6

Reuben fuhr mit dem Porsche zur Arbeit, und zwar viel zu schnell. In der Stadt kam ihm der Wagen immer wie ein Panther an der Kette vor. Lieber wäre er auf dem Weg nach Mendocino gewesen, zum Wald hinter Marchents Haus, aber er wusste, dass es dafür noch viel zu früh war. Bevor er sich auf die Suche nach dem Monster begab, das ihn zum Wolfsmenschen gemacht hatte, musste er mehr in Erfahrung bringen.

Das Autoradio brachte ihn auf den neuesten Stand in Sachen Schulbusentführung. Immer noch war keine Lösegeldforderung eingegangen, und es fehlte nach wie vor jede Spur, wer die Kinder entführt hatte und wohin.

Er rief Celeste an. «Sonnyboy», sagte sie überrascht. «Wo um alles in der Welt hast du gesteckt? Die Stadt fängt schon an, die Schulbusgeschichte zu vergessen. Stattdessen sind alle im Werwolffieber. Wenn mich noch ein einziger Idiot fragt, was mein Freund dazu sagt, flüchte ich aus dem Büro und verbarrikadiere mich in meiner Wohnung.» Sie redete weiter und erzählte ihm das Neueste über die «Drogennutte» aus North Beach, die behauptete, ein Zwischending aus Frankensteins Monster und Yeti habe sie gerettet.

Von Billie kam eine SMS: «Komm sofort!»

Er konnte das Stimmengewirr im Büro der Lokalredaktion schon hören, bevor er aus dem Fahrstuhl trat, und ging ohne Umweg über das Großraumbüro der Kollegen in Billies Büro.

Die Frau, die vor Billies Schreibtisch saß, kannte er, aber er konnte sie nicht gleich zuordnen. Auch den Geruch in Billies Büro kannte er. Er erinnerte ihn an eine Situation, die höchst ungewöhnlich war, aber er wusste nicht gleich, welche. Jedenfalls war es ein angenehmer Geruch, er transportierte etwas Gutes. Natürlich! Es war der Geruch der Frau, die beinahe vergewaltigt worden wäre. Daneben konnte er auch Billies Geruch ausmachen, ganz deutlich sogar. Aber da waren noch mehr Gerüche. Genau genommen wimmelte es von Gerüchen. Kaffee und Popcorn. So deutlich hatte er diese Aromen noch nie zuvor wahrgenommen. Auch die Gerüche aus den nahen Toiletten, und die waren ihm nicht mal unangenehm.

Aha, so ist das jetzt also, dachte er. Ich nehme Gerüche wahr wie ein Wolf. Und Geräusche dazu.

Die Frau weinte – eine feingliedrige Brünette in einem leichten Wollkostüm. Um den Hals hatte sie ein Seidentuch geschlungen. Ein Auge war zugeschwollen.

«Gott sei Dank sind Sie gekommen», sagte sie, als Reuben eintrat.

Er setzte sein charmantestes Lächeln auf.

Die Frau griff nach seiner linken Hand und zog ihn beinahe in den Stuhl neben sich. In ihren Augen standen Tränen.

Billie begann zu sprechen, und es klang wie Donnergrollen.

«Du hast dir ja reichlich Zeit gelassen! Miss Susan Larson hier möchte mit keinem anderen als dir sprechen. Kein Wunder, wo sich doch die ganze Stadt über sie lustig macht.»

Unsanft warf Billie ihm den San Francisco Chronicle zu.

«Das da hat sich zum Stadtgespräch gemausert, während du deinen Schönheitsschlaf gehalten hast, Reuben. ‹Frau von Wolfsmensch gerettet›. Und CNN titelt: ‹Mysteriöse Bestie schlägt Vergewaltiger in San Franciscos Gassen in die Flucht›. Seit heute Mittag verbreitet sich die Geschichte wie ein Lauffeuer. Wir hatten sogar schon Anrufe aus Japan!»

«Worum geht es überhaupt?», fragte Reuben, aber er verstand nur zu gut.

«Worum es geht?», schnappte Billie. «Was ist mit dir los, Reuben? Ein ganzer Bus voller Schulkinder ist verschwunden, und eine blauäugige Bestie treibt sich in den Gassen von North Beach herum. Und du fragst, worum es überhaupt geht?»

«Ich bin nicht verrückt», sagte die Frau. «Ich weiß, was ich gesehen habe. Das Gleiche, was Sie in Mendocino gesehen haben, Mr. Golding! Ich habe gelesen, was Ihnen da oben passiert ist.»

«Aber ich habe gar nichts gesehen», sagte Reuben und fühlte sich ganz elend. Wollte er der Frau etwa einreden, dass sie verrückt war?

«Aber es war das Gleiche, was Sie beschrieben haben», sagte die Frau und klang fast hysterisch. «Das Keuchen, das Knurren, die Geräusche, die dieses Wesen machte. Aber es war kein Tier. Ich habe es gesehen. Es war ein Mensch, der wie ein Tier aussah. Ich weiß doch, was ich gesehen habe!» Die Frau beugte sich vor und starrte Reuben aus nächster Nähe an. «Ich spreche darüber mit niemandem außer Ihnen. Ich habe es satt, ausgelacht zu werden. ‹Frau von Yeti gerettet!› Wie können sie es wagen, darüber Witze zu machen?»

«Geh mit ihr in den Konferenzsaal und hör dir ihre Geschichte an», sagte Billie. «Ich will deine Meinung dazu hören. Und ich will alle Einzelheiten, die von der Konkurrenz so selbstherrlich ignoriert werden.»

«Man hat mir Geld angeboten», platzte es aus Miss Larson heraus. «Ich habe es abgelehnt, weil ich nur mit Ihnen sprechen will.»

«Einen Moment mal, Billie», sagte Reuben und hielt Miss Larsons Hand. «Ich bin nicht der Richtige für diese Story, und du weißt ganz genau, warum. Seit dem Desaster in Mendocino sind gerade mal zwei Wochen vergangen, und du erwartest ausgerechnet von mir, dass ich über eine mysteriöse Tierattacke schreibe, die hier …»

«Da liegst du verdammt richtig», sagte Billie. «Wer denn sonst? Die Telefone stehen nicht still, Reuben. Alle wollen dich sprechen. Die Radiosender, das Fernsehen, sogar die New York Times! Alle wollen wissen, was du dazu sagst. Ob es dieselbe Bestie ist wie in Mendocino. Und falls du dich fragen solltest, ob auch die Menschen in Mendocino County uns mit Fragen bestürmen, kann ich nur sagen: Dreimal darfst du raten! Und du willst mit der Geschichte nichts zu tun haben? Es geht um unser Blatt, Reuben!»

«Unser Blatt, Billie, sollte etwas mehr Rücksicht auf mich nehmen», gab Reuben zurück. «Ich bin noch nicht so weit, dass ich …»

«Bitte, Mr. Golding! Bitte hören Sie mich an», sagte Miss Larson. «Verstehen Sie denn nicht, wie ich mich fühle? Ich wäre gestern Nacht beinahe gestorben. Diese Kreatur hat mir das Leben gerettet, aber ich bin zu einer internationalen Witzfigur geworden, weil ich erzählt habe, was ich gesehen habe.»

Reuben wusste nicht, was er noch sagen sollte. Das Blut hämmerte in seinen Ohren. Wo, zum Teufel, bleiben Superman und seine Helfer? Billies Telefon rettete ihn. Fünfzehn Sekunden lang horchte sie aufmerksam in den Hörer, grunzte und legte auf. Reuben wollte lieber nicht hören, was jetzt kam.

«Die Gerichtsmedizin bestätigt, dass es ein Tier war, ein Hund oder Wolf. Das wäre also schon mal geklärt.»

«Haben sie Haare oder Fell gefunden?», fragte Reuben.

«Es war kein Tier!», protestierte Miss Larson erneut und regte sich so auf, dass sie beinahe schrie. «Ich sage doch, dass es ein Gesicht hatte, ein menschliches Gesicht! Und es hat mit mir gesprochen. Mit ganz normalen Worten. Es wollte mir helfen. Es hat mich berührt, ganz sanft, um mich zu trösten. Also hören Sie auf, von einem Tier zu sprechen!»

Billie stand auf und forderte die anderen auf, ihr zu folgen.

Der Konferenzsaal war fensterlos und steril. Ein ovaler Mahagonitisch mit Chippendalestühlen stand in der Mitte. In den beiden Fernsehern an der Decke liefen ohne Ton CNN und Fox.

Gerade wurde das groteske, comicartige Bild eines Werwolfs gezeigt.

Reuben zuckte zusammen.

Plötzlich sah er wieder den Hausflur in Mendocino vor sich. Dieses Mal konnte er sehen, wie sich die Kreatur auf die beiden Männer stürzte, die ihn zu töten versuchten.

Er legte die Hand vor die Augen, und Billie griff nach seinem Handgelenk.

«Wach auf, Reuben!», sagte sie und wandte sich an die junge Frau. «Nehmen Sie bitte Platz und erzählen Sie Reuben alles, woran Sie sich erinnern können.» Dann brüllte sie ihrer Assistentin, Althea, zu, sie solle Kaffee bringen.

Miss Larson schlug die Hände vors Gesicht und begann zu weinen.

In Reuben stieg Panik auf. Er rückte näher an die Frau heran und legte einen Arm um ihre Schultern. Über einen der Bildschirme flimmerten Ausschnitte aus einem Film mit Lon Chaney junior als Der Wolfsmensch. Dann plötzlich das erste Panoramabild von Kap Nideck, das er je im Fernsehen gesehen hatte – sein Haus mit den spitzen Giebeln und den bleiverglasten Fenstern.

«Nein, nein», sagte Miss Larson mit Blick auf den Fernseher. «So war es nicht. Können Sie das bitte ausschalten? Er sah nicht aus wie Lon Chaney und auch nicht wie Michael J. Fox.»

«Althea!», brüllte Billie. «Schalte die scheiß Fernseher aus!»

Reuben war drauf und dran, aufzustehen und zu gehen. Doch das kam nicht in Frage.

«Was ist denn nun mit der Schulbusentführung?», fragte er.

«Was soll damit sein?», sagte Billie. «Darauf habe ich jemand anders angesetzt. Du kümmerst dich um den Wolfsmenschen, rund um die Uhr. Althea, bringen Sie Reubens Aufnahmegerät!»

«Das brauche ich nicht, Billie», sagte Reuben. «Ich benutze mein iPhone.» Er startete die Aufnahme.

Billie verließ den Saal und knallte die Tür hinter sich zu.

In der folgenden halben Stunde hörte Reuben der Frau zu, machte sich Notizen und hielt Blickkontakt.

Aber immer wieder gingen ihre Worte ungehört an ihm vorbei, denn er konnte nicht aufhören, an «die Bestie» zu denken, die ihn beinahe getötet hätte.

Er nickte, drückte der jungen Frau die Hand, und einmal nahm er sie sogar in den Arm. Aber in Gedanken war er ganz woanders.

Irgendwann kam Miss Larsons Lebensgefährte und bestand darauf, sie nach Hause zu bringen, obwohl sie gern noch weitergeredet hätte. Reuben begleitete die beiden zum Fahrstuhl.

Zurück an seinem Schreibtisch, starrte er auf die vielen Telefonnotizen, die ihm die Kollegen an den Computerbildschirm geklebt hatten. Althea meldete sich und sagte, Celeste sei auf Leitung 2.

«Was ist mit deinem Handy los?», fragte sie. «Warum kann ich dich nicht erreichen?»

«Keine Ahnung», murmelte Reuben geistesabwesend. «Sag mal, haben wir eigentlich Vollmond?»

«Nein, weit davon entfernt. Warte mal.» Reuben hörte Celestes Computertasten klackern. «Ja, wir haben nicht mal Halbmond. Das kannst du also vergessen. Aber warum fragst du überhaupt? Die Entführer haben gerade eine Lösegeldforderung gestellt, und du faselst von dem Wolfsmenschen!»

«Sie haben mich auf die Geschichte angesetzt, obwohl ich es nicht wollte. Wie hoch ist denn die Lösegeldforderung?»

«Das ist ja wohl das Beleidigendste und Gedankenloseste, was ich je gehört habe», sagte Celeste wütend. «Du musst dich dagegen wehren, Reuben! Was soll das? Wegen der Sache, die dir im Norden passiert ist? Was denkt Billie sich bloß dabei? Die Entführer verlangen fünf Millionen Dollar und wollen die Kinder eins nach dem anderen umbringen, wenn ihre Forderungen nicht erfüllt werden. Du solltest dich auf dem Weg nach Marin County befinden! Das Lösegeld soll auf ein Konto auf den Bahamas überwiesen werden, aber man kann davon ausgehen, dass es auf diesem Konto nicht lange bleiben wird, sondern ganz schnell irgendwo im Äther des Cyber-Bankings verschwindet. Vielleicht kommt es bei der Bank gar nicht erst an. Es heißt, die Entführer seien Computercracks.»

Plötzlich stand Billie vor Reubens Schreibtisch.

«Was hast du aus ihr rausgeholt?»

Reuben legte auf. «’ne Menge. Wie sie die Sache sieht. Aber jetzt muss ich erst mal sehen, was die Kollegen darüber berichtet haben.»

«Dazu ist keine Zeit. Ich will deinen Exklusivbericht auf die Titelseite bringen. Dir ist doch klar, dass der Chronicle versuchen wird, dich abzuwerben, oder? Und ob du’s glaubst oder nicht: Channel Six will dich auch haben. Seit Mendocino liegen sie mir in den Ohren.»

«Das ist doch lächerlich.»

«Ist es nicht. Es liegt an deinem Aussehen. Das ist alles, was die Fernsehfritzen interessiert. Aussehen, Aussehen, Aussehen. Ich dagegen habe dich nicht wegen deines Aussehens eingestellt. Und ich sage dir eins, Reuben: Das Verkehrteste, was jemand in deinem Alter tun kann, ist, sich bei einem Nachrichtensender zu verschleißen. Also gib mir diese Geschichte, wie du sie siehst, mit deiner unverwechselbaren Stimme. Und tauch nicht wieder ab, so wie heute Vormittag!»

Damit war sie wieder draußen.

Reuben starrte eine Weile vor sich hin.

Okay, kein Vollmond. Was mit ihm passiert war, hatte also nichts mit dem Mond zu tun und konnte jederzeit wieder passieren. Vielleicht heute Nacht. So viel zu den alten Legenden. Und warum saß er hier untätig herum, während er eigentlich alles zusammentragen sollte, was es über «die Bestie» in Erfahrung zu bringen gab?

Plötzlich musste er daran denken, wie er über die Dächer gerannt war, getrieben von der unglaublichen Kraft, die seine Beine nun hatten. Er hatte zum Himmel aufgeschaut und den Mond hinter Wolken gesehen, die wahrscheinlich von keinem menschlichen Auge durchdrungen werden konnten.

Würde es wieder geschehen, sobald es dunkel wurde?

Es war wunderschön gewesen, der Mond zwischen Millionen Sternen. Er spürte dem Gefühl nach, wie schön es war, mit ausgestreckten Armen ganze Straßenzüge in Windeseile hinter sich zu lassen und mühelos auf Dachschrägen zu landen. Der Rausch der Geschwindigkeit. Und dann der ernüchternde, beängstigende Gedanke: Wird das jetzt jede Nacht so sein?

Althea brachte ihm einen frischen Kaffee, lächelte und winkte im Hinausgehen.

Reuben starrte auf die Kollegen, die zwischen dünnen weiß gestrichenen Trennwänden hin und her gingen. Einige sahen in seine Richtung, manche nickten ihm zu, andere gingen schweigend vorbei, ganz in ihre eigenen Gedanken versunken. Dann sah er auf die Fernseher hinten an der Wand. Sie zeigten Bilder des leeren Schulbusses und der Goldenwood Academy. Eine weinende Frau. Wieder Lon Chaney junior in seiner Rolle als Werwolf, wie er durch die nebligen Wälder Englands hastet, die Wolfsohren lauschend aufgestellt.

Er drehte sich auf seinem Schreibtischstuhl, griff zum Telefon und wählte die Nummer der Gerichtsmedizin. Ja, er würde in der Leitung bleiben und warten.

Ich will das alles nicht, dachte er. Ich kann nicht. Es ist alles zu viel. Ich kriege alles durcheinander. Nein, ich kann nicht. Es tut mir leid für Miss Larson. Sie hat viel durchgemacht, und jetzt glaubt man ihr noch nicht einmal. Aber, verdammt noch mal, ich habe ihr das Leben gerettet! Ich kann hier jetzt nicht im Büro sitzen und darüber schreiben! Ich bin der Letzte, der es tun sollte! Diese Sache ist bedeutungslos. Jedenfalls für mich.

Ihm wurde kalt. Eine sehr nette Kollegin, Peggy Flynn, brachte ihm einen Teller Kekse. Er lächelte so, wie er es immer getan hatte, obwohl ihm nicht nach Lächeln zumute war. Im Grunde war ihm nicht einmal klar, wer da vor ihm stand, was er mit dieser Kollegin je zu tun gehabt hatte und ob er überhaupt in der gleichen Welt lebte wie sie.

Das war’s: Sie lebten nicht in der gleichen Welt. Reuben schloss die Augen. Er spürte die Stelle, an der ihm Reißzähne gewachsen waren. Es hatte weh getan, als sie sich wieder zurückbildeten, als bohrten sie sich in ihn hinein.

Was, wenn er den Mann in der Gasse von North Beach nicht getötet hätte? Wäre er dann auch zum Wolfsmenschen geworden? Bei dieser Vorstellung lief es Reuben kalt den Rücken herunter. Danke, lieber Gott, dass ich ihn getötet habe! Halt, stopp! Was für ein Gebet war das denn?

Er saß da wie benommen.

Der Kaffee in seinem Becher sah wie Benzin aus, die Kekse auf seinem Teller wie aus Gips.

Nie wieder würde er in sein altes Leben, sein altes Selbst zurückkehren. Er hatte keine Wahl. Er hatte nicht einmal die Kontrolle darüber, wann er sich in welcher Gestalt befand.

Die Stimme eines Mitarbeiters der Gerichtsmedizin holte ihn in die Realität zurück. «Ja, ja, es war mit Sicherheit ein Tier. Das zeigen die Lysozyme in seinem Speichel. Die Anzahl der Lysozyme im menschlichen Speichel ist wesentlich geringer. Außerdem verfügen Menschen über mehr Amylase, zur Spaltung der Kohlenhydrate in unserer Nahrung. Bei Tieren liegt der Amylasewert niedriger, dafür verfügen sie über mehr Lysozyme, um die Bakterien abzutöten, die sie andauernd aufnehmen. Deswegen kann ein Hund aus einer Mülltonne oder Aas fressen, der Mensch aber nicht. Was bei diesem Tier allerdings merkwürdig ist: Es hat mehr Lysozyme als jeder Hund, und es befinden sich noch andere Enzyme in seinem Speichel, die wir bislang nicht analysieren konnten. Die entsprechenden Tests können Monate dauern.»

Nein, keine Haare, kein Fell, nichts der Art. Es wurden Fasern gefunden, oder man dachte jedenfalls, es seien Fasern gefunden worden, aber irgendwie seien sie verschwunden.

Reubens Herz klopfte bis zum Hals, als er das Telefonat beendete. Also war er tatsächlich zu etwas mutiert, das nicht menschlich war. Lag es letzten Endes doch an den Hormonen? Es war die einzige Erklärung, die ihm einfiel.

Auf jeden Fall musste er sich von jetzt an in seinem Zimmer einschließen, bevor es dunkel wurde.

Es war schon Herbst, fast Winter, und es war einer jener grauen, feuchten Tage, an denen es über San Francisco keinen Himmel, sondern nur ein triefendes Dach zu geben schien.

Um fünf Uhr beendete er seinen Artikel.

Er hatte Celeste noch einmal angerufen, die bestätigte, was der Chronicle über die Verletzungen und die zerrissenen Kleider von Miss Larson geschrieben hatte. Auch im General Hospital hatte er angerufen, aber dort wollte man ihm keine Auskunft geben, und Grace konnte nicht ans Telefon kommen, weil sie gerade operierte.

Er hatte auch abgecheckt, was die wichtigsten Online-Nachrichtendienste über die mysteriöse Tierattacke berichtet hatten. Dabei hatte er festgestellt, dass die Geschichte tatsächlich in Windeseile um die Welt gegangen war und dass in den meisten Berichten auf die ebenso mysteriöse Attacke in Mendocino Bezug genommen wurde. Erst jetzt wurde ihm klar, dass die Nachricht von Marchents Tod ebenfalls um die ganze Welt gegangen war. «Hat die mysteriöse Bestie wieder zugeschlagen?» – «Fabelwesen rettet Leben»

Zum Schluss hatte er sich Berichte aus North Beach angesehen, die Reporter bei YouTube eingestellt hatten. Darin war die Rede von der «Hinterhof-Bestie».

Erst danach hatte er seinen Artikel geschrieben und mit Miss Larsons eigenen Worten begonnen.

«Es hatte ein Gesicht. Es hat mit mir gesprochen. Es bewegte sich wie ein Mensch. Wie ein Wolfsmensch. [Miss Larson hatte denselben Begriff verwendet wie er selbst: Wolfsmensch.] Ich habe seine Stimme gehört. Gott, ich wünschte, ich wäre nicht vor ihm weggelaufen. Es hat mir das Leben gerettet, und ich bin vor ihm weggerannt, als wäre es ein Monster.»

Reubens Artikel war sehr persönlich gehalten, wenn auch nur im Ton. Der sehr lebendigen Beschreibung Miss Larsons folgten die Aussagen der Gerichtsmedizin und die offensichtlichen Fragen, bevor er schloss:

«War es ein ‹Wolfsmensch›, der das Opfer vor seinem Angreifer gerettet hat? War es eine intelligente Bestie der Art, die erst kürzlich auch das Leben unseres Reporters in einem dunklen Hausflur in Mendocino gerettet hat?

Noch haben wir keine Antworten auf diese Fragen. Unzweifelhaft ist hingegen, was der Vergewaltiger in North Beach beabsichtigte, der mittlerweile mit anderen, bislang ungeklärten Vergewaltigungen in Verbindung gebracht wird. Genauso klar liegen die Absichten der drogensüchtigen Mörder zutage, die Marchent Nideck auf dem Gewissen haben.

Auch wenn die gerichtsmedizinischen Befunde beider Tatorte und die persönlichen Schilderungen der Überlebenden bislang keine befriedigende Erklärung liefern, wird die Zeit kommen, da sich das Rätsel lüftet. Fürs Erste müssen wir – wie so oft – mit offenen Fragen leben. Doch falls tatsächlich ein Wolfsmensch – Der Wolfsmensch – durch die Gassen von San Francisco streift – wer sollte sich vor ihm fürchten?»

Zuletzt gab er dem Ganzen den Titel:

«Der Wolfsmensch von San Francisco – ein mystisches Wesen als moralische Instanz»

Bevor er den Artikel abschickte, googelte er den Begriff «Wolfsmensch». Wie er inzwischen vermutet hatte, war er viel verbreiteter, als ihm bewusst gewesen war. Eine Nebenfigur der Spiderman-Comics hieß so, das Gleiche galt für die Manga-Serie Dragon Ball. Schon das Autorenduo Émile Erckmann und Louis-Alexandre Chatrian hatten eine solche Figur in einem Roman erfunden, der 1876 ins Englische übersetzt worden war. Folglich konnte niemand auf die Idee kommen, er habe diesen Begriff – aus welchen Gründen auch immer – erfunden. Das beruhigte ihn.

Er schickte den Artikel an Billie und verließ das Büro.