9
Er hatte keine Angst gehabt, als er zum ersten Mal hierhergekommen war, und auch jetzt hatte er keine. Er fühlte sich stark und selbstsicher, und zwar in einem Maße, wie er es vor der Transformation nicht gekannt hatte.
Trotzdem war ihm nicht ganz wohl dabei, völlig allein zu sein. Alleinsein war nie seine Stärke gewesen.
Er war im lebhaften San Francisco aufgewachsen, in einem schmalen, hohen Haus in Russian Hill, wo sich Grace und Phil in den kleinen, aber stilvollen Zimmern permanent kabbelten und ständig alle möglichen Leute kamen und gingen, vor allem Grace’ Freunde und Kollegen. Sein Leben lang hatte er jede Menge Menschen um sich gehabt. Wenige Schritte von ihrem Haus entfernt wimmelte es von Fußgängern und dem Verkehr von North Beach und der Fisherman’s Wharf. Sein Lieblingsrestaurant am geschäftigen Union Square lag nur Minuten entfernt. Seine Ferien hatte er mit der ganzen Familie auf Kreuzfahrtschiffen verbracht oder war mit anderen Studenten zu den Burgruinen Vorderasiens gereist.
Jetzt hatte er die Stille und Abgeschiedenheit, nach der er sich gesehnt und die er hier an jenem Nachmittag mit Marchent so genossen hatte. Doch plötzlich fühlte er sich einsamer als je zuvor, und ihm war, als läge eine große Distanz zwischen ihm und dem Rest der Welt. Sogar die Erinnerung an Marchent schien weit weg zu sein.
Sollte es da draußen jedoch etwas geben, das mehr von ihm wusste als sonst jemand, so konnte er momentan nichts davon spüren oder hören. Was er hörte, waren ganz gewöhnliche Geräusche, die nichts Bedrohliches hatten.
Er wagte nicht zu hoffen, dass die Kreatur wiederkehrte, solange er hier so einsam war.
Er sagte sich, dass es Zeit war, an die Arbeit zu gehen, den Ort zu erkunden und so viel wie möglich darüber in Erfahrung zu bringen.
In der großen, verwinkelten Küche war alles blitzblank geputzt. Sogar die kleinen Fußmatten waren neu und passten nicht zu dem weißen Marmorboden. Kupfertöpfe und -pfannen hingen von eisernen Haken über dem Herdblock in der Mitte des Raums, in dessen Holzoberfläche kleine Spülbecken eingelassen waren. Arbeitsplatten aus schwarzem Granit säumten die Wände. Hinter den Glastüren der weiß lackierten Schränke befanden sich Unmengen von Porzellan mit verschiedenen Dekors und Gebrauchsgegenstände wie Wasserkrüge und Schüsseln.
Zwischen Küche und Esszimmer befand sich ein langer, schmaler Raum, der in früheren Zeiten wohl das Reich des Butlers gewesen sein musste. Jetzt waren dort weitere Schränke, hinter deren Glastüren sich noch mehr Porzellan, Geschirrtücher, Tischdecken und so weiter befanden.
Langsam drehte er sich zu Marchents Arbeitszimmer um, bewegte sich auf den kleinen, dunklen Raum zu und starrte auf den leeren Schreibtisch. Das Zimmer war einmal das westliche Ende der Küche gewesen und hatte den gleichen weißen Marmorboden. Alles, was er in jener schrecklichen Nacht dort gesehen hatte, war offenbar weggeräumt und in weißen Kisten verstaut worden, die von den Ermittlern mit Ziffern und Abkürzungen in schwarzem Filzstift versehen worden waren. Der Boden war gefegt und gewischt worden, und doch hing noch ein feiner Duft in der Luft, der an Marchents Parfüm erinnerte.
Ein Schauder durchfuhr Reuben, eine Mischung aus Liebe und unsagbarem Schmerz. Er stand ganz still da und wartete darauf, dass das Gefühl verblasste.
Alles war so sauber, dass es steril wirkte. Marchents Computer stand an seinem Platz, aber Reuben hatte keine Ahnung, was er enthielt. Auch Drucker und Faxgerät waren einsatzbereit. Es gab sogar einen Kopierer. An der Wand hing ein Foto in einem Glasrahmen, das Reuben damals nicht bemerkt hatte – ein Porträt Felix Nidecks.
Es war eins von der Sorte, die den Betrachter anzusehen schienen, weil es ohne jeden Winkel frontal aufgenommen war. Auch hier musste es sich um die Aufnahme einer Planfilmkamera handeln, denn selbst die kleinsten Details waren gestochen scharf.
Felix hatte dunkles, welliges Haar. Sein Lächeln wirkte spontan und herzlich, und in seinem ausdrucksvollen Blick lag Wärme. Sein Jackett war aus verblichenem Baumwolldrillich, schien aber eigens für ihn angefertigt worden zu sein. Der oberste Knopf seines weißen Hemds stand offen. Er sah aus, als wollte er im nächsten Moment etwas sagen.
In der unteren Bildecke stand mit schwarzer Tinte: «Liebste Marchent, vergiss mich nicht! In Liebe, Dein Onkel Felix, ’85.»
Reuben ging aus dem Zimmer und schloss die Tür. Er hatte nicht erwartet, dass es so schmerzhaft sein würde.
«Kap Nideck», flüsterte er, wie um sich selbst Mut zu machen. «Ich bin für alles bereit, was du mir zu geben hast.»
Die Stelle im Hausflur, unweit der Küchentür, wo er beinahe ums Leben gekommen wäre, würdigte er keines Blickes.
Eins nach dem anderen, dachte er.
Er blieb stehen und horchte, aber die Nacht war vollkommen still. Nach einer Weile hörte er das Meer in der Ferne an die Klippen schlagen. Die Wellen machten ein Getöse, als würden Kanonen abgefeuert. Trotzdem musste er sich anstrengen, um irgendetwas wahrzunehmen, das außerhalb des stillen, hell beleuchteten Hauses lag.
Er füllte sich etwas von dem Eintopf auf einen Teller, fand eine Besteckschublade und nahm sich eine Gabel. Dann ging er in den Frühstücksraum des Ostflügels und setzte sich an den Tisch am Fenster.
In der Ecke stand ein schwarzer Eisenofen, der zurzeit allerdings nicht beheizt war. An der hinteren Wand stand eine große bemalte Eichentruhe.
Rechts von der Truhe hing eine kunstvoll geschnitzte Kuckucksuhr, eine echte aus dem Schwarzwald. Reuben war sich sicher, dass sie Phil gefallen würde. Eine Zeitlang hatte er Kuckucksuhren gesammelt, und das andauernde Schlagen und Kuckuckrufen hatte alle anderen im Haus verrückt gemacht.
Der Schwarzwald. Reuben musste an die Geschichte vom Wolfsmenschen denken. Was war dieser Sperver für ein Mensch? Und was hatte er mit den Nidecks zu tun? Der Schwarzwald … Reuben beschloss, sich noch einmal das Bild in der Bibliothek anzusehen. Andererseits gab es da oben so viele Bilder, die er sich ansehen wollte.
Eins nach dem anderen.
Die östliche Hauswand bestand fast nur aus Fenstern.
Schon immer hatte er sich unwohl gefühlt, wenn er nachts vor nackten Fenstern saß, vor allem, wenn man in der Dunkelheit nichts erkennen konnte. Jetzt aber hatte er sich ganz bewusst hierher gesetzt. Falls es da draußen jemanden oder etwas gab, sollte er oder es ihn so klar und deutlich wie auf einer gut ausgeleuchteten Bühne sehen.
Wenn du da draußen bist, du mutierter Nachkomme der großen Nidecks, dann gib dich, verdammt noch eins, zu erkennen!
Er zweifelte nicht daran, dass er sich im Laufe der Nacht wieder verwandeln würde, genau wie die letzten beiden Nächte zuvor. Er wusste nur nicht, wann und warum. Er wünschte sich, dass es eher geschah als in den letzten Nächten. Er fragte sich, ob sich die Kreatur, die ihn von da draußen womöglich beobachtete, erst zu erkennen geben würde, wenn er sich verwandelt hatte.
Er probierte das Rindfleisch, die Karotten, die Kartoffeln und alles, was er mit der Gabel aufspießen konnte. Es war überraschend schmackhaft. Zum ersten Mal hatte er plötzlich wieder Appetit. Er hob den Teller an, um die Flüssigkeit zu trinken. Wirklich nett von Galtons Frau, ihm Essen zu besorgen.
Als er fertig war, legte er die Gabel zur Seite und nahm den Kopf zwischen die Hände, die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt. «Vergib mir, Marchent», flüsterte er. «Beinahe hätte ich vergessen, dass du hier gestorben bist.»
Er saß ganz still da, als Celeste anrief.
«Hast du keine Angst, so ganz allein da oben?»
«Angst, wovor?», fragte er zurück. «Die Männer, die mich angegriffen haben, sind tot.»
«Ich weiß nicht. Irgendwie ist mir nicht wohl bei dem Gedanken, dass du in dem Haus bist, nach allem, was passiert ist. Und dann ist heute ein kleines Mädchen tot aufgefunden worden.»
«Davon habe ich unterwegs gehört.»
«Die Journalisten vor Ort werden wohl das Büro des Sheriffs belagern.»
«Darauf kannst du Gift nehmen. Aber ich werde da jetzt nicht hinfahren.»
«Dann lässt du dir die fetteste Geschichte deiner Karriere durch die Lappen gehen, Reuben.»
«Meine Karriere ist gerade mal ein halbes Jahr alt, Celeste. Ich habe noch jede Menge Zeit.»
«Ach, Reuben! Du hast immer noch nicht gelernt, Prioritäten zu setzen», sagte Celeste erstaunlich gelassen. Wahrscheinlich stimmte die große Entfernung sie milde. «Keiner, der dich kennt, hätte je erwartet, dass du so interessante Artikel schreiben würdest, aber jetzt solltest du genau das tun. Als du den Job damals annahmst, fragte ich mich, wie lange das wohl gutgehen würde. Aber jetzt bist du derjenige, der dem Wolfsmenschen einen Namen gegeben hat, und alle anderen, die über ihn sprechen oder berichten, beziehen sich auf deine Beschreibung …»
«Die Beschreibung der Zeugin, Celeste!» Reuben fragte sich, warum er überhaupt etwas sagte.
«Hör mal, ich bin hier bei Mort. Er will dir hallo sagen.»
Ach, wie nett!
«Wie geht’s, altes Haus?», fragte Mort.
«Danke, gut», sagte Reuben.
Auch Mort sprach über Reubens Wolfsmenschen-Artikel und sagte: «Gut gemacht! Schreibst du jetzt was über das Haus, in dem du bist?»
«Ich möchte nicht noch mehr Aufmerksamkeit darauf lenken», sagte Reuben. «Es hat doch keinen Sinn, die Leute ständig daran zu erinnern.»
«Verstehe. Wahrscheinlich ist es sowieso eine dieser Geschichten, denen der Sprit ausgeht, bevor sie richtig Fahrt aufgenommen haben.»
«Meinst du?»
Mort wechselte das Thema und sagte, dass er mit Celeste ins Kino gehen wolle, in Berkeley, und wie schön es wäre, wenn Reuben mitkäme.
Hmmm.
Reuben sagte, in ein paar Tagen könne er es vielleicht einrichten. Dann beendeten sie das Gespräch.
So war das also. Celeste war mit Mort zusammen und amüsierte sich so gut, dass sie ein schlechtes Gewissen hatte. Deswegen hatte sie angerufen. Aber warum ging sie mit Mort ins Kino, wenn die ganze Stadt die Kidnapper oder den Wolfsmenschen suchte?
Und seit wann trieb sich Celeste überhaupt in den Künstlerkreisen von Berkeley herum? Vielleicht war sie ja gerade dabei, sich in Mort zu verlieben. Reuben konnte es ihr nicht einmal übelnehmen. Die Wahrheit war: Es war ihm vollkommen gleichgültig.
Nachdem er Teller und Gabel in eine der drei Spülmaschinen geräumt hatte, die er unter der Arbeitsplatte entdeckte, machte er sich daran, das Haus systematisch zu erkunden.
Er begann im Erdgeschoss und schaute in die Einbauschränke, Abstell- und Speisekammern, die überall zu finden waren. Alles war so, wie er es in Erinnerung hatte. Nur der vernachlässigte Wintergarten war ausgeräumt worden. Die abgestorbenen Pflanzen waren beseitigt und der schwarze Granitfußboden gewischt worden. Sogar den alten griechischen Springbrunnen hatte jemand abgeschrubbt und einen Zettel mit Tesafilm darangeklebt: «Pumpe reparieren!»
Unter der Treppe, die nach oben führte, fand er den Eingang zur Kellertreppe. Der Keller selbst war klein, nicht viel mehr als eine Betonkammer von sechs mal sechs Metern. An den Wänden standen nachgedunkelte Holzschränke, die bis zur Decke reichten und nichts als stockfleckige, löchrige Bettwäsche, Tischdecken und Handtücher zu enthalten schienen. An einer Wand befand sich ein staubiger, seit langem unbenutzter Ofen. Ganz offensichtlich war es einer von mehreren, die aber schon vor längerer Zeit stillgelegt worden waren. Auch die Rohre hatte man entfernt, und wo sie in die Decke führten, hatte man die Löcher abgedichtet. In einer Ecke standen ein kaputter Stuhl von der Art, wie sie oben im Esszimmer standen, eine alte Trockenhaube und ein leerer Überseekoffer.
Reuben wusste, dass er sich nicht noch länger davor drücken sollte, die Bibliothek und das Foto mit den vornehmen Gentlemen im Dschungel in Augenschein zu nehmen. Also ging er wieder nach oben.
Er betrat die Bibliothek wie ein Heiligtum.
Als er den Kronleuchter angeschaltet hatte, beugte er sich vor und las die Namen unter dem Foto.
Margon Sperver, Baron Thibault, Reynolds Wagner, Felix Nideck, Sergej Gorlagon und Frank Vandover.
Er tippte die Namen in sein iPhone und schickte sie als E-Mail an sich selbst.
Diese ausdrucksvollen, fröhlichen Gesichter! Wie Marchent gesagt hatte, war Sergej ein wahrer Hüne. Mit seinem hellblonden Haar, den buschigen blonden Augenbrauen und dem kantigen Gesicht sah er durch und durch nordisch aus. Die anderen waren nicht viel kleiner als er, unterschieden sich sonst aber deutlich von ihm. Felix und Margon waren so dunkelhäutig, als flösse in ihren Adern asiatisches oder südamerikanisches Blut.
Warum waren alle so ausgesprochen fröhlich? Hatte jemand einen Witz gemacht? Oder sprach ganz einfach die spontane Freude über ein großes gemeinsames Abenteuer aus ihren Gesichtern?
Sperver und Nideck. Vielleicht waren die Namen nur Zufall, nicht mehr. Die anderen Namen sagten Reuben nichts.
Aber er würde sie jetzt immer um sich haben. Wenn er wollte, könnte er sich den ganzen Abend damit beschäftigen, genau wie morgen, übermorgen und am Tag danach.
Er ging ins Obergeschoss.
Auch hier erwartete ihn etwas Aufregendes. Er öffnete die Türen, die an seinem ersten Abend verschlossen waren.
«Alles bloß Abstellkammern», hatte Galton beiläufig gesagt.
Der Anblick der vollgestopften Regale machte Reuben nahezu euphorisch. Zahllose Jade-, Quarz- und Alabasterfiguren, Bücher aller Art und Gegenstände, die er auf den ersten Blick nicht identifizieren konnte.
Dann ging er im vorderen Teil des Hauses die schlichte Holztreppe zum Dachboden hinauf. Kaum hatte er einen Lichtschalter ertastet, fand er sich in einem erstaunlich großen Raum mit der Dachschräge des südwestlichen Giebels wieder. Mehrere Holztische waren mit Büchern, Papieren, noch mehr Statuetten, allerlei Kuriositäten, Schachteln voller dicht beschriebener Karteikarten, unbenutzten Notizbüchern, Kontenlisten und Briefen übersät.
Reuben befand sich genau über Felix’ Schlafzimmer, in dem Raum, zu dem Felix den direkten Zugang hatte entfernen lassen. Auf dem Fußboden war deutlich die Stelle zu erkennen, wo einst die Eisentreppe endete.
In der Mitte des Raums standen bequeme Sessel unter einem alten gusseisernen Kronleuchter.
Auf der Armlehne eines Sessels lag ein verstaubtes Taschenbuch. Reuben hob es auf.
PIERRE TEILHARD DE CHARDIN
Woran ich glaube
Das war merkwürdig. Sollte Felix tatsächlich Teilhard de Chardin gelesen haben, einen der scharfsinnigsten katholischen Theologen?
Reuben hatte kein besonderes Interesse an abstrakter Philosophie oder Theologie, genauso wenig wie an Naturwissenschaften, aber er schätzte die Poesie, die in Teilhards Schriften steckte. So ging es auch seinem Bruder Jim. Reuben fand es ermutigend, dass Teilhard nicht nur an Gott, sondern auch an die Welt glaubte, wie er es gern ausdrückte.
Er schlug das Buch auf, eine Ausgabe von 1969. Das Papier war schon ganz spröde.
Ich glaube, das Universum ist ein einziger Evolutionsprozess.
Ich glaube, diese Evolution zielt auf Spiritualität.
Ich glaube, Spiritualität manifestiert sich in Persönlichkeiten.
Ich glaube, die vollendete Persönlichkeit ist ein universeller Christus.
Bingo, dachte Reuben verbittert, voll ins Schwarze getroffen, Teilhard. Plötzlich überkam ihn eine tiefe Traurigkeit, die in Wut und dann Verzweiflung überging. Normalerweise neigte er nicht zum Verzweifeln, aber in Momenten wie diesem hatte er gelegentlich solche Anflüge. Er wollte das Buch schon wieder beiseitelegen, als sein Blick auf eine handschriftliche Widmung fiel:
Liebster Felix,
das ist für Dich!
Nachdem wir das überlebt haben,
kann uns nichts mehr passieren.
Ein Grund zur Freude,
Margon
Rom ’04
Auch das gehörte jetzt Reuben.
Er steckte das Buch in seine Manteltasche.
Im hinteren Teil des Raums lag die ausgebaute Eisentreppe im Staub. Daneben standen Kisten und Schachteln, deren Inhalt er jetzt nicht erforschen wollte.
Eine Stunde lang wanderte er weiter durchs Haus und fand im Dachgeschoss zwei weitere ähnliche Zimmer. Ein drittes war vollkommen leergeräumt. Alle waren über Treppen zu erreichen, die hinter Wandverkleidungen der Diele lagen.
Zuletzt ging er in Felix’ ehemaliges Zimmer, in dem er heute Nacht schlafen wollte. Als ihm bewusst wurde, dass er von den Fernsehnachrichten abgeschnitten war, die sein ständiger Begleiter waren, wurde er beinahe panisch. Immerhin hatte er seinen Computer. Vielleicht war es sogar besser so.
Während eines Stromausfalls in Berkeley hatte er Finnegans Wake bei Kerzenlicht zu Ende gelesen. Manchmal musste man zu seinem Glück gezwungen werden.
Er nahm Felix’ Regale in Augenschein. Was sich in diesem Zimmer befand, mussten die Dinge sein, die ihm am meisten bedeutet hatten. Doch wo sollte er anfangen? Was sollte er sich als Erstes ansehen?
Fehlte da nicht etwas?
Nein, dachte er. Ich muss mich wohl irren. Meine Erinnerung täuscht mich. Er musterte die Regale im Schnelldurchlauf, und ihm wurde klar, dass er sich keineswegs geirrt hatte.
Die Tafeln, die kleinen mesopotamischen Tontafeln, die unbezahlbaren Tafeln mit babylonischer Keilschrift waren verschwunden. Und zwar alle.
Er ging in die Diele hinunter, um in den Abstellkammern danach zu suchen. Aber dort waren sie auch nicht.
Danach stieg er noch einmal auf den Dachboden und suchte in allen Räumen. Überall das Gleiche. Jede Menge Schätze, aber keine Tontafeln.
Erst jetzt fiel ihm auf, dass der Staub – oder besser: die Abwesenheit von Staub – verriet, wo bis vor kurzem etwas gestanden hatte.
Überall fand er solche Stellen, wo die kleinen Tontafeln gelegen hatten. Jemand musste sie sorgsam eingesammelt und entfernt haben.
Er kehrte in das Zimmer zurück, das ihm am vertrautesten war, und sah dort noch einmal nach, aber die Tontafeln waren und blieben verschwunden. Neben den staubfreien Stellen waren hier und da Fingerabdrücke zu sehen.
Panik überfiel ihn.
Jemand war in das Haus eingedrungen und hatte das Wertvollste aus Felix’ Sammlung gestohlen! Seine bedeutendsten Fundstücke aus Vorderasien! Jemand hatte den Schatz geplündert, den Marchent so sorgsam gehütet hatte und nur in würdige Hände übergeben wollte! Jemand hatte …
Aber das war doch lächerlich!
Wer hätte so etwas tun sollen? Wer hätte die Tontafeln stehlen und alles andere unangetastet lassen sollen? Die Edelsteinfiguren mussten ein Vermögen wert sein, genau wie die antiken Schriftrollen, die von unschätzbarem Wert für Wissenschaftler und Museen sein mussten. Wer hätte die Schachteln voller antiker Münzen stehen gelassen? Den mittelalterlichen Codex, den er soeben entdeckte, obwohl er ganz offen dalag? Davon gab es oben noch mehr. Ganz abgesehen von all den Büchern, die für Bibliotheken ein Vermögen wert waren.
Das alles ergab doch keinen Sinn! Wer wusste überhaupt, worum es sich bei den Tontafeln handelte? Einige sahen wie Dreck aus, wie abgebrochene Ziegelstücke oder vertrocknete Kekse.
Wer besaß das Wissen und die Geduld, die wertvollen Tafeln und Scherben sorgsam unter all den anderen Wertsachen herauszusuchen, ohne alles andere in Unordnung zu bringen, um dann ungesehen zu verschwinden?
Eine absurde Vorstellung! Trotzdem waren die Tontafeln verschwunden. Nicht die kleinste Scherbe war irgendwo zu entdecken.
Da Reuben sich nicht sicher sein konnte, ob nicht noch andere Dinge fehlten, nahm er die Regale näher in Augenschein. Da gab es Bücher aus dem siebzehnten Jahrhundert, mit dünnen Seiten, deren Bindung sich schon auflöste, obwohl sie sich noch umblättern und vor allem entziffern ließen. Die edlen Statuetten waren ganz bestimmt echt und alt. Wie so viele Stücke mussten sie ein Vermögen wert sein. In einem Regal fand er eine exquisite Halskette aus weichem, anschmiegsamem Gold, deren Glieder aus gravierten Blättern bestanden. Sie musste sehr alt sein. Er legte sie wieder genauso hin, wie er sie vorgefunden hatte.
Dann ging er in die Bibliothek hinunter und rief Simon Oliver an.
«Ich brauche ein paar Informationen», sagte er. «Wissen Sie, ob die Polizei bei der Mordermittlung wirklich alles im Haus fotografiert hat? Ich meine, sind auch die Zimmer fotografiert worden, die nicht direkt betroffen waren? Und können Sie mir die Polizeifotos besorgen?»
Simon sagte, er glaube nicht, dass das so einfach sein würde, aber die Anwälte der Nidecks hätten nach Marchents Tod das ganze Haus fotografiert.
«Marchent hatte auch jede Menge Fotos», sagte Reuben. «Können Sie mir die besorgen?»
«Keine Ahnung. Ich sehe mal, was ich tun kann. Aber die Nideck-Anwälte werden Ihnen bestimmt eine Inventarliste zur Verfügung stellen.»
«Je eher, desto besser», sagte Reuben. «Schicken Sie mir bitte alle Fotos, die Sie auftreiben können, per E-Mail.»
Als Nächstes rief er Galton an.
Der versicherte ihm, niemand außer ihm und seiner Familie habe das Haus betreten. Seine Frau und er seien in den letzten Tagen ständig ein und aus gegangen, und ja, sein Cousin und Stiefsohn sowie Nina, das Mädchen aus dem Dorf, das Felice zur Hand ging, seien dort gewesen. Nina gehe gern in den Wäldern spazieren und würde bestimmt nichts anrühren, was sie nicht anrühren sollte.
«Und dann ist da ja auch noch die Alarmanlage», sagte Galton. «Ich habe sie eingeschaltet, nachdem die Polizei weg war.» Die Anlage habe noch nie versagt. Hätte Miss Nideck sie in jener Nacht eingeschaltet, wäre sie ganz gewiss in der Sekunde losgegangen, als die Fenster eingeschlagen wurden.
«Niemand kann in dem Haus gewesen sein», sagte er nachdrücklich. Außerdem wohne er ja nur zehn Minuten die Straße runter. Er hätte es gehört, wenn ein Auto die Straße hinaufgefahren wäre. Ja, es seien ein paar Reporter und Fotografen im Haus gewesen, aber nur in den ersten Tagen, und da sei er, Galton, oder die Polizei immer dabei gewesen, um sie im Auge zu behalten. Wenn er nicht da war, hätte niemand ins Haus gelangen können, ohne den Alarm auszulösen.
«Glauben Sie mir, Reuben», sagte er. «In dieses Haus kann man nicht so leicht einbrechen. Auch dass es so abgelegen ist, macht es nicht angreifbarer. Die Wenigsten haben Lust, so weit heraufzufahren. Abgesehen von ein paar Naturliebhabern, Wanderern und so verirrt sich kein Mensch hierher.»
Das stimmte natürlich.
«Wenn Sie sich da oben unwohl fühlen, komme ich gern und schlafe hinten im Haus.»
«Nicht nötig, Galton, aber danke.»
Nach den Telefonaten saß er lange am Schreibtisch und starrte auf das große Foto von Felix und seinen Freunden über dem Kamin.
Die Vorhänge waren offen, sodass die schwarz glänzenden Fenster wie Spiegel wirkten. Im Kamin waren Reisig und Holzscheite schon aufgeschichtet, aber er hatte keine Lust, Feuer zu machen.
Warm war ihm nicht gerade, aber kalt auch nicht. Er saß einfach nur da und dachte nach.
Vor allem über eine Möglichkeit: Einer von Felix’ Freunden aus alten Zeiten konnte erfahren haben, dass Marchent in diesem Haus ermordet worden war, und vielleicht hatte er sich zu diesem Zeitpunkt gerade am anderen der Welt befunden, wo er, wäre zwischenzeitlich nicht das Internet erfunden worden, nichts davon mitbekommen hätte. Daraufhin hatte dieser Mann sich vielleicht die Mühe gemacht, die ganze Geschichte zu recherchieren. Danach war er hergekommen und hatte heimlich und in aller Stille die unbezahlbaren Tontafeln an sich genommen.
Dass sich die Nachricht von Marchents Ermordung wie ein Lauffeuer verbreitet hatte, war Reuben am Vorabend klargeworden, als er ein wenig recherchiert hatte.
Angenommen, seine Überlegungen trafen zu, konnte es Verschiedenes bedeuten. Vielleicht waren Felix’ kostbare Tontafeln jetzt in guten Händen. Vielleicht hatte ein besorgter Archäologenkollege die Artefakte an sich genommen, um sie zu retten, und sobald er erfuhr, dass Reuben Felix’ Erbe bewahren wollte, würde er sie zurückgeben, oder sie kämen überein, dass er sie besser verwahren konnte als Reuben.
Ein beruhigender Gedanke.
Und er barg eine weitere Möglichkeit: Vielleicht wusste dieser Mann etwas über Felix’ Schicksal. Und selbst wenn nicht, wäre er zumindest eine direkte Verbindung zu Felix, denn es musste jemand sein, der Felix gut gekannt hatte.
Natürlich war das die optimistischste und tröstlichste Lösung des Rätsels. Hätte Reuben Celestes mahnende Stimme im Ohr gehabt, hätte er sie sicher sagen hören: Träum weiter!
Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er diese Stimme nicht mehr ständig im Ohr hatte. Sie ruft auch nicht mehr ständig an oder schreibt SMS, dachte er. Stattdessen geht sie mit Mort Keller ins Kino. Auch von meiner Mutter höre ich nichts. Warum auch? Beide hatten keine Ahnung, worum es hier ging. Auch Phil hatte nicht zugehört, als Reuben ihm von den Tontafeln erzählt hatte, sondern weiter in dem Buch gelesen, das ihn gerade beschäftigte. Und Mort habe ich erst gar nichts davon erzählt, dachte Reuben. Dazu war ich von den Schmerztabletten und Antibiotika viel zu benebelt, als Mort mich im Krankenhaus besuchen kam.
Reuben ging nach oben, packte seinen Laptop aus und brachte ihn nach unten in die Bibliothek.
Links auf dem Schreibtisch lag die Unterlage für eine alte Schreibmaschine. Darauf stellte er den Laptop, stellte die WLAN-Verbindung her und ging online.
Tatsächlich: Bevor der Wolfsmensch in San Francisco zugeschlagen hatte, war der Mord an Marchent um die Welt gegangen, sodass man in Japan genauso gut darüber informiert sein konnte wie in Russland. Reuben konnte gut genug Französisch, Spanisch, Italienisch und so weiter, um zu begreifen, dass die mysteriöse Kreatur, die Marchents Mörder gerächt hatte, überall Schlagzeilen gemacht hatte. Das Haus wurde ausführlich beschrieben, genau wie der Wald dahinter. Gemeinsam war allen Berichten der Nervenkitzel, den die rätselhafte Bestie auslöste.
Ein Freund von Felix, der all das irgendwo auf der Welt las, würde den Ort des Geschehens anhand der Schilderungen und des Namens Nideck ohne weiteres als genau den identifizieren, an dem er, Reuben, sich in diesem Moment befand. Vielleicht würde sich ja tatsächlich jemand melden, der Felix gekannt hatte – mit oder ohne Tontafeln.
Als Nächstes sah er nach, was es Neues über die Goldenwood-Entführung gab. Im Grunde nichts. Außer dass die Eltern die Geduld mit Sheriff und FBI verloren hatten und sie für den Tod des kleinen Mädchens verantwortlich machten. Susan Kirkland. So hieß das Mädchen. Acht Jahre alt. Ihr Gesicht lächelte Reuben in allen Farben entgegen – ein süßes Kind mit blondem Haar und pinkfarbenen Plastikhaarspangen.
Reuben sah auf die Uhr. Schon acht.
Sein Herz begann zu klopfen, aber das war auch alles. Er schloss die Augen und hörte nur die allgegenwärtigen Geräusche des Waldes und des strömenden Regens. Da draußen waren Tiere zu hören, die in der Dunkelheit umherstreiften. Sogar Vögel, noch so spät am Abend. Je mehr er auf diese Geräusche horchte, desto mehr schien er mit ihnen zu verschmelzen. Er musste sich gewaltsam wach rütteln.
Irritiert stand er auf und zog die Samtvorhänge zu. Es wirbelte ein wenig Staub auf, der sich aber bald wieder setzte. Dann schaltete er die Lampen neben der Ledercouch und dem Ledersessel an und machte Feuer im Kamin, denn warum, zum Teufel, sollte er darauf verzichten?
Anschließend ging er in die große Diele und entfachte auch da ein Feuer, ein etwas kleineres, und sicherte es mit einem Metallschild, das bei seinem ersten Besuch noch nicht da gewesen war.
Dann ging er in die Küche. Der Kaffee war längst kalt geworden, aber man musste kein Genie sein, um sich einen neuen zu kochen.
Kurz darauf trank er den frischen Kaffee aus einer von Marchents Porzellantassen und wanderte unruhig auf und ab. Das knisternde Kaminfeuer hatte eine beruhigende Wirkung, genau wie das Gurgeln in der Regenrinne und die prasselnden Geräusche vom Dach und den Fenstern.
Er stellte die Kaffeetasse auf den Schreibtisch, setzte sich an den Laptop und begann seine Gedanken in einer passwortgeschützten Datei niederzuschreiben, die außer ihm aber ohnehin kein Mensch verstehen konnte.
Nach einer Weile stand er auf, ging zur Hintertür und starrte in die Dunkelheit. Die hellsten Lampen der Außenbeleuchtung hatte er ausgeschaltet, sodass er die Bäume in ihrer ganzen Pracht sehen konnte, dazu das von Efeu und Wein überwucherte Schieferdach des Dienstbotenflügels.
Er schloss die Augen und versuchte, seine Verwandlung willentlich herbeizuführen. Er stellte sich alles genau vor und rief sich die erregenden Gefühle in Erinnerung, die der Vorgang in ihm auslöste. Er versuchte, an nichts anderes zu denken.
Aber er konnte es nicht erzwingen.
Stattdessen machte sich wieder ein Gefühl von Einsamkeit und Verlassenheit in ihm breit, und ihm wurde bewusst, in welcher Abgeschiedenheit er sich befand.
«Worauf hoffst du? Wovon träumst du?», murmelte er.
Dass alles miteinander zusammenhing – die Kreatur, die ihn verändert hatte, der Name Nideck, selbst das Verschwinden der Tontafeln. Die Tontafeln mussten ein Geheimnis bergen, das mit den anderen Geheimnissen dieses Hauses zusammenhing.
Unsinn! Was hatte Phil über das Böse gesagt? «Alles Humbug! Es sind Menschen, die Dörfer überfallen und deren Einwohner töten. Es sind Menschen, die in unbändiger Wut Kinder töten. Das Böse an sich gibt es nicht. Es sind Fehler, Ausrutscher, Momente der Unbesonnenheit. Alles Schlechte, was passiert, ist lediglich das Resultat eines Fehlers.»
Vielleicht hatte auch er Fehler gemacht, und er konnte sich glücklich schätzen, dass die Menschen, die er so unbesonnen getötet hatte, in den Augen der Öffentlichkeit «Schuldige» waren.
Was aber, wenn der Biss einer bösartigen Bestie ihn verändert hatte? Aber das konnte er sich nicht vorstellen. Wie viele Menschen waren schon von wilden Tieren gebissen worden? Millionen! Und keiner von ihnen war dadurch selbst zur Bestie geworden.
Um neun erwachte er in dem großen Lederstuhl hinterm Schreibtisch aus einem leichten Schlummer. Schultern und Nacken waren ganz steif, und er hatte Kopfschmerzen.
Grace hatte ihm gemailt. Sie hätte noch einmal «mit diesem Spezialisten in Paris» gesprochen, Reuben solle sie dringend anrufen.
Ein Spezialist in Paris? Wer sollte das sein? Statt anzurufen, mailte er zurück: «Ich brauche keinen Spezialisten, Mom! Mir geht’s gut. Alles Liebe, R.»
Ich sitze hier in meinem neuen Haus und kann es gar nicht erwarten, mich in einen Werwolf zu verwandeln. Alles Liebe, Dein Sohn.
Er war ruhelos und hungrig, aber nicht in Bezug auf Nahrung. Es war ein viel tiefer sitzender Hunger. Er sah sich in dem großen, dunklen Raum mit den vollgestopften Bücherregalen um. Das Feuer war ausgegangen. Er war nervös und hatte das Gefühl, sich bewegen und nach draußen gehen zu müssen, irgendwohin. Irgendwo musste er doch gebraucht werden!
Er hörte das Murmeln des Waldes, das Geräusch der Regentropfen auf dem dichten Blätterdach. Ein größeres Tier war nicht zu hören. Falls es da draußen eine Berglöwin gab, schlief sie jetzt bei ihren Jungen.
Dieses unerträgliche Warten!
Er schrieb eine E-Mail an Galton, in der er Dinge auflistete, die noch im Haus benötigt wurden, obwohl es bereits gut ausgestattet war. Vor allem wollte er viele neue Pflanzen für den Wintergarten haben, Orangenbäumchen, Farne und Bougainvilleen. Was noch? Da war doch noch etwas! Reuben wurde immer unruhiger.
Er ging wieder online und bestellte einen Laserdrucker und einen Mac für die Bibliothek. Beides sollte so schnell wie möglich geliefert werden. Dann bestellte er einige CD-Player von Bose und jede Menge Blu-rays. CDs waren das einzige altmodische technologische Spielzeug, das er liebte.
Er packte die beiden Bose-Player aus, die er mitgebracht hatte. Beide waren zugleich Radios. Einen stellte er in die Küche, den anderen auf den Schreibtisch der Bibliothek.
Stimmen konnte er nicht hören. Abgesehen vom Regen war die Nacht ganz still.
Und er verwandelte sich nicht.
Wieder streifte er durchs Haus, dachte nach und führte Selbstgespräche. Aus irgendeinem Grund musste er in Bewegung bleiben. Er legte Zettel an die Stellen, wo die Fernseher aufgestellt werden sollten. Dann setzte er sich, stand wieder auf, wanderte umher, ging nach oben, bis auf den Dachboden, und kam wieder herunter.
Dann ging er durch die Hintertür nach draußen in den Regen. Unter dem Dachvorsprung blinzelte er in die Schlafzimmer des Dienstbotenflügels. Alle hatten ein Fenster und eine Tür, die auf den gepflasterten Weg hinausgingen. Die Zimmer schienen in gutem Zustand zu sein, waren einfach und rustikal möbliert.
Am Ende des Dienstbotenflügels befand sich ein Schuppen, in dem Brennholz lagerte. Eine Werkbank nahm eine ganze Seite des Schuppens ein. Äxte und Sägen hingen darüber, und überall waren Werkzeuge für größere und kleinere Reparaturen zu sehen.
Reuben hatte noch nie eine Axt in den Händen gehalten. Er nahm die größte von der Wand. Der Holzschaft war fast einen Meter lang, die Schneide extrem scharf und fast fünfzehn Zentimeter lang. Allein der Kopf musste an die fünf Pfund wiegen. Dutzende Male hatte Reuben im Fernsehen gesehen, wie Männer mit solchen Äxten Holz hackten, und er fragte sich, wie er sich wohl dabei anstellen würde. Der Schaft war erstaunlich leicht. Die Schlagkraft schien allein aus dem Gewicht des Axtkopfes zu kommen. Hätte es nicht geregnet, hätte er nach dem Hackklotz gesucht und die Axt ausprobiert.
Plötzlich wurde ihm klar, dass dies die einzige Waffe war, die er besaß.
Er nahm die Axt mit ins Haus und stellte sie neben den Kamin in der Diele. Dort wirkte sie ganz harmlos. Die Farbe war vom Schaft abgeblättert, und zwischen frischem Brennholz und der Feuerstelle fiel sie kaum auf.
Es war ein gutes Gefühl, sie griffbereit zu haben, falls er sie brauchen sollte. Ein merkwürdiger Gedanke. Noch vor zwei Wochen hätte er nicht gedacht, dass er es je nötig haben könnte, sich mit einer Waffe zu verteidigen. Trotzdem hatte er jetzt nicht die geringsten Hemmungen, davon Gebrauch zu machen.
Langsam wurde ihm die innere Unruhe unerträglich.
Wehrte er sich gegen die Verwandlung? Oder war es einfach noch zu früh? Um diese Zeit war es noch nie passiert. Er musste einfach abwarten.
Aber er konnte nicht warten. Es juckte ihn geradezu in Händen und Füßen.
Schließlich hielt er es nicht mehr aus. Er traf einen Entschluss. Er konnte nicht anders.
Er zog sich aus, hängte sein Zeug ordentlich in den Kleiderschrank und zog die legeren Sachen an, die er in Santa Rosa gekauft hatte.
In dem riesigen Kapuzenshirt und der überdimensionierten Jogginghose versank er regelrecht, aber das machte nichts. Der braune Trenchcoat war so groß, dass er ihn lieber nicht anzog, aber er würde ihn mitnehmen.
Er zog die Schuhe aus und stieg in die riesigen Gummistiefel. Dann band er sich einen der neuen Schals um, stopfte ihn ins Sweatshirt und steckte die Sonnenbrille zusammen mit seinem Telefon, seinem Portemonnaie und seinen Schlüsseln in eine Manteltasche. Zum Schluss nahm er Fausthandschuhe und Laptop und ging nach draußen.
Beinahe hätte er vergessen, die Alarmanlage einzuschalten, aber dann tippte er den Code ein.
Alle Lichter brannten noch.
Als er ein kleines Stück gefahren war, schaute er in den Rückspiegel und sah die erleuchteten Fenster in allen drei Etagen. Der Anblick gefiel ihm. Das Haus sah belebt, sicher und solide aus.
Es war einfach wunderbar, dieses Haus zu besitzen und dem dichten, dunklen Wald, dem großen Mysterium nah zu sein. Auch beim Fahren hatte er das Bedürfnis, die Füße zu bewegen. Er streckte die Finger und schloss sie dann fest um das lederbezogene Lenkrad.
Der Regen stürzte an der Windschutzscheibe des Porsches herab, aber Reuben konnte trotzdem gut sehen. Die Scheinwerfer beleuchteten die unebene, holprige Straße vor ihm. Ohne es recht zu merken, begann er plötzlich zu singen, und er fuhr so schnell, wie die Straßenverhältnisse es zuließen.
Denk nach! Denk wie ein Kidnapper, der zweiundvierzig Kinder verstecken muss! Denk wie ein gewissenloses technisches Genie, das ein kleines Mädchen erschlagen und dann im Regen an einem einsamen Strandabschnitt aus dem Wagen werfen kann, um dann irgendwo hinzufahren, wo es warm und trocken ist und ein Computer steht, mit dem man in aller Ruhe sein Onlinebanking machen und E-Mails checken kann.
Wahrscheinlich befanden sich die Kinder ganz woanders, als alle dachten.