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Das helle Licht der Diele irritierte ihn, und die Heizung war zu warm. Die Luft kam ihm abgestanden und muffig vor, und er fühlte sich so beengt, als müsse er ersticken.

Schnell ging er in die Bibliothek und rief im Clift Hotel in San Francisco an. Er musste Felix sprechen. Scham und Reue nagten an ihm. Nur Felix konnte ihm jetzt helfen. Es ging ihm so miserabel, dass er keine Ruhe finden würde, bevor er Felix seine Untat gestanden hatte. Achtlos hatte er das Chrisam weitergegeben.

Der Rezeptionist sagte, Felix sei bereits am Nachmittag abgereist. Dann fragte er, wer der Anrufer sei. Reuben wollte schon verzweifelt auflegen, schöpfte aber neue Hoffnung bei dem Gedanken, Felix könnte ihm eine Nachricht hinterlassen haben. Und tatsächlich!

«Ich soll Ihnen ausrichten, dass er in dringenden Geschäften abberufen wurde, die keinen Aufschub duldeten. Aber er will so bald wie möglich zurückkehren.»

Nein, er habe keine Telefonnummer oder Adresse hinterlassen.

Reuben ließ den Kopf auf den Schreibtisch sinken. Kurz darauf griff er wieder zum Telefon, rief Simon Oliver an und hinterließ ihm die Nachricht, er solle sich mit Hammermill in Verbindung setzen und eine Telefonnummer in Erfahrung bringen, unter der Felix im Notfall zu erreichen sei. Es sei dringend. Simon könne sich gar nicht vorstellen, wie dringend.

Mehr konnte er nicht tun, um seine Panik niederzukämpfen. Würde der Junge sterben? Würde das Chrisam ihn umbringen? Hatte der widerwärtige Marrok überhaupt die Wahrheit gesagt, als er behauptete, das Chrisam könne töten?

Er musste Felix ausfindig machen!

Wieder sah er den Jungen auf dem dreckigen Hinterhof zusammenbrechen, die ausgestreckten Hände, die Wunden.

Lieber Gott!

Er sah zu dem lächelnden Felix auf dem Foto auf. Lieber Gott, bitte hilf mir! Lass den armen Jungen nicht sterben!

Es war unerträglich.

Laura beobachtete ihn und sah, dass etwas nicht stimmte, wartete aber ab, bis er darüber sprechen wollte.

Er nahm Laura in die Arme und streichelte über ihren dicken grauen Pullover und die warme graue Hose.

Ich will mich verwandeln. Jetzt. Will in die Nacht zurück.

Noch als er Laura festhielt, spürte er, wie ihm erneut ein Fell wuchs. Er ließ sie nur kurz los, um sich auszuziehen. Das Fell schützte ihn vor der Wärme des Zimmers, und was er jetzt roch, waren die Aromen des Walds, der bis an die Fenster reichte. In ekstatischen Wellen erfasste die Verwandlung seinen Körper, sodass er sich kaum auf den Beinen halten konnte.

Er hob Laura hoch und trug sie zur Hintertür aus dem Haus. Die Verwandlung war jetzt abgeschlossen. Laura sicher an die linke Schulter gedrückt, eilte er durch den Wald. Vorgebeugt sprang er von einem kraftstrotzenden Bein aufs andere, ließ die Eichen hinter sich und erreichte die Redwoodbäume.

«Klammer dich an mir fest», flüsterte er Laura ins Ohr und half ihr, die Arme um seinen Hals und die Beine um seinen Bauch zu schlingen. «Wir gehen in die Baumwipfel. Hast du Lust?»

«Und wie!», rief sie.

Er stieg bis in die höchsten Äste, jenseits der Kletter- und Efeupflanzen, immer höher, bis die niedrigeren Bäume unter ihnen zurückblieben und das Meer zu sehen war, das endlose, glitzernde Meer unter den von einem gespenstisch weißen Mond erhellten Wolken. Schließlich fand er einige knorrige, ineinander verschlungene Zweige, die eine sichere Lagerstätte bildeten und sie tragen würden.

Reuben setzte sich und lehnte sich zurück. Mit der linken Hand hielt er sich an einem Ast fest, mit der rechten hielt er Laura. Sie lachte vor Lust und bedeckte seinen Körper mit Küssen, vor allem die Stellen, an denen er es spüren konnte – den Augenlidern, der Nasenspitze, den Mundwinkeln.

«Halt dich fest», mahnte er, verlagerte das Gewicht und setzte sie auf seinen rechten Schenkel. «Siehst du das Meer?»

«Ja», sagte sie. «Aber eigentlich nur weil ich weiß, dass es da ist. Sehen kann ich nur ein schwarzes Nichts.»

Wie befreit atmete Reuben den würzigen Geruch des gigantischen Baums ein und lauschte auf den vielstimmigen Chor des Waldes. Überall in seinem Blätterdach regte sich Leben.

Laura drückte ihm den Kopf an die Brust.

Lange saßen sie so da. Er genoss den Anblick des Meeres, des Himmels und der fernen Sterne. Immer wieder schoben sich Wolken vor den Mond, und dann schien es, als durchlöchere er sie mit seinem Licht. Der salzige Wind raschelte in den Blättern.

Plötzlich spürte Reuben einen Hauch von Gefahr. Oder war bloß eine andere Kreatur in der Nähe? Er war sich nicht sicher. Er wusste nur, dass er Laura nichts davon sagen konnte. Hier oben war sie von ihm vollkommen abhängig. Er horchte.

Glattnasenfledermäuse lebten in dieser Höhe, Flughörnchen, Meisen und Streifenhörnchen. Doch warum sollten Tiere wie diese seinen Beschützerinstinkt wecken? Was immer ihn irritiert hatte, war wieder verschwunden. Wahrscheinlich lag es an Laura, dachte er, dass er übervorsichtig und so schreckhaft war.

Alles war gut.

Doch dann musste er wieder an den Jungen denken. Eine Katastrophe!

Er betete, dass der Wald ihn schützen und vor Gewissensqualen bewahren möge. Früher waren die Stimmen von Grace, Phil, Jim oder Celeste sein Gewissen gewesen. Das war jetzt anders. Jetzt war es die Stimme seines eigenen Gewissens, das wie ein Messer in seine Seele schnitt.

Mach es wieder gut! Benutze deine neue Kraft dafür! Was hast du diesem Jungen angetan? Was wird aus ihm, wenn er überlebt? Ein Morphenkind wie du?

Irgendwann ertrug er diese Gedanken nicht länger. Der Friede, den er hier oben suchte, wollte sich nicht einstellen. Er musste sich bewegen und begann, von Baum zu Baum zu springen, nachdem Laura sich wieder an ihn geklammert hatte. In einem großen Bogen bewegten sie sich in den Baumwipfeln auf den Rand des Redwoodwalds zurück. Laura schien praktisch nichts zu wiegen. Sie roch so gut, als trüge er einen Strauß frischgepflückter Blumen mit sich herum. Er begann, an ihrem Hals und ihren Wangen zu lecken, und aus seinem Inneren ertönte ein begehrliches Stöhnen, das auch ihre Lust entfachte.

Sie verstärkte den Druck ihrer Arme und Beine, und Reuben stieg in die wärmere, niedrigere Zone des Walds ab, denn Lauras Hände waren eiskalt.

Langsam trug er sie durch den Eichenwald. Hier und da blieb er stehen, um sie zu küssen. Er schob die linke Pfote unter ihren Pullover und spürte ihre heiße, feuchte Haut, die so wunderbar duftete. Er hob sie höher, um an ihren Brüsten zu saugen. Sie seufzte.

Im Haus angekommen, legte er sie auf den großen Esszimmertisch und nahm ihre kalten Hände in seine warmen Pfoten. Das Zimmer war dunkel. Das Haus ächzte im scharfen Seewind. Nur aus der Diele schien etwas Licht herüber.

Reuben sah Laura lange an. Sie wartete auf ihn. Ihr Haar war offen, hier und da hatte sich ein Blatt darin verfangen. Mit großen, verlangenden Augen sah sie ihn an.

Er fachte das Feuer im Kamin an. Es knackte und fauchte, und die Flammen züngelten hoch. Ihr Widerschein zuckte über die Zimmerdecke und die polierte Tischplatte.

Laura begann sich auszuziehen, aber mit einer sanften Geste gebot Reuben ihr Einhalt, weil er es selber tun wollte. Langsam rollte er ihren Pullover hoch und legte ihn zur Seite, dann zog er ihr Hose und Schuhe aus.

Sie nackt vor sich zu sehen steigerte seine Lust ins Unermessliche. Er rieb die weiche Unterseite seiner Pfoten an ihren nackten Füßen und Schenkeln.

«Ich will dir nicht weh tun», flüsterte er mit der tiefen Stimme, die ihm mittlerweile so vertraut war. «Du musst es mir sagen, wenn ich dir weh tue.»

«Du tust mir nie weh», flüsterte Laura. «Du kannst mir gar nicht weh tun.»

Er leckte mit seiner langen, rauen Zunge über ihren ganzen Körper und drückte ihre Brüste mit den Pfoten hoch. Weiche von mir, Unglück! Er kniete sich über sie und hob sie an, bis er leicht in sie eindringen konnte. Alles um ihn herum versank im Nichts, und er nahm nichts mehr wahr außer ihr, bis er auch sie nicht mehr wahrnahm.

Hinterher hob er sie vom Tisch und trug sie die Treppe hinauf und durch den dunklen Flur ins Schlafzimmer. Der Geruch von Parfüm und Kerzen erfüllte die Stille.

Er legte sie aufs Bett, wo sie nur ein Schatten auf den weißen Laken zu sein schien, und setzte sich neben sie. Wie selbstverständlich schloss er die Augen und setzte seine Rückverwandlung in Gang. Es kribbelte in seiner Brust, und das Wolfsfell zog sich wie von Zauberhand zurück, wurde weich und verschwand dann ganz. Die orgasmischen Krämpfe packten ihn nur kurz, und schon bald blickte er auf seine nackte Menschenhaut, seine Hände und Füße.

«Ich habe heute etwas Furchtbares getan», sagte er.

«Sag doch endlich, was!», sagte Laura und drückte zärtlich seinen Arm.

«Ich habe den Jungen verletzt, den ich retten wollte. Ich glaube sogar, dass ich das Chrisam an ihn weitergegeben habe.»

Laura sagte nichts, sondern sah ihn nur mitfühlend an. Das hatte er nicht erwartet. Gehofft vielleicht, aber nicht erwartet.

«Und wenn er nun stirbt?», fragte er beklommen. «Was, wenn ich unschuldiges Blut vergossen habe? Oder wenn aus ihm bestenfalls wird, was aus mir geworden ist?»