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Auf dem Mountain-View-Friedhof von Oakland schienen zwischen den Bäumen, den großen und kleinen Grabsteinen in der Ferne die Lichter von San Francisco durch den strömenden Regen.

Ein Junge schrie auf, als zwei andere ihn mit einem Messer quälten. Der dritte, der Anführer, war gerade aus dem Gefängnis entlassen worden, seine muskulösen nackten Arme waren von Tätowierungen übersät. Sein nasses T-Shirt klebte an seinem zitternden Körper. Er war mit Drogen vollgepumpt, bebte vor Wut und genoss es, Rache an dem zu nehmen, der ihn verraten hatte. Er würde den einzigen Sohn seines Feindes auf dem Altar der Gewalt opfern.

«Was willst du?», sagte er höhnisch zu dem Jungen. «Meinst du, der Wolfsmensch rettet dich?»

Reuben näherte sich dem Anführer aus einem nahen Eichenhain. Als die beiden anderen ihn sahen, schrien sie auf und ergriffen die Flucht.

Reuben schlug zu, riss ihm die Halsschlagader auf, der Mann taumelte und ging zu Boden. Das Wolfsgebiss packte seine Schulter, zerfetzte Sehnen, ein Arm riss ab. Keine Zeit, das verlockend frische Stück Fleisch zu fressen.

Reuben jagte den panisch Flüchtenden über den Friedhof nach, schnappte nach dem ersten und riss ihm den Hals auf. Dann warf er ihn achtlos fort und setzte dem anderen nach. Er packte ihn mit beiden Pfoten, hob ihn an und hielt ihn sich vors Maul. Köstlich, der pulsierende Leckerbissen, das triefende Fleisch!

Das Opfer lag auf einem blutigen Grasstreifen. Nussbraune Haut, schwarzes Haar. Zusammengerollt wie ein Baby lag er in seiner schwarzen Lederjacke da. Er blutete aus Gesicht und Bauch, war der Ohnmacht nahe. Driftete in die Bewusstlosigkeit, kam wieder zu sich, driftete wieder ab. Verzweifelt riss er die Augen auf, um bei sich zu bleiben. Er war erst zwölf. Reuben hob ihn am Jackenkragen hoch, wie eine Katze ihr Junges aufheben würde. Er begann zu rennen, schneller und schneller, bis er die beleuchteten Straßen erreichte. Über die eiserne Brücke. Dann legte er das Bündel an einer Straßenecke vor den dunklen Fenstern eines kleinen Cafés ab. Alles war ruhig. Kein Verkehr zu so später Stunde. Die Straßenlaternen beleuchteten leere Geschäfte. Mit der rechten Pfote schlug er ein Fenster ein. Die Alarmanlage schrillte. Lichter gingen an und warfen ihren Schein auf den Verwundeten, der auf dem Asphalt lag.

Reuben war längst verschwunden. Zurück auf dem Friedhof, nahm er die Witterung der Erschlagenen auf. Doch inzwischen war die Beute erkaltet. Uninteressant. Er wollte warmes Fleisch. Und es schwirrten noch mehr Stimmen durch die Nacht.

Eine junge Frau sang ein Totenlied.

Er fand sie im Wäldchen des Universitätsgeländes von Berkeley. Früher, in seinem anderen Leben als Mensch, hatte er dieses Fleckchen Erde sehr geliebt.

Unter hohen Eukalyptusbäumen hatte sie einen Schrein für ihre letzte Stunde errichtet – ihr Lieblingsbuch, eine Flasche Wein, ein besticktes Kissen auf einem Lager duftender Blütenblätter, ein kleines scharfes Küchenmesser, mit dem sie sich die Pulsadern aufgeschlitzt hatte. Das Blut floss, und das Leben wich aus ihr, während ihr Lied verstummte und sie nur noch stöhnte. «Falsch!», murmelte sie. «Falsch! Bitte hilf mir!» Sie konnte die Weinflasche nicht mehr halten, Hände und Arme nicht mehr bewegen. Das stumpfe Haar bedeckte ihr nasses Gesicht.

Er nahm sie über die Schulter und trug sie den Lichtern der Telegraph Avenue entgegen, über den dunklen Campus, vorbei an Gebäuden, in denen er studiert, debattiert und von seiner Zukunft geträumt hatte.

Die bewohnten Gebäude waren voller Stimmen, Herzklopfen, Musik, Gesprächen, dem Klagen einer Trompete, dem Lärm sich gegenseitig überlagernder Lieder. Vorsichtig setzte er die junge Frau vor der offenen Tür einer Kneipe ab, aus der Gelächter drang. Er war schon ein Stück weg, als er das Geschrei derer hörte, die die junge Frau fanden. «Ruf einen Krankenwagen!»

Die Stimmen aus Downtown riefen ihn. Großstadt. So viele Möglichkeiten. Das Leben ist ein Garten voller Schmerz. Wer soll sterben? Wer überleben? Verstört lief er weiter in südlicher Richtung. Ich habe nur getan, was mir das Natürlichste erschien … Ich habe die Stimmen gehört. Sie riefen mich. Der Geruch des Bösen hat mich geleitet; ich brauchte ihm nur zu folgen. Es war so selbstverständlich wie atmen.

Lügner, Monster, Killer, Bestie. Es ist abscheulich! Es muss aufhören!

Der Himmel hatte die Farbe von Ruß, als Reuben vom Dach eines hässlichen Hotels über die Feuerleiter abstieg, in einen schwach beleuchteten Korridor eindrang und leise eine unverschlossene Tür aufstieß.

Der Geruch von Laura.

Sie war am Fenster eingeschlafen, die Arme auf der Fensterbank verschränkt. In der Ferne hellten sich die bleiernen Wolken hinter dem Regenschleier auf. Überall Hochhäuser und Highways. Großstadtdschungel zwischen dem Fenster und dem weiten Meer. Nach und nach verlöschten die Lichter, und in den Straßen erwachte das Leben. Ein Garten voller Schmerz. Für wen all dieser Schmerz? Für wen? Lass die Stimmen schweigen, bitte! Nie wieder!

Reuben hob Laura hoch und trug sie zum Bett. Ihr weißes Haar hing herunter. Als er sie küsste, flatterten ihre Lider, und sie wachte auf. Was sah er in ihrem Blick, als sie ihn ansah? Geliebter. Einziger. Du und ich. Ihr Parfüm betörte seine Sinne. Die Stimmen verstummten, als hätte jemand einen Hebel umgelegt. Stattdessen hörte er den Regen ans Fenster trommeln. Im fahlen Licht zog er ihr behutsam die eng anliegenden Jeans aus. Das sonst unsichtbare Haar. Haar wie das, was mich bedeckt. Vorsichtig zog er ihr die Bluse aus. Er drückte ihr die Zunge an den Hals, an die Brüste. Tief in seiner Brust das Grollen einer Bestie. Haben und nicht haben. Muttermilch.