18
Laura brauchte keine Viertelstunde, um zu packen, einen Nachbarn anzurufen, der ihren Wagen aus der Stadt abholen und während ihrer Abwesenheit ein Auge auf ihr Haus haben würde.
Die Fahrt nach Kap Nideck dauerte wegen des Regens wieder fast vier Stunden.
Unterwegs redeten sie nonstop.
Reuben erzählte ihr alles, was in letzter Zeit geschehen war, von Anfang an und in allen Einzelheiten.
Er erzählte ihr auch, wer er vorher gewesen war, und sprach von seiner Familie, Celeste, Jim und vielen anderen Dingen. Ohne ins Stocken zu geraten, ließ er alles aus sich heraussprudeln, ohne nachzudenken und ohne Zusammenhänge herzustellen. Laura stellte gelegentlich Zwischenfragen, wobei zu merken war, dass sie mitdachte und sich in Reubens Leben einfühlte und für alles interessierte, auch für Dinge, die Reuben immer etwas peinlich gewesen waren.
«Es war purer Zufall, dass ich beim Observer eingestellt wurde. Billie kennt meine Mutter, und eigentlich wollte sie ihr nur einen Gefallen tun, aber dann gefiel ihr tatsächlich, was ich schrieb.»
Er erzählte, dass er für Celeste «Sonnyboy» war, «mein Baby» für seine Mutter und «Kleiner» für Jim, dass Billie ihn kürzlich als «Wunderkind» bezeichnet hatte und nur sein Vater ihn Reuben nannte.
Darüber musste sie wieder lachen, aber sonst schien es das Natürlichste von der Welt zu sein, sich mit ihr zu unterhalten.
Sie hatte Dr. Grace Golding vormittags in Talkshows gesehen und war ihr einmal sogar bei einem formellen Dinner begegnet. Sie wusste, dass sich die Goldings für den Naturschutz engagierten. «Außerdem habe ich all deine Artikel im Observer gelesen», sagte sie. «Viele schätzen deinen Stil. Ich beispielsweise wurde von jemandem auf deine Artikel aufmerksam gemacht, der sie regelrecht bewundert.»
Reuben nickte müde. Unter anderen Umständen hätte ihm bestimmt viel bedeutet, was Laura da sagte.
Sie sprachen über Lauras Jahre an der Universität, ihren verstorbenen Mann und kurz auch über ihre Kinder. Dass sie darauf nicht ausführlicher eingehen wollte, merkte Reuben schnell. Von ihrer Schwester Sandra sprach sie, als sei sie noch am Leben; sie war Lauras beste Freundin gewesen.
Ihren Vater hatte sie als großen Lehrmeister betrachtet. Zusammen mit ihrer Schwester war sie in den Muir Woods aufgewachsen, dann hatten sie Schulen an der Ostküste besucht und in den Sommermonaten Europa bereist, aber die unberührte Natur Nordkaliforniens war immer ihre wahre Heimat gewesen.
In Reuben sah sie einen wilden Mann aus den Wäldern des Nordens, das faszinierende Exemplar einer unbekannten Art, die im Einklang mit der Natur lebte und nicht zurechtkam, wenn sie sich versehentlich in den Wahnsinn des städtischen Lebens verirrte.
In dem kleinen Waldhaus hatte Laura ihren Großvater noch kennengelernt. Im Obergeschoss lagen vier Schlafzimmer, die jetzt alle unbenutzt waren. «Aber immerhin konnten meine Söhne dort noch einen Sommer im Wald genießen», sagte sie leise.
Wie selbstverständlich erzählten sie sich einander alles.
Reuben sprach von seiner Zeit in Berkeley, von den Ausgrabungen im Ausland, an denen er teilgenommen hatte, von seiner Liebe zu Büchern. Sie erzählte von New York und wie sie sich Hals über Kopf in ihren Mann verliebt hatte, wie sehr sie ihren Vater geliebt hatte und dass er sie wegen der Ehe mit Caulfield Hoffman nie kritisiert hatte, obwohl er von Anfang an dagegen gewesen war.
Mit Caulfield war ihr Leben in New York eine endlose Aneinanderreihung von Partys, Konzerten, Opernbesuchen, Empfängen und Wohltätigkeitsgalas gewesen, und es kam ihr jetzt wie ein flüchtiger Traum vor. Ihr Stadthaus am Central Park East, die Kindermädchen, das Tempo und der Luxus ihres Lebens – das alles kam ihr jetzt ganz unwirklich vor. Caulfield sei bankrott gewesen, als er sich und die Kinder tötete. Alles, was sie je besessen hatten, war verloren. Buchstäblich alles.
Manchmal, so sagte sie, wache sie nachts auf und könne gar nicht glauben, dass sie je Kinder hatte, ganz zu schweigen davon, dass sie auf so grausame Weise ums Leben gekommen waren.
Dann erzählte Reuben von seinem neuen Leben, auch von der Nacht, in der er in Mendocino angegriffen worden war. Anschließend stellten beide Spekulationen darüber an, was dabei wohl geschehen war.
Er erzählte, wo er auf den Namen Nideck gestoßen war und dass er aus den Geschichten nicht recht schlau wurde. Dann kam er wieder auf die Kreatur zu sprechen, die ihm vermutlich «das Geschenk» verliehen hatte, wie er es ausdrückte. Er äußerte seine Vermutung, dass es sich um ein umherwanderndes Wesen handeln könnte, das auf seiner Reise zufällig gerade in diesem Teil der Welt war.
Er beschrieb in allen Einzelheiten, wie seine Verwandlung vonstattenging, und berichtete von der Beichte, die er vor seinem Bruder Jim abgelegt hatte.
Laura war nicht katholisch und hielt nicht viel vom Beichtgeheimnis, aber sie akzeptierte, dass es Reuben und Jim wichtig war, und die Bruderliebe der beiden nötigte ihr höchsten Respekt ab.
Ihr naturwissenschaftliches Verständnis war größer als Reubens, aber sie betonte mehrfach, sie sei keine Wissenschaftlerin. Sie fragte nach den DNA-Tests, aber er konnte ihr nicht sagen, was sie ergeben hatten. Er vermutete, sagte er, dass überall, wo er in Wolfsgestalt zugeschlagen hatte, DNA-Spuren gefunden worden waren, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, zu welchen Ergebnissen sie geführt hatten.
Beide waren sich darin einig, dass DNA-Tests die gefährlichste Waffe waren, die andere gegen Reuben in der Hand haben könnten. Und beide wussten nicht, was er tun sollte.
Fürs Erste war es sicher das Beste, zu dem Haus in Mendocino zurückzukehren. Falls sich die Kreatur dort aufhielt und ihr Geheimnis nur dort lüften würde, sollte man ihr dazu Gelegenheit geben.
Trotzdem hatte Laura Angst.
«Ich gehe nicht davon aus», sagte sie, «dass diese Kreatur lieben kann und ein Gewissen hat, so wie du. Vielleicht traust du ihr zu viel zu.»
«Aber warum?», fragte Reuben und überlegte, was es zu bedeuten hatte, falls sie mit ihrer Vermutung richtiglag. Entwickelte er selbst sich zu einem Wesen, das kein Gewissen und keine Gefühle mehr kannte? Das war seine größte Sorge.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit hielten sie an einem kleinen Restaurant an der Küste. Es war ein schönes Fleckchen Erde, obwohl es in Strömen regnete und der Himmel eine undurchdringliche graue Masse war. Sie setzten sich an einen Tisch am Fenster, mit Blick aufs Meer und die einsamen und doch so großartigen Klippen.
Ihr Tisch war mit einer violetten Stoffdecke und passenden Servietten eingedeckt, das Essen delikat. Der Raum hatte eine Dachschräge, und die rustikale Einrichtung und ein Kaminfeuer verbreiteten eine angenehme Atmosphäre.
Reuben fühlte sich wohl wie selten, doch dann trübte sich die Stimmung.
Das Meer wurde immer dunkler, bis die Wellen mit ihren silbrigen Gischtstreifen fast schwarz aussahen.
«Weißt du eigentlich, was ich dir angetan habe?», fragte Reuben leise.
Im Schein der Kerzen schien Lauras Gesicht beinahe zu leuchten. Ihre dunklen Augenbrauen verliehen ihr etwas Seriöses und Konzentriertes, und ihre blauen Augen waren schön wie immer, obwohl sie etwas Kühles ausstrahlten. Selten hatte Reuben blaue Augen gesehen, die so hell und doch so ausdrucksvoll waren. Ihr ganzes Gesicht verriet, wie fasziniert sie war – und ja, sie war verliebt.
«Schon als ich dich das erste Mal sah, wusste ich, was du getan hattest», sagte sie.
«Jetzt bist du eine Mitwisserin», sagte Reuben.
«Und zwar von ebenso seltsamen wie brutalen Taten.»
«Es sind keine Phantasiegeschichten, Laura. Es ist wirklich passiert.»
«Wer wüsste das besser als ich?»
Nachdenklich saß Reuben da und fragte sich, ob es nicht besser für Laura war, wenn er sie verließe. Andererseits glaubte er zu wissen, dass es die größere Katastrophe für sie wäre. Oder irrte er sich? Konnte er nicht mehr klar denken? Zumindest für ihn selbst wäre es eine Katastrophe, sie zu verlieren.
«Es gibt Mysterien, die einfach unwiderstehlich sind», sagte sie. «Auch wenn sie das ganze Leben verändern – oder gerade dann.»
Reuben nickte.
Er merkte, dass er Laura unbedingt für sich haben wollte, ihre körperliche Nähe brauchte. Das war neu. Gegenüber Celeste hatte er nie solche Gefühle gehabt. Dieser Gedanke schürte seine Leidenschaft. Er wusste, dass man in diesem Gasthof übernachten konnte, und fragte sich, wie es wohl wäre, in seiner menschlichen Gestalt bei Laura zu liegen.
Doch wie viel Zeit blieb ihm? Er konnte die Verwandlung kaum noch abwarten, denn inzwischen hatte er das Gefühl, sein wahres Ich nur in Wolfsgestalt ausleben zu können.
Als ihm das bewusst wurde, erschrak er. Laura sagte etwas, aber er hörte nicht zu. Wer oder was bin ich?, fragte er sich. Was, wenn tatsächlich der andere mein wahres Ich ist?
«… sollten langsam aufbrechen», hörte er Laura sagen.
«Ja», sagte er.
Er stand auf, um ihr in den Mantel zu helfen.
Diese Geste schien sie zu rühren. «Wo hast du die Benimmregeln der Alten Welt gelernt?», fragte sie.