feiner Kerl», sagte Galton. «Ein Aristokrat der alten Schule, wenn Sie mich fragen. Nun ja, nicht, dass ich mich da besonders auskenne … Aber er war beinahe zu gut für diese Welt, wenn Sie verstehen, was ich meine. Er war in der ganzen Gegend beliebt. Ich kenne keinen, der großzügiger war als er. Als er fortging, war es ein herber Verlust für alle hier. Natürlich wussten wir nicht, dass wir ihn nie wiedersehen würden. Im Gegenteil. Alle dachten, er kommt zurück.»

«Wie alt war er, als er fortging?»

«Ich habe gehört, dass er sechzig gewesen sein soll. Jedenfalls stand das in der Zeitung, als man anfing, nach ihm zu suchen. Das konnte ich gar nicht glauben. Ich hätte ihn keinen Tag älter als vierzig geschätzt. Ich selbst war vierzig, als er verschwand, und sah nicht viel jünger aus. Aber inzwischen hab ich erfahren, dass er 1932 geboren wurde. Das hatte ich nicht gewusst. Natürlich stammt er nicht von hier, sondern aus Übersee. Ich kannte ihn ungefähr fünfzehn Jahre lang, aber ich kann immer noch nicht richtig glauben, dass er sechzig gewesen sein soll.»

Reuben nickte.

«Nun muss ich aber wieder los», sagte Galton. «Der Kaffee hat mich aufgewärmt. Ich wollte nur mal nach dem Rechten sehen. Ach, hat dieser Typ Sie übrigens angetroffen? Ein alter Freund von Felix.»

«Wer soll das gewesen sein?», fragte Reuben.

«Marrok», sagte Galton. «Ich hab ihn neulich Abend im Gasthaus getroffen. Er hat da einen Drink genommen und fragte mich, ob ich wüsste, wann Sie zurückkommen.»

«Erzählen Sie mir ein wenig von ihm.»

«Ach, der ist hier ein alter Bekannter. Er sagt, er war Felix’ bester Freund. Wenn er in der Gegend war, hat er immer hier im Haus gewohnt. Das heißt, bis Marchent ihn rausgeschmissen hat. Sie konnte ihn nicht ausstehen. Aber wenn er das nächste Mal wieder auftauchte, hat sie ihn wieder aufgenommen. Ich weiß nicht, was er hier wollte. Rumschnüffeln wollte er bestimmt nicht. Wahrscheinlich wollte er nur sehen, ob mit dem Haus alles in Ordnung war und ob es in gute Hände übergegangen ist. Ich hab ihn beruhigt und gesagt, das Haus sei in sehr guten Händen.»

«Er hat sich mit Marchent nicht verstanden?»

«Na ja, als sie noch ein kleines Mädchen war, mochten sich die beiden, aber als Felix dann verschwand … Ich weiß nicht … Irgendwie mochte sie ihn nicht. Einmal hat sie sogar zu mir gesagt, sie wünschte, sie könnte ihn loswerden. Meine Frau, Bessie, meint, dass er in Marchent verliebt war und sie irgendwie bedrängt hat. Natürlich gefiel Marchent das nicht. Kann man sich ja vorstellen.»

Reuben sagte nichts.

«Die Brüder hassten ihn regelrecht», sagte Galton. «Andauernd hat er ihnen Schwierigkeiten gemacht. Wenn sie eine Gaunerei ausheckten, hat er’s rausgekriegt und sie verraten. Wie das eine Mal, als sie ein Auto geklaut hatten und auf Sauftour gingen, als sie noch nicht mal alt genug waren, um überhaupt Alkohol kaufen zu dürfen.

Ihr Vater konnte den Mann auch nicht ausstehen. Abel Nideck war ein anderer Typ als Felix. Ein ganz anderer. Er hat Marrok nicht rausgeschmissen, aber praktisch nicht mit ihm geredet. Dabei war die Familie ja nicht oft hier. Marchent auch nicht. Sie war die Einzige, die ein gutes Wort für ihn hatte, weil er Felix nahegestanden hatte. Jedenfalls glaub ich, dass das der Grund war. Manchmal hat er in dem Schlafzimmer hinten im Haus übernachtet, ganz oben, manchmal aber auch im Wald hinterm Haus. Das tat er ganz gern, weil er am liebsten allein war.»

«Wissen Sie, woher er kam?»

Galton schüttelte den Kopf. «Felix hatte so viel Besuch, Leute aus … keine Ahnung … aus aller Welt. Dieser Marrok kam irgendwo aus Asien. Vielleicht aus Indien. Aber genau weiß ich das nicht. Seine Haut ist ziemlich dunkel, sein Haar pechschwarz, und er drückt sich sehr vornehm aus, wie alle Freunde von Felix. Aber für Marchent war er viel zu alt, auch wenn man ihm, genau wie Felix, sein Alter nicht ansieht. Ich weiß ja ungefähr, wie alt er ist, denn ich weiß, wie lange er hier schon auftaucht. Damals war Marchent noch ein Kind.»

Galton sah sich nach allen Seiten um, als wollte er sich vergewissern, dass niemand ihn hörte, der ihn nicht hören sollte. Dann sagte er vertraulich: «Wissen Sie, was Marchent zu Bessie gesagt hat? Sie sagte: ‹Felix will, dass er auf mich aufpasst und mich beschützt. Aber wer beschützt mich vor ihm?›» Galton lachte, lehnte sich zurück und trank einen Schluck Kaffee. «Aber so schlimm ist er nun auch wieder nicht. Als Abel und Celia gestorben waren, ist er sogar für ’ne Zeit hergezogen, damit Marchent nicht allein war. Das war wahrscheinlich das einzige Mal, dass sie ihn wirklich brauchte. Aber lange ist er nicht geblieben. Jedenfalls müssen Sie sich mit ihm nicht abgeben. Sie brauchen ihn nicht einzuladen. Das Haus gehört jetzt Ihnen, und daran müssen sich die Leute nun mal gewöhnen. Es ist nicht mehr Felix’ Haus.»

«Ich werde nach ihm Ausschau halten», sagte Reuben.

«Wie gesagt, er ist kein Schuft. Hier in der Gegend kennt ihn jeder als einen der vielen Weltenbummler, die sich hier schon immer herumgetrieben haben. Trotzdem: Es ist jetzt Ihr Haus.»

Reuben begleitete Galton zur Tür.

«Wenn Sie wollen, kommen Sie doch heute ins Gasthaus», sagte Galton. «Wir feiern das Aus der Berglöwin, die meinen Hund getötet hat.»

«Ins Gasthaus? Wo ist das?»

«Das können Sie gar nicht verfehlen, mein Sohn. Fahren Sie einfach nach Nideck. Da gibt’s nur eine Hauptstraße, und da ist auch das Gasthaus.»

«Ach, der Gasthof, in dem man auch übernachten kann», sagte Reuben. «Den hab ich gesehen, als ich zum ersten Mal hier war. Davor stand ein Schild, dass er verkauft werden soll.»

«Das steht da immer noch und wird auch noch länger da stehen.» Galton lachte. «Nideck ist zwanzig Kilometer von der Küste entfernt. Warum sollte da jemand übernachten wollen? Aber wir würden uns freuen, Sie da heute Abend auf einen Drink zu begrüßen. Sie beide.»

Reuben schloss die Tür hinter ihm und ging in die Bibliothek.

Dort öffnete er den Ordner mit Dokumenten das Haus betreffend, den Simon Oliver ihm geschickt hatte. Darin befand sich auch die handschriftliche Liste mit Handwerkern, Lieferanten und sonst wie mit dem Haus verbundenen Leuten, die Marchent in der letzten Stunde ihres Lebens für ihn zusammengestellt hatte.

Schnell ging er die Namen durch. Tatsächlich! Marrok. Thomas Marrok. «Alter Freund der Familie, genauer gesagt von Felix, der gelegentlich vorbeischaut. Übernachtet gern im Wald hinterm Haus. Entscheide selbst, ob du es gestatten willst. Keine Sonderbehandlung nötig.»

Reuben ging nach oben und fand Laura im Arbeitszimmer.

Er erzählte ihr alles, was er von Galton erfahren hatte.

Später fuhren sie mit dem Porsche nach Nideck.

Im Schankraum des Gasthofs saß eine fröhliche Runde beim Essen, als sie hereinkamen. Die Einrichtung war rustikal, die Wände bestanden aus groben Holzbalken. In der Ecke saß ein alter Mann mit einer Gitarre und sang ein trauriges keltisches Lied. Auf den Tischen lagen rot-weiß karierte Decken, auf denen Kerzen standen.

Der Wirt saß in seinem kleinen Büro und hatte die Füße auf den Schreibtisch gelegt. Er las in einem Romanheftchen. In einem Mini-Fernseher lief die x-te Wiederholung einer Folge von Rauchende Colts.

Reuben fragte ihn, ob er einen Mann namens Marrok kannte und ob dieser Mann in der letzten Woche hier im Gasthof übernachtet hatte.

«Den kenne ich», sagte der Wirt. «Aber übernachtet hat er hier nicht.»

«Sie wissen nicht zufällig, woher er kommt?», fragte Reuben.

«So wie er daherredet, war er schon überall», sagte der Wirt. «Zuletzt sagte er, er käme gerade aus Mumbai. Ein andermal sagte er, er käme gerade aus Kairo. Ich weiß gar nicht, ob er überhaupt einen festen Wohnsitz hat. Seine Post wurde immer an das alte Haus geschickt, soviel ich weiß. Das heißt, heute ist ein Brief für ihn hier abgegeben worden, fällt mir gerade ein. Der Postbote sagte, seine Post solle nicht mehr im Nideck-Haus abgeliefert werden. Deswegen hat er den Brief einfach hier abgegeben, damit ich ihn Marrok gebe, wenn er das nächste Mal auftaucht.»

«Ich kann ihm den Brief geben», sagte Reuben. «Ich wohne jetzt im Nideck-Haus.»

«Ich weiß», sagte der Wirt.

Reuben stellte sich vor und entschuldigte sich dafür, dass er es nicht eher getan hatte.

«Schon gut», sagte der Wirt. «Hier weiß doch sowieso jeder, wer Sie sind. Wir sind froh, dass wieder Leben ins Haus kommt. Freut mich, Sie persönlich kennenzulernen.» Dann ging er in den Schankraum und kam mit dem Brief zurück. «Meine Frau hat ihn geöffnet, weil sie dachte, er wäre für uns. Als sie sah, dass er für Thomas Marrok ist, hat sie ihn natürlich gleich wieder in den Umschlag gesteckt. Tut mir leid. Sie können ihm sagen, dass es unsere Schuld ist.»

Reuben bedankte sich. Er wusste, dass es illegal war, Briefe zu entwenden, und er merkte, dass er rot wurde.

«Wenn er herkommt, sage ich ihm, dass Sie den Brief mitgenommen haben», sagte der Wirt.

«Das ist nett von Ihnen», sagte Reuben.

Galton saß an der Bar und hob grüßend seinen Bierkrug, als Reuben und Laura wieder hinausgingen.

Sie fuhren zum Haus zurück.

«Du darfst nichts von dem glauben, was Marrok dir erzählt hat», sagte Laura. «Er kann dich nach Strich und Faden belogen haben.»

Reuben sah stur geradeaus. Das Einzige, woran er denken konnte, war, dass Marrok bereits im Haus gewesen war, bevor sie gestern heimgekehrt waren.

Kaum hatten sie sich in der Diele niedergelassen, entfaltete er den Brief mit gemischten Gefühlen. Dieser Brief war Eigentum eines Toten. Warum also sollte er Skrupel haben, ihn zu lesen?

Die merkwürdig geschwungene Handschrift kam ihm bekannt vor, obwohl er sie erst einmal gesehen hatte – oben, in Felix’ Tagebüchern.

Der Brief war drei Seiten lang. Natürlich konnte Reuben kein einziges Wort lesen. Aber es gab so etwas wie eine Unterschrift.

«Komm mit», sagte er zu Laura, führte sie in Felix’ kleines Arbeitszimmer und schaltete die Deckenlampe an.

«Sie sind weg», sagte er gleich darauf. «Felix’ Tagebücher. Sie lagen hier auf dem Schreibtisch.»

Er suchte alles ab, obwohl er wusste, dass es sinnlos war. Wer immer die Tontafeln gestohlen hatte, hatte auch Felix’ Tagebücher genommen.

Reuben sah Laura an. «Er lebt», sagte er. «Ich weiß es. Er lebt und hat diesem Marrok geschrieben, dass er herkommen soll, um …»

«Du kannst unmöglich wissen, was er geschrieben hat», sagte Laura. «Du weißt nicht mal sicher, ob dieser Brief überhaupt von Felix ist. Das Einzige, was feststeht, ist, dass diese Leute eine Geheimsprache verwenden.»

«Nein», widersprach Reuben. «Ich weiß es einfach. Er lebt. Er hat die ganze Zeit gelebt. Irgendwas hat ihn davon abgehalten, hierher zurückzukehren, sich zu erkennen zu geben und sein Eigentum wieder in Besitz zu nehmen. Vielleicht wollte er verschwinden. Vielleicht war er nicht mehr glaubwürdig. Er altert nämlich nicht. Er musste verschwinden. Obwohl ich mir gar nicht vorstellen kann, wie er Marchent und ihren Eltern das freiwillig antun konnte.»

Einen Moment lang war er ganz still und ließ den Blick über die tausend Dinge schweifen, die sich hier angesammelt hatten. Die Schreibtafeln, die Pinnwände … alles schien unverändert. Die verblasste Kreideschrift, die vergilbten Zeitungsausschnitte. Dann die verschiedenen Fotos mit dem stets lächelnden Felix, dem lächelnden Sergej und den anderen rätselhaften Männern.

«Ich muss ihn irgendwie erreichen, mit ihm sprechen, ihn um Verständnis dafür bitten, was mit mir passiert ist, ihm erklären, dass ich nicht wusste, worum es hier geht, dass ich …»

«Was hast du denn?», fragte Laura.

Reuben seufzte tief. «Diese innere Unruhe», sagte er. «Sie überfällt mich, wenn ich mich nicht verwandeln kann und die Stimmen nicht höre. Ich muss hier raus. Gehen. Mich bewegen. Wir können hier nicht bleiben und uns zur Zielscheibe machen, bis er zuschlägt.»

Nervös ging er auf und ab, den Blick suchend auf die Bücherregale gerichtet. Vielleicht gab es noch mehr persönliche Aufzeichnungen, die hier irgendwo zwischen den Büchern steckten. Er hatte die Regale bis jetzt nicht genau genug durchgesehen, um beurteilen zu können, ob auch hier etwas fehlte. War es Marrok, der hier eingedrungen und Dinge herausgeholt hatte? Oder Felix selbst?

Die Tür zum angrenzenden Schlafzimmer, in dem Marchent und Reuben sich geliebt hatten, stand offen. Als er in die Richtung blickte, bekam er wieder ein Gespür für den Mann, der diese Zimmer einst bewohnt und das große Bett mit den schwarzen, kunstvoll geschnitzten Pfosten als Schlafstätte gewählt, die schwarze Quarzkatze neben die Nachttischlampe gestellt und an dem kleinen Intarsientisch neben dem Stuhl zuletzt Gedichte von Keats gelesen hatte.

Er griff nach dem Buch. Ein verblasstes, dunkelrotes Band markierte eine Seite, auf der ein Gedicht namens «Ode auf die Melancholie» stand. Die erste Strophe war mit schwarzer Tinte angestrichen, am Rand befand sich eine Zeichnung, die das Meer darzustellen schien, und Felix hatte einige Bemerkungen dazugeschrieben.

«Hier», sagte Reuben und reichte Laura das Buch. «Das hat er vor langer Zeit angestrichen.»

Sie nahm das Buch, rückte näher an die Lampe und las laut vor:

Du sollst nicht Lethe suchen, sollst nicht Wein

Aus harter giftiger Wolfsmilchwurzel klopfen,

Noch soll Proserpinas blutrote Pein,

Nachtschattentraube, deine Stirn umtropfen.

Dein Rosenkranz sei nicht aus Taxusperlen,

Dein Gram soll nicht zum flaumigen Kauz sich retten,

Im schwarzen Falter ein Symbol erblicken

Und klagend wandeln unter Trauererlen,

Sonst wird nur schläfernd Dunkel dich umbetten

Und deiner Seele wache Qual ersticken.

Es war furchtbar, mit dem Mann, dem dieser Text wichtig war, nicht sprechen zu können, ihm nicht sagen zu können: Ich habe es getan, weil es das Natürlichste der Welt für mich war. Ich konnte nicht anders. Aber stimmte das überhaupt?

Ein unerträgliches Verlangen überkam Reuben, das Verlangen nach der Kraft, die er in Wolfsgestalt hatte. Die Ruhelosigkeit machte ihn fast wahnsinnig.

Der Wind peitschte den Regen gegen die dunklen Fenster. In der Ferne krachten die aufgepeitschten Wellen an den Strand.

Laura stand ruhig und geduldig neben der Lampe, den Gedichtband in der Hand. Sie betrachtete das Cover, dann sah sie Reuben an.

«Komm mit», sagte sie. «Ich will etwas nachsehen. Vielleicht habe ich mich geirrt.»

Sie legte das Buch beiseite und führte Reuben durch den Hausflur zum großen Schlafzimmer.

Das kleine Buch, Woran ich glaube, lag auf dem Tisch, wo sie es am Morgen gelesen hatte.

Sie schlug es auf und blätterte durch die knisternden Seiten. «Hier ist es», sagte sie. «Ich habe mich doch nicht geirrt. Sieh dir noch mal diese Widmung an!»

Liebster Felix,

das ist für Dich!

Nachdem wir das überlebt haben,

kann uns nichts mehr passieren.

Ein Grund zur Freude,

Margon

Rom ’04

«Okay. Margon hat Felix dieses Buch geschenkt», sagte Reuben. Er verstand nicht, welche Bedeutung Laura dem beimaß.

«Beachte das Datum.»

«Rom ’04», las Reuben laut vor. «O mein Gott! Er ist 1992 verschwunden. Aber das hier … Es bedeutet, dass er noch lebt … und dass er nach seinem Verschwinden hier im Haus war.»

«Sieht so aus», sagte Laura. «Zumindest einmal innerhalb der letzten acht Jahre.»

«Ich habe diese Widmung ja auch schon gelesen, aber das ist mir gar nicht aufgefallen.»

«Mir zuerst auch nicht», sagte Laura. «Aber dann ging mir plötzlich ein Licht auf. Da stellt sich doch die Frage, wie viel noch über die Jahre hergebracht oder weggeholt wurde, ohne dass jemand etwas davon gemerkt hat. Inzwischen glaube ich auch, dass Felix hier war. Wenn Marrok unbemerkt in dieses Haus eindringen konnte, war es Felix genauso möglich.»

Reuben ging weiter auf und ab und versuchte, diesen Gedanken zu verarbeiten. Was bedeutete das für ihn? Was konnte er tun?

Laura setzte sich an den Tisch und blätterte in dem Buch herum.

«Gibt es noch mehr handschriftliche Notizen?», fragte Reuben.

«Nur kleine Häkchen, Unterstreichungen und so etwas», sagte Laura. «Alle scheinen von ein und derselben Person zu stammen, und diese Person macht einen höchst lebendigen Eindruck. Nur dass wir leider nicht wissen, wer oder was es ist und was dieses Wesen vorhat.»

«Aber du weißt, was Marrok gesagt hat, welche Anschuldigungen er gegen mich erhoben hat.»

«Ach, Reuben, nimm das nicht so ernst! Er war furchtbar wütend, weil du mit seiner geliebten Marchent zusammen warst. Dafür wollte er dich büßen lassen. Er dachte, er hätte dich damals tödlich verwundet. Gut möglich, dass er dich keineswegs versehentlich gebissen hat. Er hat dich zwar nicht auf der Stelle getötet, aber er dachte, das Chrisam würde den Rest erledigen. Er hat den Notruf nicht gewählt, damit du gerettet wirst, sondern damit Marchents Leiche nicht herumliegt, bis Galton oder sonst wer sie zufällig findet.»

«Wahrscheinlich hast du recht.»

«Du bist doch sonst so sensibel, Reuben. Erkennst du keine Eifersucht, wenn sie dir begegnet? Alles, was dieses Monster gesagt hat, war von Hass diktiert. All diese Tiraden, dass er dich niemals auserwählt hätte, dass du nicht würdig seist und dass es deine Schuld war, dass er Marchent den Rücken gekehrt hat. Das war pure Eifersucht, von Anfang bis Ende.»

«Verstehe.»

«Du kannst nichts darauf geben, was dieses Monster über Felix gesagt hat. Lass uns mal ganz vernünftig überlegen. Wenn Felix diesen Brief geschrieben hat und demzufolge lebt, dann hat er zugelassen, dass du dieses Haus erbst. Er hat nicht das Geringste unternommen, um das zu verhindern oder dir sonst wie in die Quere zu kommen. Die Frage ist: Warum? Und warum hätte er dann trotzdem diese niederträchtige Kreatur herschicken sollen, um den rechtmäßigen neuen Besitzer zu töten und das Haus in die Hände des Nachlassgerichts fallen zu lassen?»

«Weil er zu diesem Zeitpunkt bereits das Einzige an sich gebracht hatte, was ihm wichtig war?», spekulierte Reuben. «Das Tagebuch und die Tontafeln, die er gleich nach Marchents Tod geholt hatte?»

Laura schüttelte den Kopf. «Das glaube ich nicht. Hier sind noch so viele andere wertvolle Dinge – Pergamentrollen, antike Gesetzesbücher … überall … Felix’ ganze Sammlung. Und was sich in den Dachkammern befindet, weiß kein Mensch. Auch anderswo im Haus können sich noch unentdeckte Schätze befinden. Denk an die riesigen Koffer, die du noch nicht mal geöffnet hast, und die Kisten voller Papiere. Außerdem gibt es hier Geheimkammern.»

«Geheimkammern?»

«Es muss welche geben. Komm mit in den Hausflur!»

Sie gingen an die Stelle, wo der südliche und der westliche Gang aufeinandertrafen.

«Die Gänge treffen in rechten Winkeln aufeinander, aus allen vier Himmelsrichtungen kommend», sagte Laura.

«Ja, aber wir waren doch schon in allen angrenzenden Zimmern. Nach außen hin liegen die Schlafzimmer, zur Hausmitte hin die Wäscheschränke und kleinen Badezimmer. Wo soll da Platz für Geheimkammern sein?»

«Gute Frage», sagte Laura, ging auf die andere Seite des Gangs und öffnete einen Wäscheschrank. «Der hier ist kaum vier Meter tief, genau wie die anderen, die zusammen einen umlaufenden rechtwinkligen Gürtel bilden.»

«Richtig.»

«Und in der Mitte, was ist da?»

«Mein Gott, du hast recht! In der Mitte muss es noch einen Hohlraum geben.»

«Heute Nachmittag, als du mit Jim gesprochen hast, hab ich mich mal umgesehen. Ich bin in jeden einzelnen Wäscheschrank gegangen, in jedes Badezimmer, aber nirgendwo war eine Tür zur Hausmitte hin.»

«Aber du glaubst trotzdem, dass es hier Geheimkammern gibt?»

Laura nickte und sagte: «Komm, lass uns was anderes versuchen!»

Sie führte Reuben in das Zimmer, das sie jetzt als Arbeitszimmer benutzte. Einen kleinen Schreibtisch hatte sie von der Wand an die Fenster gerückt, darauf stand ihr aufgeklappter Laptop.

«Wie lautet die genaue Adresse hier?»

Laura gab sie ein und klickte dann das Satellitenbild an.

Ein Luftbild der Küsten- und Waldregion erschien, und Laura zoomte auf das Haus. Dann klickte sie das Haus an, um die Ansicht zu vergrößern. Ein großes quadratisches Glasdach erschien, umgeben von den Giebeln, die genau auf die vier Himmelsrichtungen der eingeblendeten Kompassnadel ausgerichtet waren.

«Siehst du das?», fragte Laura.

«Mein Gott!», sagte Reuben. «Da in der Mitte, das ist nicht einfach eine Geheimkammer, das ist ein riesiger Raum! Die Giebel verdecken das Glasdach komplett, sodass von draußen nichts zu sehen ist. Kannst du noch näher ranzoomen? Vielleicht kann man noch mehr erkennen.»

«Leider nicht. Aber ich weiß, worauf du es abgesehen hast. Ich sehe es auch – eine Klappe im Dach, eine Einstiegsluke oder so etwas.»

«Ich muss da rauf! Irgendwo unterm Dach muss es doch einen Zugang geben!»

«Ich habe alles gründlich durchsucht», sagte Laura. «Da gibt’s keine Türen. Aber wer weiß, wie oft Felix oder Marrok in all den Jahren hierhergekommen sind und den verborgenen Teil des Hauses durch diese Einstiegsluke auf dem Dach betreten haben – oder durch einen anderen Eingang, den wir noch nicht gefunden haben.»

«Das wäre eine Erklärung», sagte Reuben. «In der Nacht von Marchents Tod war Marrok im Haus. Es sind zwar keine Einbruchsspuren gefunden worden, aber er war in der Geheimkammer in der Mitte des Hauses. Vielleicht sind es sogar mehrere Kammern.»

«Kann sein, aber vielleicht sind die auch nur alle voll mit Regalen und Bücherschränken.»

Reuben nickte.

«Aber sicher ist es nicht», sagte Laura. «Es wäre nicht schlecht, Gewissheit zu haben. Ich meine, vielleicht will Felix an etwas herankommen, das sich in diesen Geheimkammern befindet. Vielleicht will er sogar das ganze Haus haben. Dich zu töten wäre keine Lösung, denn dann würde das Haus zum Verkauf angeboten und einen neuen Besitzer finden. Und was sollte Felix dann tun? Immer weiter töten?»

«Er kann sich doch einfach hereinschleichen, wie er es immer schon getan hat.»

«Nein. Das ging nur, solange das Haus seiner Nichte gehörte. Es geht wahrscheinlich auch, solange das Haus dir gehört. Doch wenn das Haus einem Fremden gehört, der vielleicht ein Hotel daraus machen oder es sogar abreißen will, verliert Felix alles, was ihm lieb und teuer ist.»

«Verstehe», sagte Reuben nachdenklich.

«Wir wissen noch nicht genug», sagte Laura. «Der Brief ist gerade erst angekommen. Vielleicht weiß Felix selber noch nicht, wie es weitergehen soll. Aber nach allem, was wir von ihm wissen, kann ich einfach nicht glauben, dass er diesen finsteren Marrok geschickt haben soll, um uns zu töten.»

«Ich hoffe inständig, dass du recht hast.»

Reuben ging ans Fenster. Ihm war heiß, und er war so nervös, dass es fast einer Panik gleichkam. Aber er wusste, dass eine Verwandlung nicht bevorstand. Er war sich auch gar nicht sicher, ob es gut wäre, sich jetzt zu verwandeln. Er wusste nur, dass sein gegenwärtiger Zustand, diese körperlichen Spannungen und Gefühle unerträglich waren.

«Ich muss den Zugang zu diesen Geheimkammern finden», sagte er.

«Meinst du, das hilft dir, besser zu ertragen, was du gerade durchmachst?», fragte Laura.

«Nein.» Reuben schüttelte den Kopf, atmete tief durch und schloss die Augen. «Hör zu, Laura», fuhr er dann fort. «Wir müssen hier eine Zeitlang verschwinden. Lass uns wegfahren.»

«Wohin denn?»

«Keine Ahnung. Aber ich lasse dich hier nicht allein. Lass uns gleich losfahren.»

Laura wusste, was er bezweckte, und stellte keine weiteren Fragen.

Als sie das Haus verließen, regnete es in Strömen.

Reuben fuhr südwärts, bis sie den Highway 101 erreichten. Er beschleunigte und bewegte sich, so schnell der Motor es zuließ, auf die Stimmen und die großen Städte der San Francisco Bay zu.