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Er erwachte aus einem tiefen Schlaf. Aus dem offenen Badezimmer drang Licht herein. Ein dicker weißer Frottee-Bademantel hing auf einem Bügel an der Tür.

Seine Ledertasche lag auf einem Stuhl, und sein Pyjama lag für ihn bereit, zusammen mit einem frischen Hemd für den nächsten Tag und seinen anderen Sachen. Seine Hose war ordentlich zusammengelegt, seine Socken vom Vortag ebenfalls.

Er hatte die Tasche im Wagen gelassen, den er allerdings nicht abgeschlossen hatte. Sie war also im Dunkeln rausgegangen, um sie für ihn zu holen, was ihn ein wenig beschämte, aber nicht über die Maßen, denn dafür war er viel zu glücklich und entspannt.

Er lag auf dem nicht zurückgeschlagenen Samtüberwurf des Betts, aber jemand hatte die Kissen unter der Decke hervorgeholt, und die Schuhe, die er in der Eile achtlos von sich geschleudert hatte, standen nebeneinander unter dem Stuhl.

Er blieb liegen und dachte daran, wie sie sich geliebt hatten. Es war erstaunlich, wie leicht es ihm gefallen war, Celeste zu betrügen. Dabei war das, was er getan hatte, gar nicht leicht gewesen. Schnell und impulsiv, aber nicht leicht, und das Gefühl war ungeheuer intensiv gewesen. Er bereute es nicht. Nicht im Geringsten. Er wusste, dass er sein Leben lang daran denken würde, und es schien bedeutender zu sein als das meiste, was er im Leben getan hatte.

Würde er Celeste davon erzählen? Er war sich nicht sicher. Jedenfalls würde er sie damit nicht überfallen, und er würde es nur tun, wenn sie es wirklich wissen wollte. Und das hatte zur Voraussetzung, dass sie sich ernsthaft miteinander unterhielten, über alles Mögliche. Zum Beispiel über die Tatsache, dass er sich in ihrer Gegenwart immer in der Defensive und ungenügend fühlte und dass er davon endgültig genug hatte. Selbst als viele ihn für seine Artikel im Observer gelobt hatten, hatte sie sich überrascht gezeigt. Das hatte ihn sehr verletzt.

Doch jetzt fühlte er sich wie neu geboren, beflügelt und schuldig zugleich. Und ein wenig wehmütig. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Marchent ihn noch einmal in ihr Bett lassen würde. Außerdem war ihm ihre gönnerhafte Art nicht angenehm, wenn sie ihn beispielsweise ihren «schönen Jungen» nannte. Das hatte sie nämlich getan, als die Umarmung am heftigsten war, und in dem Moment hatte es ihm nichts ausgemacht. Jetzt aber schon.

Er hatte nicht erwartet, dass sich die Dinge auf diese Weise entwickeln würden, aber alles schien miteinander zusammenzuhängen: Marchent, das Haus, Felix Nideck und das Mysterium der ganzen Familie.

Reuben stand auf und ging ins Badezimmer. Auf dem Marmorwaschbecken stand sein Rasierzeug, auf der Glasablage unter dem Spiegel fand sich alles, was er sonst noch brauchte, wie in einem guten Hotel. Es gab ein Fenster mit Vorhängen, das nach Westen hinausging. Tagsüber konnte man hier vermutlich das Meer oder die Klippen sehen.

Er duschte, putzte sich die Zähne und zog Pyjama, Bademantel und Schuhe an. Dann schlug er die Bettdecke zurück und schüttelte die Kissen auf.

Zum ersten Mal an diesem Abend sah er nach seinem Telefon. Er hatte zwei Nachrichten von seiner Mutter, eine von seinem Vater, zwei von seinem Bruder Jim und fünf von Celeste, aber ihm war jetzt nicht danach, auch nur eine zu beantworten. Stattdessen steckte er das Telefon in die Tasche des Bademantels und sah sich im Zimmer um.

Es beherbergte eine Menge wertvoller Dinge, die aber nach dem Zufallsprinzip zusammengestellt und nur notdürftig abgestaubt worden waren. Auch die Tontafeln befanden sich darunter, kleine Platten aus gebranntem Ton, die so fragil wirkten, als könnten sie unter seiner Berührung zerfallen. Die feine Keilschrift war deutlich zu erkennen. Dann gab es Figuren aus Jade, Diorit und Alabaster. Manche stellten Götter dar, die er kannte, andere hatte er noch nie gesehen. Schachteln mit feinen Intarsien enthielten Papier- und Stofffetzen, Münzen und Gegenstände, die früher als Schmuck gedient haben mochten. Und dann natürlich Bücher, jede Menge Bücher, viele in allen möglichen asiatischen Sprachen, aber auch in etlichen europäischen.

Hawthornes Gesamtwerk war hier zu finden, aber auch einige jüngere Werke, wie Reuben ebenso überrascht wie erfreut zur Kenntnis nahm. James Joyce’ Ulysses war völlig zerlesen und vollgestopft mit Notizzetteln. Dann gab es Bücher von Hemingway, Eudora Welty und Zane Grey, alte Gespenstergeschichten, von britischen Autoren wie M. R. James und Algernon Blackwood oder dem Iren Sheridan Le Fanu.

Reuben wagte nicht, diese Bücher anzufassen. Manche steckten voller Notizen, und die älteren Taschenbücher drohten auseinanderzufallen. Trotzdem war er erneut von dem Gefühl durchdrungen, dass er Felix kannte und liebte, nicht unähnlich den Gefühlen, die ihn in der Pubertät als Fan von Catherine Zeta-Jones oder Madonna überkommen hatten, solange er sie für die wunderbarsten und begehrenswertesten Geschöpfe der Welt hielt. Er verspürte eine regelrechte Sehnsucht danach, Felix kennenzulernen, ihm nahe zu sein, sich in seiner Welt zu bewegen. Doch Felix war tot.

Plötzlich ging seine Phantasie mit ihm durch. Er könnte Marchent heiraten und dann zusammen mit ihr hier wohnen. Für sie würde er das Haus wieder mit Leben füllen. Zusammen würden sie Felix’ Aufzeichnungen durchforsten. Vielleicht würde er die Geschichte des Hauses veröffentlichen, dazu die Lebensgeschichte von Felix. Es würde eins dieser besonderen Bücher mit vielen Fotos und Zeichnungen sein, die nie zu Bestsellern wurden, aber wertvoll waren und geschätzt wurden.

Dieses Mal brauchte Marchent ihm nicht zu sagen, dass er träumte. Er wusste es selbst. Und sosehr er Marchent liebte, war er noch nicht bereit zu heiraten. Das Buch hingegen war eine realistische Perspektive, und vielleicht würde Marchent ihm sogar dabei helfen, selbst wenn sie in ihr Haus nach Südamerika zurückkehrte. Vielleicht war es etwas, das sie miteinander verbinden konnte.

Er verließ das Zimmer und sah sich im Obergeschoss um. Über den nördlichen Flur ging er auf die Rückseite des Hauses zu. Viele Türen standen offen, und im Vorbeigehen schaute er in verschiedene kleinere Bibliotheken und Bildergalerien wie die, aus der er gerade gekommen war. Auch hier fanden sich alte Tontafeln. Es war wirklich atemberaubend. Genau wie die Menge der Statuetten und Figuren. Hier und da sah er sogar uralte Pergamentrollen. Es fiel ihm nicht leicht, nichts davon anzufassen.

Im Ostflügel befanden sich weitere Schlaf- und Arbeitszimmer. Eins davon war mit einer exquisiten orientalischen Tapete in Schwarz und Gold ausgekleidet, ein anderes mit einer gold-rot gestreiften Tapete.

Auf einem Rundkurs gelangte er in den Westflügel zurück. Einen Moment lang blieb er vor der offenen Tür eines Zimmers stehen, das offenbar Marchent gehörte. Über dem Bett schwebte ein Himmel aus weißer Spitze, davor lagen ihre Kleider in einem unordentlichen Haufen. Von Marchent selbst war nichts zu sehen.

Als Nächstes wollte sich Reuben den Dachboden ansehen. Von beiden Seiten des westlichen Korridors führten schmale Treppen hinauf, aber ohne ausdrückliche Erlaubnis wollte er dort nicht eindringen, genauso wenig wie er geschlossene Türen anrührte, obwohl er es nur zu gern getan hätte.

Je mehr er von dem Haus sah, desto besser gefiel es ihm. Die Wandleuchten entlang der Flure hatten die Form von Kerzen, Holztäfelungen und Geländer waren kunstvoll geschnitzt oder gedrechselt, die Türen hatten schwere Messingbeschläge.

Doch wo war die Dame des Hauses?

Reuben ging wieder die Treppe hinunter und hörte ihre Stimme, bevor er sie sehen konnte. Von der Küche aus entdeckte er sie in einem angrenzenden Arbeitszimmer zwischen Faxgeräten und Fotokopierern, Bildschirmen und Papierstapeln. Sie sprach leise in ein Festnetztelefon.

Er wollte sie nicht belauschen und konnte aus der Entfernung ohnehin kaum ein Wort verstehen. Sie trug jetzt ein weißes Negligé aus weich fließendem Stoff mit Spitzen und Perlen, und ihr glattes Haar schimmerte im Lampenlicht wie Satin.

Reuben spürte ein kaum bezwingbares Verlangen. Ihre Hand, die den Telefonhörer hielt, das Licht, das auf ihre Stirn fiel …

Im nächsten Moment drehte sie sich um und sah ihn. Lächelnd signalisierte sie ihm, dass sie bald fertig sein würde.

Er drehte sich um und ging.

Felice machte ihren abendlichen Gang durchs Haus und schaltete überall das Licht aus.

Das Esszimmer lag schon im Dunkeln, und er sah, dass das Kaminfeuer auseinandergeharkt worden war und nur noch schwach glomm. Auch die Diele vorne im Haus war schon dunkel. Die alte Frau bewegte sich durch den Flur und löschte im Vorbeigehen ein Licht nach dem anderen.

Auf ihrem Rückweg zur Küche kreuzte sie Reubens Weg, dann wurde auch die Küche dunkel. Ohne ein Wort an Marchent zu richten, die immer noch telefonierte, verließ sie das Haus, und Reuben ging wieder nach oben.

Im ersten Stock brannte eine Lampe auf einem kleinen Tisch. Auch aus Marchents Zimmer kam Licht.

Reuben setzte sich auf die oberste Treppenstufe und lehnte sich an die Wand, um auf Marchent zu warten, die bestimmt bald heraufkommen würde.

Plötzlich wurde ihm klar, dass er alles dafür tun würde, die Nacht mit ihr zu verbringen. Er konnte es gar nicht mehr abwarten, sie zu spüren, zu küssen und in den Armen zu halten. Es war ungeheuer aufregend gewesen, mit ihr zu schlafen, da er sie noch nicht kannte und alles ganz anders war, als er es gewohnt war. Aber Marchent war nicht nur aufregend gewesen, sondern auch zärtlich und großzügig, selbstgewiss und vor allem sehr viel leidenschaftlicher als Celeste. Dass sie so viel älter war als er, hatte keinerlei Rolle gespielt. Er wusste es natürlich, aber ihr Körper war fest und glatt und wunderschön und nicht so drahtig wie Celestes.

Was für krude Gedanken, schalt er sich und dachte an Marchents Stimme und Augen. Ja, er liebte sie. Celeste würde es wahrscheinlich verstehen. Immerhin hatte sie ihn zweimal mit ihrem früheren Freund betrogen und ganz offen über ihre «Fehltritte» gesprochen. Problemlos waren sie über die Krise hinweggekommen. Im Grunde hatte Celeste sogar mehr darunter gelitten als er.

Trotzdem glaubte er, etwas gutzuhaben, und darüber hinaus bezweifelte er, ob eine Frau in Marchents Alter überhaupt Celestes Eifersucht wecken würde. Celeste wusste, wie gut sie aussah und wie attraktiv sie war. Bestimmt würde sie über die Sache ohne große Auseinandersetzung hinweggehen.

Schließlich fielen ihm die Augen zu, aber es war nur ein leichter Schlaf. Er war vollkommen entspannt und hatte das Gefühl, sehr lange nicht so glücklich gewesen zu sein.