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Um zehn wachte Reuben auf, duschte und rasierte sich, dann fuhr er in Simon Olivers Büro, um die Schlüssel von Kap Nideck abzuholen. Nein, sagte Simon, Marchents Anwälte hätten nichts dagegen, dass er das Haus beträte, bevor es rechtlich in seinen Besitz übergegangen sei. Es sei sogar so, dass der Mann, der dort nach dem Rechten sah, gern mit ihm sprechen wolle, weil ein paar dringende Reparaturen anstünden. Je eher er komme, desto besser. Bei der Gelegenheit solle er bitte gleich eine eigene Inventarliste erstellen. Man habe ja überhaupt keinen Überblick über «das ganze Zeugs da oben».
Kurze Zeit später machte Reuben sich auf den Weg und fuhr über die Golden Gate Bridge Richtung Mendocino. Es regnete immer noch, aber nicht stark. Der Wagen war vollgestopft mit Kleidung, einem Computer, mehreren DVD-Playern und anderen Dingen, die er schon mal in sein neues Heim bringen wollte.
Nichts brauchte er jetzt mehr als ein wenig Zeit für sich. Heute Nacht wollte er mit seinen neuen Kräften und Fähigkeiten allein sein, genau darauf achten, was mit ihm passierte, und versuchen, Kontrolle darüber zu gewinnen. Vielleicht konnte er die Verwandlung ja verhindern, sie abmildern oder in eine bestimmte Richtung lenken. Und vielleicht konnte er sie sogar willentlich herbeiführen.
Aber was auch immer heute Nacht passieren würde, sollte in Ruhe geschehen, ohne die Stimmen, die ihn dazu gebracht hatten, Menschen umzubringen. Er hatte keine Wahl. Er musste raus aus der Großstadt.
Und dann gab es ja auch immer noch die Möglichkeit, dass dort ein Wesen in den Wäldern lebte, das wusste, was mit ihm geschehen war. Er war sich nicht darüber im Klaren, ob er darauf hoffen sollte, aber immerhin hielt er es für möglich. Und wenn es dieses Wesen gab, wollte er es auf sich aufmerksam machen. Dieses Wesen sollte sehen, wie er sich durch die Zimmer von Kap Nideck bewegte.
Grace war bei der Arbeit im Krankenhaus, als er sich aus dem Haus geschlichen hatte, und Phil war nirgends zu sehen gewesen. Er hatte kurz mit Celeste gesprochen und wie benommen zugehört, als sie von den entsetzlichen Vorkommnissen der letzten Nacht gesprochen hatte.
«Und dann hat dieses Vieh die arme Frau einfach aus dem Fenster geworfen, Reuben! Direkt aufs Straßenpflaster! Diese Stadt ist wirklich verrückt. Im Golden Gate Park hat es zwei Männer getötet und den einen regelrecht ausgenommen, wie einen Fisch. Aber die Leute lieben deinen Artikel, Reuben. ‹Wolfsmensch›, das sagen jetzt alle. Du könntest dir mit Kaffeebechern und T-Shirts eine goldene Nase verdienen. Am besten lässt du dir den Begriff ‹Wolfsmensch› urheberrechtlich schützen. Aber wer soll das krause Zeug glauben, das diese Verrückte aus North Beach erzählt? Ich meine, was soll dieses Vieh noch alles können? Eine poetische Botschaft an die Wand schreiben? Mit dem Blut des Opfers natürlich.»
«Keine schlechte Idee», hatte Reuben gemurmelt.
Als er vor der Unterführung am Waldo Grade in einen Stau geriet, rief er Billie an.
«Schon wieder ein Volltreffer, du Wunderkind», sagte sie. «Ich weiß nicht, wie du das immer wieder schaffst. Dein Artikel wird von Nachrichtenagenturen und Webseiten in aller Welt aufgegriffen. Die Leute posten den Link auf Facebook und Twitter. Du hast diesem Monster, diesem Wolfsmenschen, eine metaphysische Dimension gegeben.»
Ach ja? Hatte er nicht einfach nur wiedergegeben, was Susan Larson gesagt hatte? Er konnte sich nicht mehr erinnern. Immerhin schien sich der Begriff «Wolfsmensch» durchgesetzt zu haben, und das war ein kleiner Sieg.
Aber Billies Hauptinteresse galt den jüngsten Ereignissen. Sie wollte, dass Reuben mit Augenzeugen sprach, die etwas von dem fürchterlichen Geschehen im Golden Gate Park und am Buena Vista Hill mitbekommen hatten.
Reuben sagte ihr, er sei auf dem Weg nach Norden, um sich noch einmal den Ort anzusehen, an dem er beinahe getötet worden war.
«Ach, erzähl mir nichts!», sagte Billie. «In Wirklichkeit suchst du den Wolfsmenschen. Aber wenn du schon mal da bist, mach bitte ein Foto von dem Hausflur, in dem es passiert ist. Bis jetzt gibt es keine Fotos, die das Haus von innen zeigen. Hast du deine Nikon dabei?»
«Was gibt’s Neues von der Entführung?», fragte Reuben dagegen.
«Die Entführer wollen nicht zusichern, dass die Kinder lebend zurückkehren. Wir haben also eine Pattsituation. Das FBI will nicht, dass das Lösegeld bezahlt wird, bevor die Entführer konkrete Zusagen machen. Natürlich sagen sie uns nicht alles, aber mein Kontaktmann im Büro des Sheriffs sagt, dass sie es mit knallharten Profis zu tun haben. Es sieht also nicht gut aus. Wenn der Wolfsmensch von San Francisco eine Art Superheld ist und für Gerechtigkeit auf der Welt sorgen will, warum, zum Teufel, macht er sich nicht auf die Suche nach den Kindern?»
Reuben musste schlucken. «Gute Frage», murmelte er.
Vielleicht ist dieser Wolfsmensch noch dabei, seine Identität zu finden, Billie! Noch hat er seine Fähigkeiten nicht voll entfaltet, aber er wird jede Nacht stärker. Das sagte er allerdings nicht.
Plötzlich wurde ihm ganz übel. Er musste an die Leichen der beiden Männer im Golden Gate Park und die Tote auf dem Straßenpflaster denken. Vielleicht sollte Billie mal ins Leichenschauhaus gehen und sich die geschundenen Körper ansehen, die der «Superheld» auf dem Gewissen hatte. Was er anrichtete, waren keine Kavaliersdelikte.
Er überwand die Übelkeit, als er merkte, dass er für keins seiner Opfer Mitleid empfinden konnte. Dennoch war ihm schmerzlich bewusst, dass er kein Recht hatte, diese Menschen zu töten. Doch dann dachte er: Na und?
Der Stau löste sich auf, und der Regen wurde wieder stärker. Der Verkehrslärm ließ die Stimmen in seinem Kopf in den Hintergrund treten, aber er konnte sie noch hören; sie blubberten vor sich hin wie ein kochender Brei.
Er zappte durch Radiosender, auf denen Nachrichten oder Gesprächsrunden liefen, und drehte die Lautstärke auf, um alle anderen Geräusche zu übertönen.
Die beherrschenden Themen waren die Goldenwood-Entführung und der Wolfsmensch, und kein noch so billiger Witz über «die Bestie» und die Zeugen, die sie angeblich ganz genau gesehen hatten, wurde ausgelassen. Meist wurde aber nicht von einer «Bestie» gesprochen, sondern von einem «Wolfsmenschen». Doch auch «Yeti» oder «Bigfoot» war zu hören, einmal sogar «Gorilla». Ein Sprecher von National Public Radio verglich das rätselhafte Wüten dieser Kreatur mit dem Unwesen, das der Orang-Utan in Edgar Allan Poes Der Doppelmord in der Rue Morgue trieb, was die Frage aufwarf, ob die Bestie nicht von einem Menschen gesteuert sein könnte oder gar ein besonders großer, starker Mensch in einem Tierkostüm dahinterstecke.
Je mehr Reuben hörte, desto mehr gewann er den Eindruck, dass sich langsam die Vorstellung durchsetzte, bei der Bestie handelte es sich um einen verkleideten Menschen. Dass Tatorte und Zeugenaussagen ein anderes Bild ergaben, schienen die Menschen nicht wahrhaben zu wollen. Außerdem schien niemandem aufzufallen, dass die Kreatur offenbar einen sechsten Sinn für Verbrechen hatte. Vielmehr glaubte man offenbar, dieses Wesen sei zufällig auf die Gewaltakte gestoßen, die es dann im letzten Moment verhindert hatte. Niemand kam jedoch auf die Idee, dass es sich aufmachen und die Goldenwood-Entführer stellen sollte. Niemand außer Billie. Und Reuben selbst.
Er sollte wirklich versuchen, die Kinder zu finden. Ja, er sollte umkehren und lieber nach Marin County fahren, um nach den Kindern und den drei entführten Lehrerinnen zu suchen.
Immer wieder musste er daran denken. Bestimmt befanden sie sich noch in Marin County, denn fünfundvierzig Menschen konnte man gegen ihren Willen ja wohl nicht sehr weit transportieren.
Im Radio regte sich ein Talkshowmoderator darüber auf, dass die Goldenwood-Entführung nicht das Thema Nummer eins war. Und die Eltern eines entführten Kindes kritisierten das FBI und den örtlichen Sheriff für die Verweigerung des Lösegelds.
Die ungeheure Kraft, die Reuben in der letzten Nacht so genossen hatte, schien ihm plötzlich ganz nutzlos zu sein, wenn er an die vermissten Kinder und die verzweifelten Eltern dachte, die in der Goldenwood Academy hinter verschlossenen Türen weinten. Er sollte wirklich … Doch wie? Sollte er die abgelegeneren Straßen der Gegend abfahren und mit seinem Wolfsgehör auf Hilferufe der Opfer lauschen?
Das Problem war nur, dass sein Gehör tagsüber nicht besonders ausgeprägt war. Erst wenn es Nacht wurde, hörte er die Stimmen klar und deutlich, und bis dahin vergingen noch viele Stunden.
Je weiter er nach Norden vordrang, desto heftiger regnete es. Über weite Strecken fuhren die Leute schon mit Licht, weil die Sicht so schlecht war. Als der Verkehr in Sonoma County langsamer und dichter wurde, machte er sich klar, dass er es nicht schaffen würde, vor Einbruch der Dunkelheit nach Kap Nideck und wieder zurück zu fahren. Es war einer dieser Tage, an denen schon mittags um zwei Zwielicht herrschte.
In Santa Rosa verließ er den Highway und suchte auf seinem iPhone die Adresse der nächstgelegenen Filiale von Big Man XL, einer Ladenkette für Herrenbekleidung in Übergröße, und kaufte zwei der größten am Lager befindlichen Regenmäntel, einen braunen Trenchcoat, der ihm sogar gefiel, einige Jogginghosen und drei Kapuzenshirts. In einem Laden für Sportartikel kaufte er ein paar Skimasken und die größten Fausthandschuhe, die er finden konnte. Dann besorgte er sich fünf braune Kaschmirschals, mit denen er den Teil seines Gesichts verdecken konnte, der unter einer großen Sonnenbrille noch frei geblieben wäre, falls er mit den Skimasken nicht zurechtkäme oder zu furchterregend damit aussähe. Eine große Sonnenbrille fand er in einer Drogerie.
Bei Walmart kaufte er sich das größte Paar Gummistiefel, das er finden konnte.
All das war ziemlich aufregend.
Zurück im Auto, schaltete er wieder das Radio ein. Der Regen hatte sich mittlerweile zu einem wahren Wolkenbruch entwickelt. Der Verkehr floss stockend bis gar nicht. Es war abzusehen, dass er die Nacht in Mendocino verbringen würde.
Gegen vier Uhr erreichte er den Waldweg, der direkt zu Marchents Haus führte – zu unserem Haus, dachte er.
Im Radio wurde berichtet, dass die Tote vom Buena Vista Hill eine entfernte Verwandte des älteren Ehepaars war, das von ihr so schrecklich gefoltert worden war. Ihre eigene Mutter war unter mysteriösen Umständen vor zwei Jahren gestorben. Die beiden Toten im Golden Gate Park wurden durch ihre Fingerabdrücke mit zwei Morden in Verbindung gebracht, bei denen Obdachlose in der Nähe von Los Angeles mit Baseballschlägern getötet worden waren. Das Opfer im Golden Park wurde als ein Vermisster aus Fresno identifiziert, und seine Familie war über sein Wiederauftauchen überglücklich. Der Mann, der Susan Larson in North Beach vergewaltigen wollte, hatte schon einmal eine Frau vergewaltigt und ermordet und deswegen gerade eine zehnjährige Haftstrafe abgesessen.
«Wer immer dieser irre Rächer auch sein mag …», sagte ein Polizeisprecher. «Jedenfalls muss man ihm zugutehalten, dass er einen untrüglichen Spürsinn dafür hat, im rechten Moment einzugreifen, wenn ein Verbrechen verübt wird, was ja durchaus zu begrüßen ist. Dennoch haben seine Methoden die umfangreichste Personenfahndung in der Geschichte von San Francisco ausgelöst.»
Es war zu hören, wie Dutzende von Reportern den Mann mit Fragen bestürmten. Dann fuhr er fort: «Zweifellos haben wir es hier mit einem gefährlichen und offenbar geistesgestörten Individuum zu tun.»
«Verkleidet er sich mit einem Tierkostüm?»
«Darüber können wir erst etwas sagen, wenn wir die Zeugenaussagen näher geprüft haben.»
Warum sagt er nichts von den hohen Lysozymwerten im Speichel?, fragte sich Reuben. Die Antwort lag auf der Hand: Diese Information hätte eine Massenhysterie ausgelöst. Außerdem hatte er in der letzten Nacht keinen Speichel zurückgelassen, es sei denn, an seinen Klauen hätten sich Spuren davon befunden.
Eins war jedenfalls klar: Die Menschen hatten keine Angst, dass dieser Wolfsmensch wahllos mordete und damit auch ihr Leben in Gefahr bringen könnte. Andererseits glaubte niemand, wenigstens nicht die Hörer, die sich bei den Radiosendern zu Wort meldeten, dass der Wolfsmensch tatsächlich mit Susan Larson gesprochen hatte.
Reuben wollte das Radio gerade ausschalten, als gemeldet wurde, dass die Leiche einer achtjährigen Schülerin der Goldenwood Academy vor zwei Stunden am Strand von Muir Beach aufgefunden worden war. Todesursache: stumpfe Gewalteinwirkung.
Anschließend wurde im Hauptquartier des Sheriffs von San Rafael eine Pressekonferenz abgehalten. Dort schien es zuzugehen wie bei einem Lynchmord.
«Solange wir keine zuverlässige Zusage für die unversehrte Rückkehr von Schülern und Lehrern haben», sagte der Sheriff, «werden wir den Lösegeldforderungen der Entführer nicht nachkommen.»
Es reichte. Mehr konnte Reuben nicht ertragen. Er schaltete das Radio aus. Ein kleines Mädchen am Strand von Muir Beach … Das sollten diese «knallharten Profis» also getan haben? Ein Kind kaltblütig ermorden, um zu zeigen, dass sie es ernst meinten? Natürlich. Warum auch nicht, bei fünfundvierzig potenziellen Opfern.
Er wurde immer wütender.
Inzwischen war es fünf Uhr und bereits dunkel geworden. Der Regen schien überhaupt nicht mehr aufhören zu wollen. Die Stimmen in seinem Kopf klangen weit entfernt. Um genau zu sein: Er hörte gar nichts von ihnen. Offenbar verfügte er nur über eine begrenzte Hörweite, genau wie ein Tier. Wo seine Grenzen genau lagen, wusste er nicht.
Kleines Mädchen tot am Strand.
Wahrscheinlich waren die anderen Entführungsopfer nicht weit weg.
Reuben erreichte die Kuppe des steil ansteigenden Wegs, und im Scheinwerferlicht tauchte das große Haus auf. Im Regen schien es noch unwirklicher und großartiger zu sein als in seiner Erinnerung. In den Fenstern war Licht.
Sosehr ihn der Anblick des Hauses erregte, so niederschmetternd war der Gedanke an die Kinder. Trotzdem konnte er nicht aufhören, an sie zu denken, vor allem an das tote Mädchen.
Er fuhr vor die Haustür, und die Außenbeleuchtung ging an. Sie beleuchtete nicht nur Treppe und Tür, sondern die ganze Hausfassade bis hinauf zu den oberen Fenstern. Was für ein wunderbarer Anblick!
Reuben spürte, wie weit er sich von dem naiven jungen Mann entfernt hatte, als der er diese Türschwelle zum ersten Mal überschritten hatte, zusammen mit Marchent Nideck.
Die Tür wurde geöffnet, und der Mann, der sich um das Haus kümmerte, kam in einem gelben Regenmantel heraus, um Reuben mit dem Gepäck zu helfen.
In der großen Diele brannte bereits das Kaminfeuer, und es duftete nach frischgebrühtem Kaffee.
«Ihr Essen steht auf dem Herd», sagte der Mann, ein großer, magerer grauäugiger Kerl mit wettergegerbtem, faltigem Gesicht, eisgrauen Haaren und einem gewinnenden Lächeln. «Meine Frau hat es hergebracht. Sie hat es aber nicht selbst gekocht, sondern im Dorf gekauft, im Redwood House. Sie hat auch gleich ein paar Lebensmittel für Sie besorgt, falls Sie nichts dagegen …»
«Das ist sehr nett», sagte Reuben schnell. «Ich habe an alles gedacht, nur nicht ans Essen. Vielen Dank. Ich habe mich gründlich getäuscht, als ich sagte, ich würde um vier hier sein. Tut mir wirklich leid.»
«Kein Problem», sagte der Mann. «Ich heiße übrigens Leroy Galton. Die Leute nennen mich einfach Galton. Meine Frau heißt Bess. Sie stammt von hier. Früher, als hier noch Parties gefeiert wurden, war sie öfter hier, um zu kochen und sauber zu machen.» Mit Reubens Gepäck in der Hand ging Galton durch den Hausflur auf die Treppe zu.
Reuben hielt den Atem an. Sie näherten sich der Stelle, wo er mit Marchents Angreifern gerungen hatte und beinahe gestorben wäre.
Er hatte ganz vergessen, dass auch hier alles in dunkler Eiche getäfelt war. Es waren keine Blutflecken zu sehen. Aber der Teppich zwischen Treppe und Küchentür war neu und anders gemustert als der breite orientalische Treppenläufer.
«Man kann nichts mehr sehen», sagte Galton stolz. «Wir haben alles abgeschrubbt. Der Fußboden war zentimeterdick mit altem Bohnerwachs bedeckt und hatte ohnehin eine gründliche Reinigung nötig. Jedenfalls sieht man jetzt nichts mehr von dem, was hier passiert ist.»
Reuben blieb stehen und fühlte sich plötzlich ganz leer. Nichts als Dunkelheit, in der er allmählich versank, um sich noch einmal alle Einzelheiten des Kampfes vor Augen zu führen – genauso minutiös, wie er am Karfreitag die Stationen des Heiligen Kreuzes in der Kirche St. Francis at Gubbio abschritt. Wie Nadeln fuhren ihm die Zähne der Kreatur in Hals und Schädel.
Wusstest du, was mit mir passieren würde, wenn du mich leben lässt?
Galton redete immer weiter und reihte eine Platitude an die andere … Das Leben geht weiter … Die Welt gehört den Lebenden … So etwas kann schon mal passieren … Hundertprozentige Sicherheit gibt es nirgends … Man weiß nie, wann einen das Schicksal einholt … Heutzutage gerät man schnell auf die schiefe Bahn, vor allem, wenn Drogen im Spiel sind … Damit muss man fertigwerden und einfach weitermachen …
«Eins weiß ich aber genau», sagte er plötzlich mit Nachdruck. «Ich weiß, wer es war. Ich weiß, wer Sie angegriffen hat. Und es ist ein Wunder, dass er Sie leben lassen hat.»
Reubens Nackenhaare sträubten sich, und sein Herz klopfte ihm bis zum Hals. «Ach, wirklich?»
«Ein Berglöwe», sagte Galton, kniff die Augen zusammen und hob das Kinn. «Ich weiß auch, welcher. Ein weibliches Tier, das hier in der Gegend schon viel zu lange sein Unwesen treibt.»
Reuben schüttelte den Kopf und fühlte sich sehr erleichtert. Trotzdem sagte er: «Das glaube ich nicht.»
«Doch, doch! Glauben Sie mir, mein Sohn. Hier in der Gegend wissen alle, dass es diese Berglöwin war. Sie lebt irgendwo da draußen und hat sogar ein paar Junge. Ich selbst habe schon dreimal auf sie geschossen, aber jedes Mal ist sie mir entwischt. Sie hat sich meinen Hund geholt. Nun, Sie kannten meinen Hund ja nicht, aber es war kein gewöhnlicher Hund, das kann ich Ihnen versichern.»
Das alles war ungeheuer erleichternd, weil es nichts mit dem zu tun hatte, was wirklich geschehen war.
«Er war der beste Schäferhund, den man sich wünschen konnte. Er hieß Panzer. Ich habe ihn bekommen, als er sechs Wochen alt war, ihn großgezogen und ihm beigebracht, von niemand anders auch nur den winzigsten Bissen anzunehmen. Ich habe nur Deutsch mit ihm gesprochen, die Befehle, wissen Sie. Der beste Hund, den ich je hatte.»
«Und die Berglöwin hat ihn sich geholt?», murmelte Reuben.
Wieder hob der alte Mann das Kinn und nickte ernst. «Hat ihn aus meinem Garten in den Wald gezerrt. Als ich ihn fand, war kaum noch was von ihm übrig. Das war sie, die Berglöwin und ihre Jungen. Die Jungen, müssen Sie wissen, sind schon fast ausgewachsen. Ich habe sie gejagt, die ganze Bande. Und ich jage sie weiter, auch wenn ich keinen Jagdschein besitze. Früher oder später erwische ich sie, es ist nur eine Frage der Zeit. Seien Sie also vorsichtig, wenn Sie in den Wald gehen. Sie hat ihre Jungen immer noch bei sich und bringt ihnen das Jagen bei. Also passen Sie auf, vor allem in der Dämmerung, morgens und abends.»
«Mach ich», sagte Reuben. «Aber es war kein Berglöwe.»
«Woher wollen Sie das wissen?»
Warum konnte er nicht einfach den Mund halten? Sollte der alte Mann doch glauben, was er wollte. Alle anderen taten es doch auch.
«Ich hätte es gerochen, wenn es ein Berglöwe gewesen wäre», sagte Reuben.
Unwillig schüttelte Galton den Kopf. «Jedenfalls hat sie sich meinen Hund geholt, und deswegen werde ich sie töten.»
Reuben nickte.
Der alte Mann ging die breite Eichentreppe hinauf. «Haben Sie schon von dem armen kleinen Mädchen in Marin County gehört?», fragte er über die Schulter.
Reuben murmelte, das hätte er. Er war immer noch damit beschäftigt, die Atmosphäre des Hauses aufzusaugen.
Alles war auffallend sauber, die polierten Eichendielen am Rand der alten Orientteppiche glänzten. Die kleinen kerzenförmigen Wandlampen waren eingeschaltet, wie damals.
«Sie können meine Sachen in das Zimmer dort hinten bringen», sagte er. Es war das letzte im Westflügel, Felix’ früheres Zimmer.
«Wollen Sie denn nicht das große Schlafzimmer vorne im Haus nehmen? Es ist viel sonniger, ein wirklich schönes Zimmer.»
«Später vielleicht. Fürs Erste reicht dieses.»
Galton ging voran und betätigte den Lichtschalter, ohne hinzusehen. Er musste dieses Zimmer wohl sehr gut kennen.
Auf dem Bett lag eine einfache geblümte Tagesdecke, aber darunter waren Bettdecke und Kopfkissen frisch bezogen, und im Bad fand Reuben saubere Handtücher.
«Meine Frau hat getan, was sie konnte», sagte Galton. «Die Bank wollte, dass alles schön hergerichtet wird, sobald die Spurensicherung hier fertig war.»
«Verstehe», sagte Reuben.
Galton war freundlich und hilfsbereit, aber Reuben wollte die Führung so schnell wie möglich hinter sich bringen.
Sie gingen durch mehrere Zimmer und sprachen über fällige Reparaturen, ein wackliger Türknauf hier, ein klemmendes Fenster dort, abblätternde Farbe an einer Badezimmerwand.
Das große Schlafzimmer war tatsächlich beeindruckend. An den Wänden klebte noch die original William Morris Blumentapete. Von allen Zimmern an der Frontseite des Hauses war es das beste. Es lag in der Südwestecke, die Fenster zeigten in beide Himmelsrichtungen. Das dazugehörige Badezimmer war aus Marmor, groß und mit einer Dusche ausgestattet. Da Galton erwartet hatte, dass Reuben sich hier niederlassen würde, hatte er Feuer im Kamin gemacht.
«Früher gab es eine eiserne Stiege in der linken Ecke dort», sagte Galton. «Sie führte auf den Dachboden. Aber Felix gefiel das nicht. Er wollte da oben ungestört sein und bat seinen Neffen und dessen Frau, die Treppe zu entfernen.» Galton fand sichtlich Gefallen an der Rolle des Fremdenführers. «Die Möbel sind alle noch die von damals.» Er zeigte auf das riesige Bett. «Alles Neorenaissance. Sehen Sie die gedrechselten Bettpfosten? Das Kopfende ist drei Meter hoch, Walnuss massiv. Beachten Sie die Maserung!» Er zeigte auf die Frisierkommode, die mit einer Marmorplatte abgedeckt war. «Und da, die abgerundeten Kanten!» Er zeigte auf den hohen Spiegel. «Auch der Waschtisch ist noch original. Die Möbel stammen alle aus der Werkstatt von Berkey und Gay in Grand Rapids. Auch der Tisch da. Woher der Ledersessel stammt, weiß ich allerdings nicht. Marchents Vater hat ihn geliebt. Hat jeden Morgen sein Frühstück darin zu sich genommen und seine Zeitungen gelesen. Jemand musste sie extra für ihn holen, weil es niemanden gab, der sie hierher liefern wollte. Was Sie vor sich haben, sind echte amerikanische Antiquitäten. Das passt zu einem Haus wie diesem. Später hat Felix dann die europäischen Antiquitäten für die Bibliothek und die Diele unten angeschafft. Er hatte es mehr mit der Renaissance.»
«Das sieht man», sagte Reuben.
«Wir haben dieses Zimmer extra für Sie hergerichtet, mit den besten Laken und so weiter. Alles, was Sie sonst noch brauchen, finden Sie im Badezimmer. Die Blumen auf dem Tisch sind übrigens aus meinem Garten.»
Reuben bedankte sich gerührt. «Bestimmt ziehe ich irgendwann hierher um», sagte er. «Es scheint wirklich das schönste Zimmer im ganzen Haus zu sein.»
«Außerdem haben Sie hier den besten Blick aufs Meer», sagte Galton. «Marchent hat dieses Zimmer allerdings nie benutzt. Für sie war es immer das Elternschlafzimmer. Ihr Zimmer liegt ein Stück den Gang runter.»
Reuben musste an Mrs. Danvers aus Rebecca denken und spürte wieder dieses wohlige Schaudern, das ihn neuerdings öfter überkam. Mein Haus, dachte er. Mein Haus.
Er wünschte so sehr, dass Phil es bald sah, aber noch konnte er ihn nicht herholen.
Das Schlafzimmer an der Südostecke des Hauses war ebenso urig wie das Elternschlafzimmer und ähnelte den beiden Zimmern an der Vorderseite des Hauses, die nach Süden gingen. Alle drei waren mit den schweren Möbeln aus Grand Rapids bestückt, und auch hier hingen William-Morris-Tapeten an den Wänden, die allerdings stellenweise schimmelig waren und sich ablösten. Hier gab es akuten Renovierungsbedarf. Galton gab zu, dass er noch nicht dazu gekommen war, sich um diese Räume zu kümmern. Es fehlte auch an Steckdosen, und die Kamine waren schadhaft. Und so ansehnlich die dazugehörigen Badezimmer mit ihren Waschständen und freistehenden Wannen auch waren, boten sie doch keinen Komfort. «Felix wollte sich um all das kümmern», sagte Galton und schüttelte bedauernd den Kopf.
Sogar der Teppich in diesem Teil des Hausflurs war abgewetzt.
Sie sahen sich noch die Zimmer an, die im Osten lagen. Auch sie waren mit amerikanischen Antiquitäten im Stil der Neorenaissance ausgestattet.
«Hier ist bereits alles renoviert», sagte Galton stolz. «Inklusive Kabelanschluss. Für Zentralheizung und funktionierende Kamine hat Felix noch gesorgt, aber Marchent hatte keinen Fernseher, sie hielt nicht viel davon, und nachdem ihre Brüder aus dem Haus waren, gab es keinen Grund, einen neuen Apparat anzuschaffen. Natürlich hat sie oft Freunde mitgebracht, einmal einen ganzen Verein aus Südamerika, aber auch die machten sich nichts aus Fernsehen.»
«Können Sie im großen Schlafzimmer trotzdem einen guten Flatscreen installieren?», fragte Reuben. «Ich kann ohne Nachrichten nicht leben, muss immer auf dem neuesten Stand sein. In der Bibliothek unten können wir auch einen gebrauchen, und etwas Kleineres in der Küche wäre schön. Apropos Küche: Ich koche selbst.»
«Kein Problem. Ich kümmere mich darum.» Galton schien ganz begeistert zu sein.
Sie gingen die Treppe wieder hinunter und passierten noch einmal den Tatort.
«Es gibt da zwei Männer, die mir helfen», sagte Galton. «Sie haben wohl nichts dagegen, wenn die hier ein und aus gehen, oder? Der eine ist mein Cousin, der andere mein Stiefsohn. Denen können Sie genauso vertrauen wie mir. Wann immer Sie Wünsche haben, kümmert sich einer von uns darum.»
Unten zeigte Galton dem neuen Hausherrn stolz, wie gut die Fenster im Esszimmer repariert worden waren. Man konnte kaum sehen, dass einige Scheiben neu waren, was bei den rautenförmigen, bleigefassten Scheiben ein ziemliches Kunststück war.
Marchents Brüder hatten auch die Abstellkammern links und rechts der Diele aufgerissen und Silbertabletts und Teekannen überall im Raum verstreut, um es wie einen Einbruchsdiebstahl aussehen zu lassen. Aber sie hatten sich so dumm angestellt, dass niemand darauf hereingefallen war.
«Das ist alles wieder in Ordnung gebracht worden», sagte Galton und ließ Reuben einen Blick in die Abstellkammern werfen. «Es gibt noch mehr solcher Kammern. Eine befindet sich kurz vor der Küche. Ich hoffe, Sie wollen einmal eine Familie gründen und viele Kinder in die Welt setzen, dann brauchen Sie viel Geschirr. Am anderen Ende des Hausflurs befindet sich noch ein großer Schrank mit Porzellan und Besteck und so weiter.»
Reuben musste tief durchatmen, als er dem alten Mann in die Küche folgte. Ganz langsam ließ er den Blick über den Fußboden schweifen. Er war aus weißem Marmor, der hier und da mit geflochtenen Fußmatten bedeckt war. Irgendwo darunter mussten sich Marchents Blutflecke befinden. In den Fugen der Marmorfliesen waren sie bestimmt noch zu sehen, vielleicht sogar auf dem Marmor selbst. Reuben wusste nicht, wo genau sie gelegen hatte. Er wusste nur, dass er es in dieser Küche kaum aushielt. Bei der Vorstellung, sich von dem Eintopf zu bedienen, der auf dem Herd stand, drehte sich ihm der Magen um.
Noch nie hatte er etwas herunterbekommen, wenn er an den Tod denken musste. Auch als Celestes Bruder in Berkeley gestorben war, hatte er tagelang nichts essen oder trinken können, ohne sich sofort zu übergeben.
Er bemühte sich, Galton nicht merken zu lassen, wie ihm zumute war. Aber der Mann beobachtete ihn und schien auf etwas zu warten.
«Ich gebe Ihnen freie Hand», sagte Reuben. «Machen Sie alles so, wie Sie es für richtig halten.» Er holte seine Brieftasche heraus und gab Galton einen Packen Scheine. «Das sollte für den Anfang reichen. Bitte füllen Sie auch die Tiefkühltruhe und die Speisekammer mit den üblichen Dingen. Ich weiß, wie man eine Lammkeule auftaut und zubereitet. Besorgen Sie einen oder zwei Beutel Kartoffeln, Karotten und Zwiebeln. Dann kann ich gut für mich selbst sorgen. Kümmern Sie sich nur um das Haus. Das Wichtigste für mich ist Privatsphäre. Bitte sorgen Sie dafür, dass niemand – und ich meine wirklich: niemand – außer Ihren Helfern ins Haus kommt, und auch die nur, wenn Sie dabei sind.»
Galton war zufrieden. Er steckte sich das Geld in die Tasche und nickte zu allem, was Reuben sagte. Dann erzählte er, «diese Reporter» hätten andauernd hier herumgeschnüffelt. Bis jetzt hätte aber noch keiner gewagt, ins Haus einzudringen. Erst als dann die Schulkinder entführt wurden, seien alle wieder abgezogen. «So ist das heute», sagte er. «Mit dem Internet und all diesen Sachen. Alles muss schnell gehen, nichts interessiert die Leute länger als ein paar Tage. Aber dann ist diese Sache mit dem Wolfsmenschen in San Francisco passiert, und schon kamen sie hier wieder an. Die Polizei war schon zweimal hier, um nach dem Rechten zu sehen.»
Außerdem sei die Alarmanlage wieder eingeschaltet worden, als die Spurensicherung ihre Arbeit beendet hatte. Galton selbst habe dafür gesorgt, als die Polizei aus dem Haus war. Dem Anwalt der Familie sei es auch wichtig gewesen. Als die Alarmanlage richtig eingestellt war, hätte er auch Bewegungsmelder installiert, die das gesamte Gelände vorm Haus und das Erdgeschoss sicherten, sowie Glasbruchmelder und Sensoren an allen Fenstern und Türen.
«Wenn der Alarm losgeht, ertönt in meinem Haus und auf der örtlichen Polizeiwache ein Signal. Ich rufe sie an, sie rufen mich an. Aber das hat die Reporter bislang nicht gestört. Sie belagern das Haus trotzdem.»
Galton gab Reuben den Alarmcode und zeigte ihm, welche Tasten er drücken musste. Dann erklärte er ihm die Apparatur im Obergeschoss, mit der er den Bewegungsmelder ausschalten konnte, bevor er morgens die Treppe herunterkam. «Wenn Sie ihn eingeschaltet lassen wollen, geben Sie den Code ein und drücken die HOME-Taste. Fenster und Türen bleiben übrigens gesichert, wenn der Bewegungsmelder aus ist.»
Dann fiel Galton noch etwas ein. «Sie brauchen meine E-Mail-Adresse. Ich checke meine Mails dauernd. Schicken Sie mir eine, wann immer Sie etwas brauchen, ich komme dann sofort.» Stolz hielt er sein iPhone in die Höhe. «Sie können mich natürlich auch anrufen. Mein Telefon liegt die ganze Nacht neben meinem Bett.»
Im Übrigen brauche Reuben keine Sorge wegen der Öfen zu haben. Gemessen am Alter des Hauses seien die Gasöfen relativ neu und das ganze Haus sei asbestfrei. Die Heizungsanlage sei so eingestellt, dass im Haus eine konstante Temperatur von zwanzigeinhalb Grad herrsche. Dabei habe Marchent sich am wohlsten gefühlt. Das Gebläse sei fast überall ausgeschaltet, aber es sei doch auch so warm genug, oder?
Und dann sei da noch der Keller, wenn auch nur ein kleiner. Der Zugang läge unter der Haupttreppe. Das hätte er beinahe vergessen. Aber da unten sei ja auch nichts mehr. Früher habe da unten die Heizungsanlage gestanden, aber die befände sich schon seit Jahren im Dienstbotentrakt.
«Gut», sagte Reuben und konnte kaum noch etwas aufnehmen.
Der Internetzugang funktioniere, fuhr Galton unbeirrt fort, daran habe sich seit Miss Marchents Tod nichts geändert. Man könne im ganzen Haus darauf zugreifen. Router befänden sich in Miss Marchents Arbeitszimmer und im Elektroraum des Obergeschosses, ganz am Ende des Hausflurs.
Reuben begleitete Galton zur Hintertür.
An den hohen Bäumen waren Flutlichter montiert, und Reuben sah zum ersten Mal den großen Parkplatz und den Dienstbotentrakt, wo Felice ermordet worden war. Es war klar zu erkennen, dass es sich um einen Anbau neueren Datums handelte.
Vom Wald konnte man wegen der Lichter so gut wie nichts sehen. Nur hier und da schimmerte es grün, und einzelne Baumstämme wurden angeleuchtet.
Bist du da draußen? Beobachtest du uns? Erinnerst du dich an den Mann, den du als einzigen verschont hast?
Galton fuhr einen fabrikneuen Truck der Marke Ford und ließ sich minutenlang über dessen Vorzüge aus. Es gebe nichts, was einen Mann glücklicher mache als ein fabrikneuer Truck. Reuben solle sich am besten auch einen zulegen, das sei hier sehr nützlich. Aber Reuben könne natürlich auch jederzeit Galtons benutzen.
Dann verabschiedete er sich und versicherte Reuben, er sei binnen zehn Minuten zur Stelle, wenn Reuben ihn rufe.
«Eine letzte Frage», sagte Reuben. «Ich habe zwar einen Grundstücksplan und so weiter, aber ist das Gelände eigentlich umzäunt?»
«Nein», sagte Galton. «Der Redwoodwald erstreckt sich über viele Kilometer und beherbergt einige der ältesten Bäume der Region. Trotzdem gibt es hier nicht viele Wanderer. Wir liegen hier zu weit abseits der gängigen Ausflugsrouten. Die meisten Leute besuchen die State Parks. Im Norden grenzt das Grundstück der Familie Hamilton an unseres, im Osten das der Dexels, aber soviel ich weiß, wohnt da niemand mehr. Ihr Haus steht seit Jahren zum Verkauf. Allerdings habe ich da vor ein paar Wochen Licht brennen sehen. Die Bäume dort sind so alt wie in unserem Teil des Walds.»
«Ich kann’s gar nicht abwarten, in den Wald zu gehen», murmelte Reuben, als er endlich allein war. Allein.
Was könnte schöner sein, als in Wolfsgestalt den Wald zu durchstreifen? Er würde neue Dinge sehen, riechen und vielleicht auch schmecken.
Aber was war mit der Berglöwin und ihren Jungen? Ob sie wirklich in der Nähe waren? Bei diesem Gedanken regte sich etwas in ihm. Ein Tier – stark wie ein Berglöwe. Würde er schneller sein? Könnte er es töten?
Er blieb noch eine Weile an der Küchentür stehen, bis die Geräusche von Galtons Truck leiser wurden. Dann wandte er sich dem leeren Haus zu, um sich dem zu stellen, was dort geschehen war.