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Es war Freitag, und Reuben saß über den Papieren, die ihm wegen der Übernahme des Hauses in Mendocino zugeschickt worden waren, als er einen Anruf vom San Francisco Observer bekam: Ein vollbesetzter Schulbus der Goldenwood Academy in Marin County war entführt worden.

Reuben warf sich eine alte Cordjacke seines Vaters über, rannte die Treppe hinunter, sprang in seinen Porsche und raste in Richtung Golden Gate Bridge.

Im Autoradio berichteten alle Sender darüber. Doch so brisant die Meldung auch war – man wusste nicht mehr, als dass zweiundvierzig Schüler zwischen fünf und elf Jahren sowie drei Lehrerinnen spurlos verschwunden waren, nachdem ein Beutel mit den Handys der Schüler in einer Telefonzelle am Highway 1 gefunden worden war. An dem Beutel hing ein Zettel mit der Aufschrift: «Warten Sie auf unseren Anruf!»

Um drei kam Reuben bei dem hübschen alten Gebäude an, das die Privatschule beherbergte. Viele Fotografen, Kameramänner und Reporter waren bereits da, und immer mehr strömten herbei, hauptsächlich von regionalen Fernseh- und Radiosendern.

Celeste bestätigte telefonisch, dass niemand wusste, wohin die Schüler gebracht worden waren, und dass bis jetzt keine Lösegeldforderung eingegangen war.

Reuben gelang es, mit einer ehrenamtlichen Mitarbeiterin der Schule zu sprechen, die das Haus als wahre Idylle beschrieb und die Lehrer als «Erdmuttern» und die Schüler als «Blumenkinder» bezeichnete. Die Schüler hatten sich auf einem Ausflug in die nahegelegenen Muir Woods befunden, um dort einige der eindrucksvollsten Redwoodbäume der Welt zu bewundern.

Die Goldenwood Academy war eine unkonventionelle, teure Privatschule, aber der schuleigene Bus war alt und hatte weder GPS noch Telefon.

Billie Kale setzte zwei Reporter auf die Recherche an.

Reuben tippte wie wild auf seinem iPhone herum und beschrieb das pittoreske dreistöckige Gebäude mit dem umgebenden Eichenwald und den schattigen Wildblumenwiesen, auf denen Mohn, Margeriten und Azaleen wuchsen.

Immer mehr Eltern kamen zur Schule, und Polizisten schirmten sie von den Reportern ab, während sie sie ins Gebäude begleiteten. Frauen weinten, die Reporter rückten den Betroffenen auf den Leib, zertrampelten die Blumen, schubsten und drängelten. Die Polizisten verloren langsam die Nerven.

Reuben suchte sich ein ruhiges Fleckchen im hinteren Teil des Schulgeländes.

Bei den Eltern handelte es sich zumeist um Ärzte, Anwälte oder Politiker. Die Goldenwood Academy war eine experimentelle, aber prestigeträchtige Schule. Zweifellos würde die Lösegeldforderung horrend sein. Die Polizisten zu befragen war sinnlos, da bereits das FBI hinzugezogen worden war.

Sammy Flynn, der junge Fotograf des Observer, kämpfte sich irgendwann zu Reuben durch und fragte ihn, was er tun solle. «Fang alles ein, was du kriegen kannst», sagte Reuben ungeduldig. «Den Sheriff auf der Veranda und vor allem die Atmosphäre der Schule.»

Allerdings fragte er sich, wozu das gut sein sollte. Wenn er in der Vergangenheit über große Verbrechen berichtet hatte, war es ihm immer vorgekommen, als bereitete die Presse den Verbrechern geradezu eine Bühne. Dieses Mal war er sich da jedoch nicht so sicher. Möglicherweise hatte ja tatsächlich jemand etwas gesehen, und wenn die Leute zu Hause im Fernsehen diese Bilder sahen und von der Entführung hörten, würde ihnen vielleicht erst klar, was sie da gesehen hatten, riefen an und gaben der Polizei wichtige Hinweise.

Er hielt sich im Hintergrund und lehnte an der rauen Rinde einer niedrigen Buscheiche. Es roch nach Piniennadeln und anderen Pflanzen, und unwillkürlich musste er wieder an seinen Spaziergang mit Marchent denken. Plötzlich überkam ihn eine seltsame Unruhe. Machte es ihn unglücklich, dass er hier und nicht dort war? Würde ihn das ebenso grandiose wie rätselhafte Anwesen, das er geerbt hatte, dazu bringen, seinen Job zu vernachlässigen?

Warum stellte er sich diese Frage erst jetzt?

Er schloss kurz die Augen. Hier tat sich nicht viel. Der Sheriff sagte immer wieder das Gleiche, und immer wieder wurden ihm aus der Menge der Reporter und Schaulustigen die gleichen Fragen gestellt.

Dann gesellten sich andere Stimmen in die Geräuschkulisse. Einen Moment lang glaubte Reuben, mehr Leute seien angekommen, doch dann wurde ihm klar, dass die neuen Stimmen, die er hörte, aus dem Inneren des Gebäudes kamen. Eltern schluchzten verzweifelt. Lehrer gaben Platituden von sich. Man machte sich gegenseitig Mut, obwohl es keinen Grund dafür gab.

Reuben wurde immer unruhiger. Nein, er würde nicht darüber schreiben, was die Leute im Haus sagten. Er versuchte wegzuhören, doch dann fragte er sich plötzlich: Warum, zum Teufel, kann ich hören, was dadrinnen gesprochen wird? Was soll das, wenn ich nicht darüber schreiben darf? Abgesehen davon gab es nicht viel anderes, worüber man schreiben konnte.

Er notierte das Erwartbare. Eltern brachen unter der Belastung zusammen. Immer noch keine Lösegeldforderung. Reuben war zuversichtlich, das verifizieren zu können. Immerhin berichteten das die Stimmen im Haus, und der Krisenmanager versicherte den verzweifelten Eltern, dass ein entsprechender Anruf bestimmt bald eingehen würde.

Die Menge vor dem Haus sprach von der Schulbusentführung von Chowchilla, die in den siebziger Jahren Aufsehen erregt hatte. Damals war niemand verletzt worden. Lehrer und Schüler waren von ihrem Bus in einen Lastwagen verfrachtet und in einen unterirdischen Steinbruch verschleppt worden, aus dem ihnen die Flucht gelang.

Was kann ich tun, um zu helfen?, fragte sich Reuben. Effektiv zu helfen. Plötzlich fühlte er sich erschöpft und erregt zugleich. Vielleicht war er noch nicht so weit, wieder arbeiten zu können. Vielleicht wollte er nie wieder arbeiten.

Als bis sechs Uhr nichts Neues geschehen war, fuhr er nach Hause.

Immer noch litt er unter seltsamen Erschöpfungszuständen, die kamen und gingen, obwohl er sonst kerngesund war. Grace hielt es für die Nachwirkungen der Narkose, die er während der Bauchoperation bekommen hatte. Auch die Nebenwirkungen der Antibiotika, die er immer noch einnehmen musste, seien nicht zu unterschätzen.

Gleich als er zu Hause ankam, verfasste er einen einfühlsamen Bericht für die Morgenausgabe des Observer, über den er nicht groß nachzudenken brauchte, und mailte ihn an seine Redaktion. Eineinhalb Minuten später bekam er einen Anruf von Billie, die ihn dafür lobte, vor allem für die Zitate des Krisenmanagers und die Schilderung der zertrampelten Blumen.

Zum Abendessen ging er ins Esszimmer hinunter. Aus verschiedenen Gründen ging es Grace nicht besonders gut. Unter anderem waren heute zwei Patienten auf ihrem Operationstisch gestorben. Beide hatten kaum eine Überlebenschance gehabt, aber selbst eine Unfallchirurgin steckte derlei nicht ohne weiteres weg, und so blieb Reuben länger am Tisch sitzen, als er es sonst getan hätte. Die Schulbusentführung war Tischgespräch Nummer eins. Der stummgeschaltete Fernseher lief in der Ecke des Esszimmers, damit Reuben die aktuelle Entwicklung im Auge behalten konnte.

Als er sich wieder an die Arbeit machte, schrieb er einen Artikel, in dem er an die Chowchilla-Entführung erinnerte und von den damaligen Verbrechern berichtete, die immer noch hinter Gittern saßen. Damals waren sie junge Männer in Reubens Alter gewesen, und er fragte sich, wie die lange Haftzeit sie wohl verändert hatte. Aber darum ging es in seinem aktuellen Artikel nicht. Vielmehr schlug er einen optimistischen Grundton an, da alle Entführten überlebt hatten.

Seit dem Massaker in Mendocino hatte er nicht mehr so viel an einem Tag gearbeitet. Er ging duschen und dann gleich zu Bett. Doch dann erfasste ihn eine so große innere Unruhe, dass er wieder aufstand und in seinem Zimmer auf und ab ging. Dann legte er sich wieder hin. Er fühlte sich einsam, schrecklich einsam. Seit dem Massaker war er nicht richtig mit Celeste zusammen gewesen. Aber es war nicht Celeste, nach der er sich sehnte. Würde er jetzt mit ihr schlafen, würde er ihr sicher so weh tun, dass sie blaue Flecken bekam, und er würde nicht darauf achten, was sie gerne wollte. Tat er das nicht sowieso schon die ganze Zeit? Musste es auch noch im Bett passieren?

Er drehte sich auf die Seite, umklammerte das Kopfkissen und stellte sich vor, er wäre in Kap Nideck, in Felix’ altem Bett, zusammen mit Marchent. Das half ihm einzuschlafen.

Aber um Mitternacht wachte er wieder auf. Der eingeschaltete Fernseher war die einzige Lichtquelle. Durchs Fenster schienen die Lichter der Stadt herein. Nur wo das Meer begann, die Bucht von San Francisco, war ein großer dunkler Fleck.

Konnte er tatsächlich bis zu den Hügeln von Marin County sehen? Es hatte ganz den Anschein. Weit hinter der Golden Gate Bridge zeichnete sich ihre Silhouette ab. Wie war das möglich?

Er sah sich in seinem Zimmer um und konnte ohne Weiteres alles erkennen, selbst die feinen Risse in der Decke. Oder die Maserung seines Schreibtischs. Es kam ihm vor, als steigerte das Zwielicht sein Sehvermögen.

Stimmen drangen durch die Nacht, ein unverständliches Durcheinander und Gemurmel. Aber er wusste, dass er sich bloß auf eine zu konzentrieren brauchte, um sie klar und deutlich zu verstehen. Was war das für eine Fähigkeit? Woher kam sie plötzlich?

Er stand auf, ging auf die Dachterrasse und legte die Hände auf das Holzgeländer. Der salzige Wind ließ ihn frösteln, aber er erfrischte ihn auch und verlieh ihm neue Energie.

Kälte schien sein neues Element zu sein. Hitze war ja genügend in ihm gespeichert, und jetzt schien sie aus ihm herauszubrechen, aus jeder Hautpore. Es fühlte sich an, als würde jedes einzelne Härchen auf seinem Körper dicker und länger. Es schüttelte ihn, aber es war äußerst lustvoll.

«Ja!», hauchte er. Er verstand. Doch was genau verstand er? Er glaubte es fassen zu können, dann war es wieder verschwunden. Was blieb, war eine pulsierende Ekstase.

Jede Faser seines Körpers pulsierte und wuchs, seine Gesichtshaut, sein Kopf, seine Hände, die Muskeln seiner Arme und Beine. Jede Pore atmete anders als je zuvor. Alles an ihm schien größer und stärker zu werden, Sekunde um Sekunde.

Seine Fuß- und Fingernägel wuchsen, und als er sein Gesicht abtastete, spürte er, dass es über und über von seidenweichen Haaren bedeckt war. Ja, dickes, weiches Haar wuchs ihm überall aus dem Körper. Es bedeckte seine Nase, seine Wangen, seine Oberlippe. Mit den Fingern – eigentlich waren es jetzt Klauen – tastete er nach seinen Zähnen und merkte, dass es ein Raubtiergebiss war. Noch wuchsen seine Zähne sogar, wurden länger und länger. Auch sein Kiefer wuchs und wurde kräftiger.

«Komm schon, du hast es gewusst! Oder willst du behaupten, du hättest nicht gewusst, dass es in deinem Inneren so aussieht? Jetzt stülpt es sich lediglich heraus. Gib’s zu: Du wusstest es!»

Seine Stimme klang kehlig und rau. Reuben lachte vor Glück, tief und selbstbewusst und wie befreit.

Inzwischen waren seine Hände dicht behaart. Und die Klauen!

Er riss sich den Pyjama vom Leib, zerfetzte ihn mühelos und warf ihn auf die Holzbohlen der Dachterrasse.

Sein Haupthaar wuchs immer noch. Inzwischen reichte es ihm bis auf die Schultern. Auch seine Brust war jetzt vollkommen behaart, und die Muskeln seiner Schenkel und Waden schwollen vor Kraft an.

Reuben dachte, irgendwann müsste dieser orgiastische Vorgang beendet sein, aber es hörte nicht auf. Schließlich riss er impulsiv den Mund auf, und ein Schrei, ein wildes Geheul wollte heraus, aber er hielt sich zurück. Er sah durch den Küstennebel zum Nachthimmel auf, über den sich weiße Wolken schoben, dazwischen blitzten Sterne auf, die viel zu weit entfernt waren, um vom menschlichen Auge wahrgenommen zu werden, aber er blickte gleichsam in die Ewigkeit.

«O Gott, lieber Gott!», flüsterte er.

Alle Häuser waren lebendig, die ganze Stadt atmete und vibrierte.

Du solltest dich fragen, warum das hier mit dir passiert. Du solltest wollen, dass es aufhört. «Nein!», flüsterte er. Es kam ihm vor, als könnte er in der Dunkelheit eine Verbindung zu Marchent herstellen, als zöge sie ihr weiches braunes Wollkleid aus und stünde mit nackten Brüsten neben ihm.

Was passiert mit mir? Was bin ich?

Ein Gefühl, so stark und eindeutig wie Hunger, sagte ihm, dass er es nicht nur wusste, sondern ganz beglückt davon war. Er hatte gewusst, dass es passieren würde, seine nächtlichen Träume, aber auch seine Tagträume hatten ihn darauf vorbereitet. Die Kraft, die sich in ihm ausbreitete, konnte nur aus ihm selbst, aus seinem Inneren kommen, denn andernfalls hätte sie ihn zerrissen.

Jeder einzelne Muskel seines Körpers wollte losspringen, laufen, aktiviert werden.

Er drehte sich um, spannte die kraftvollen Schenkel an und sprang aufs Dach, vollkommen mühelos.

Es war so einfach, dass er lachen musste. Seine nackten Füße fanden sicheren Halt, als er mit gewaltigen Sätzen über das Dach sprang, ein paar Schritte ging und dann wieder sprang.

Ehe er sichs versah, war er bis zur nächsten Straßenecke gelangt. Ohne nachzudenken oder auch nur eine Sekunde daran zu zweifeln, dass er es schaffen könnte, sprang er auf das gegenüberliegende Haus.

Er hörte auf nachzudenken, gab sich ganz der lustvollen Bewegung hin und jagte weiter über die Dächer. Nie zuvor hatte er sich so stark gefühlt, so frei.

Die Stimmen wurden lauter. Ihr Chor schwoll an und ab, während er sich hierhin und dorthin bewegte und herauszuhören versuchte, welche Stimme die wichtigste war. Worauf war er aus? Was wollte er wissen? Wer rief nach ihm?

Er sprang von Haus zu Haus und bewegte sich den Hügel hinab, auf den dichten Verkehr und den Lärm von North Beach zu. Inzwischen war er so schnell, dass er vor schmaleren Straßenschluchten den Boden nicht mehr berührte, sondern direkt zum nächsten Dach übersetzte. Seine klauenartigen Hände erfassten, was immer er brauchte, um ihm Halt zu geben oder sich weiterzuziehen. Er war so leicht, dass er beinahe flog.

In einer Gasse hinter den Häusern einer größeren Straße hielt er plötzlich inne. Er hatte etwas gehört. Eine Frau schrie, eine zu Tode geängstigte Frau schrie um ihr Leben.

Im nächsten Moment hatte er sich schon auf die Straßenebene hinabgelassen und landete weich und geräuschlos auf der Erde. Er war von hohen Gebäuden umgeben, und im Licht der Straßenbeleuchtung zeichnete sich scherenschnittartig ab, wie ein Mann einer Frau die Kleider vom Leib riss und sie gleichzeitig würgte, während sie verzweifelt nach ihm trat, ohne ihn zu treffen.

Ihre Augen begannen unkontrolliert in ihren Höhlen zu rollen. Sie starb!

Ein mächtiges Knurren kam aus Reubens Hals, ohne dass er sich anstrengen musste. Brüllend stürzte er sich auf den Mann und riss ihn von der Frau los. Dann senkten sich seine Zähne in den Hals des Mannes, und sein Blut spritzte Reuben ins Gesicht, während der Mann vor Schmerz laut aufschrie. Ein widerlicher Geruch ging von ihm aus, der eigentlich kein Geruch war, sondern eher eine Aura dessen, was er vorhatte. Jedenfalls strahlte er etwas aus, das Reuben wütend machte. Er zerrte an ihm und stieß ihm grollend die Zähne in die Schulter. Es war ein gutes Gefühl, seine Muskeln zu zerfetzen. Die Aura des Mannes stachelte ihn auf. Es war die Aura des Bösen.

Schließlich ließ er von ihm ab.

Der Mann stürzte aufs Straßenpflaster, und Blut schoss aus seinen Adern. Reuben behielt seinen rechten Arm im Mund und riss ihn fast aus der Schulter. Dann schleuderte er den wehrlosen Mann an die Hauswand, wo sein Schädel krachend zerbrach.

Die Frau stand wie erstarrt, die Arme vor den Brüsten verschränkt. Sie schluchzte und wimmerte und tat Reuben unendlich leid. Wie konnte ihr jemand das nur antun? Sie zitterte so sehr, dass sie sich kaum aufrecht halten konnte. Eine nackte Schulter stach aus ihrem roten Seidenkleid hervor.

Sie schluchzte immer heftiger.

«Sie sind jetzt in Sicherheit», sagte Reuben und wunderte sich über seine Stimme. War es wirklich seine? Sie war viel tiefer, rauer und selbstbewusster als früher. «Der Mann, der Ihnen weh tun wollte, ist tot.» Er streckte die Hand nach ihr aus und sah, dass es eine behaarte Klaue war. Sanft streichelte er ihr über den Arm. Wie es sich für sie wohl anfühlte?

Er blickte auf den Toten, der auf der Seite lag. Seine Augen glänzten im Halbdunkel der Straßenbeleuchtung wie Glas. Sie schienen gar nicht zu ihm zu gehören, sondern saßen wie polierte Edelsteine in einem Haufen stinkenden Fleischs. Der Geruch und die Aura des Mannes verpesteten die Luft um ihn herum.

Die Frau entfernte sich von Reuben, drehte sich um und begann wegzulaufen. Ihre schrillen Schreie hallten durch die Gasse. Sie fiel auf die Knie, richtete sich wieder auf und lief weiter auf die Hauptstraße zu.

Reuben sprang in die Luft und erklomm die Hauswand mit der Leichtigkeit einer Katze. Im Nu war er wieder auf dem Dach. In weniger als einer Sekunde war er an der nächsten Straßenecke und eilte weiter Richtung Zuhause.

Er hatte nur noch einen Gedanken: Überleben! Fliehen! Nach Hause zurückkehren, in sein Zimmer. Weg von den Schreien und dem Toten.

Ohne auf den Weg zu achten, erreichte er sein Haus und ließ sich vom Dach auf die Dachterrasse vor seinem Zimmer hinunter.

Dort stand er in der offenen Tür und starrte auf sein Bett, den Fernseher, seinen Schreibtisch und den Kamin. Er leckte das Blut von seinen Zähnen; es war salzig und widerlich und doch faszinierend.

Das Zimmer kam ihm seltsam klein und vor allem sehr nutzlos vor, als sei alles darin aus einem untauglichen, zerbrechlichen Material gemacht.

Er ging hinein und fand es viel zu warm. Trotzdem schloss er die Terrassentür. Es kam ihm absurd vor, das winzige Messingschloss zu sichern. Es war so nutzlos wie alles andere hier. Jeder konnte doch die Scheiben zwischen den dünnen weißen Rahmen einschlagen und die Tür öffnen! Man konnte sogar die ganze Tür herausreißen und auf die Straße werfen.

In dem engen Zimmer hörte er seinen eigenen Atem.

Der Fernseher warf weißblaues Licht an die Decke.

In der Spiegeltür zum Badezimmer sah er sich – eine große, behaarte Gestalt mit einer Mähne, die ihm bis auf die Schultern fiel. Ein Wolfsmensch.

«Das also war das Tier, das mich in Marchents Haus gerettet hat», sagte er halblaut und lachte mit seiner tiefen, selbstsicheren Stimme. Natürlich, das war’s! «Du hast mich gebissen, du Biest. Aber ich bin nicht gestorben, sondern selbst so ein Wesen geworden.» Wieder wollte er laut loslachen – oder besser noch: die vorüberziehenden Sterne anheulen. Doch das Haus war zu eng, zu klein, zu gesittet dafür.

Er ging auf den Spiegel zu.

Im Fernseher lief gerade eine Szene, die das ganze Zimmer erhellte. So sah er sein Spiegelbild in aller Deutlichkeit. In seinen tiefblauen Augen konnte er sich wiedererkennen, doch der Rest seines Gesichts war von dunkelbraunem Haar überwuchert. Seine kleine schwarze Nase hatte kaum Ähnlichkeit mit der eines Wolfs. In seinem vorgewölbten, lippenlosen Mund saßen glänzend weiße Schneide- und lange Eckzähne, regelrechte Reißzähne. Damit ich dich besser fressen kann.

Er war größer als vorher, mindestens zehn Zentimeter, seine Hände oder Pfoten waren riesig und endeten in tödlichen weißen Klauen. Auch seine Füße waren größer, die Muskeln seiner Waden und Schenkel stärker. Trotz des Fells war es deutlich zu erkennen. Er berührte sich zwischen den Beinen und schreckte zurück, als er spürte, wie hart sein Glied war.

Doch all das war von dichtem Fell bedeckt, flaumig an der Haut und rau an der Oberfläche. Der größte Teil seines Körpers war davon bedeckt. Der weiche Flaum bedeckte ihn sogar komplett, wie er feststellte, auch dort, wo das raue Deckhaar fehlte, etwa um die Geschlechtsteile herum, an der Innenseite seiner Oberschenkel und am Unterbauch. Wenn er mit den Klauen vorsichtig durch das raue Deckhaar fuhr und es teilte, empfand er es als äußerst erregend.

Am liebsten wäre er gleich wieder rausgegangen, über die Dächer gesprungen und hätte gelauscht, ob irgendwo jemand in Not war. Es verlangte ihn so sehr danach, dass er Speichel absonderte und danach geiferte.

«Du denkst und fühlst wie dieses Wesen», sagte er und wunderte sich erneut über seine veränderte Stimme. «Hör damit auf!»

Er betrachtete die Innenseite seiner Hände, die zu unbehaarten Pfoten geworden waren, durchzogen von einer Maserung, die seine ehemaligen Finger darstellte. Wenigstens hatte er noch Daumen.

Langsam ging er auf seinen Nachttisch zu. Das Zimmer war so unerträglich warm, dass er großen Durst bekam. Er griff nach seinem iPhone und konnte es mit den Klauen kaum halten, aber irgendwie schaffte er es.

Dann ging er ins Badezimmer, schaltete alle Lampen an und betrachtete sich in der Spiegelwand gegenüber der Dusche. Die Helligkeit ließ seinen eigenen Anblick zum Schock werden. Am liebsten hätte er sich abgewandt, versteckt, das Licht gelöscht. Stattdessen zwang er sich, sein Spiegelbild genau zu betrachten.

Die schwarze Nase, mit der er eine Unzahl von Gerüchen wahrnahm, wie es nur Tiere konnten. Der kräftige Kiefer, der sich aber nicht so stark vorwölbte wie eine richtige Schnauze. Und dann diese unglaublichen Reißzähne!

Er hielt das iPhone in die Höhe und fotografierte sich selbst. Wieder und wieder.

Dann lehnte er sich an die Marmorfliesen neben der Dusche, leckte sich über die Zähne und schmeckte das Blut des Mannes.

Sofort erwachte wieder die Gier in ihm. Es gab mehr böse Menschen als nur diesen stinkenden Vergewaltiger, mehr Menschen in Not als nur die Frau in dem roten Kleid. Er hörte ihre Stimmen. Wenn er wollte, könnte er sich jetzt auf eine davon konzentrieren und ihr folgen.

Aber er tat es nicht. Er war wie gelähmt, wie erstarrt.

Er war drauf und dran zu weinen, aber der Impuls war nicht stark genug. Vielmehr war es nur ein Gedanke: Du solltest weinen, zu Gott beten, ihn um Verständnis bitten, ihm deine Ängste offenbaren.

Nein, er tat es nicht. Er hatte nicht einmal ernsthaft die Absicht.

Er drehte den Wasserhahn auf und ließ das Waschbecken volllaufen. Dann trank er gierig daraus, bis sein Durst gestillt war. Es war, als hätte er Wasser noch nie richtig geschmeckt, noch nie bemerkt, wie köstlich es war, wie süß und rein, wie belebend.

Er probierte, ein Glas zu halten und es mit Wasser zu füllen, als plötzlich die Rückverwandlung begann.

Er spürte es wie beim ersten Mal zuerst in den Millionen Haarwurzeln, die überall in seinem Körper saßen. Gleich darauf krampfte sich sein Magen zusammen, aber nicht schmerzhaft, sondern eher lustvoll.

Er sah in den Spiegel und zwang sich, ganz ruhig zu bleiben, obwohl es immer schwieriger wurde. Die Behaarung zog sich zurück und verschwand stellenweise ganz; einzelne Haare fielen auf die Bodenkacheln. Die ledrig-schwarze Nasenspitze wurde blasser und verschwand dann ganz. Seine Nase wurde kürzer, genau wie die Reißzähne. Sein Mund kribbelte, ebenso seine Hände und Füße. Sein ganzer Körper war wie elektrisiert.

Es war ein körperlicher Zustand, der an Ekstase grenzte. Er konnte nicht mehr zuschauen, nicht mehr aufpassen. Er war der Ohnmacht nahe.

Er stolperte in sein Zimmer und fiel aufs Bett. Sein Körper zuckte orgiastisch, von den Waden bis zum Rücken und den Armen. Das Bett fühlte sich ungewohnt weich an, und die Stimmen wurden leiser, bis er nur noch ein leises Summen vernahm.

Dunkelheit senkte sich über ihn wie in jenen verzweifelten Augenblicken in Marchents Haus, als er zu sterben glaubte. Aber im Gegensatz zu damals kämpfte er jetzt nicht dagegen an.

Er schlief ein, bevor die Verwandlung ganz vollzogen war.

Es war hellichter Tag, als er vom Klingeln seines Telefons geweckt wurde. Aber wo war der Apparat?

Es hörte auf zu klingeln.

Reuben stand auf. Er war nackt, und ihm war kalt. Der Himmel war bewölkt, aber das Licht, das durchs Fenster schien, war ihm zu hell. Außerdem hatte er so starke Kopfschmerzen, dass es besorgniserregend war, doch dann hörten die Schmerzen ganz plötzlich auf.

Er suchte das Telefon und fand es schließlich auf dem Badezimmerfußboden. Er erinnerte sich daran, wie es dorthin gelangt war, und klickte die Fotos an. Er war sich sicher, dass es Fotos vom guten alten Reuben Golding sein würden. Sie wären der Beweis, dass er langsam verrückt wurde.

Doch da war er, der Wolfsmensch!

Sein Herz blieb beinahe stehen.

Der große Kopf, die braune Mähne, die ihm auf die Schulter fiel, die lange Nase mit der schwarzen Spitze und die Reißzähne, die aus dem schwarz geränderten Mund herausragten. Aber blaue Augen, deine blauen Augen!

Er legte die Hand auf den Mund und zitterte am ganzen Körper. Dann betrachtete er sich im Spiegel, und sein Blick blieb an seinen wohlgeformten, beinahe rosafarbenen Lippen hängen. Er sah auf das Foto, auf den schwarz geränderten, riesigen Mund. Das konnte doch nicht wahr sein! Ein Wolfsmensch, ein Monster! Er klickte ein Foto nach dem anderen an.

Großer Gott …

Die Kreatur hatte lange, spitze Ohren, die aufgestellt und fast zur Hälfte von dichtem Kopffell verdeckt waren. Die Stirn stand vor, ohne die großen Augen zu überwölben. Sie allein hatten menschliche Proportionen. Das Tier glich keinem, das Reuben je gesehen hatte – am allerwenigsten den an Teddybären erinnernden Werwölfen aus alten Filmen. Am ehesten ähnelte es einem hochgewachsenen Satyr.

«Wolfsmensch», flüsterte er.

Ist es das, was mich in Marchents Haus fast umgebracht hat? Ist es das, was mich mit dem Maul hochgehoben und mir beinahe Hals und Brust aufgerissen hätte, genau wie Marchents Brüdern?

Er überspielte die Fotos auf seinen Computer. Dann rief er eins nach dem anderen auf. Und staunte. Auf einem hielt er die Pfote hoch. Das war doch er, oder? Es war Unsinn, von dem Wesen als «es» zu denken. Er sah sich die Pfote genauer an, die dicken, behaarten Linien, die einmal seine Finger gewesen waren.

Ihm fiel ein, dass Haare aus seinem Fell auf den Boden gefallen waren, und er ging ins Bad zurück, um sie zu suchen. Doch er konnte sie nicht finden. Stattdessen lagen dort winzige, feine Flöckchen, kaum zu sehen, und als er sie aufheben wollte, zerfielen auch sie.

Ah, sie vertrocknen, lösen sich auf, verflüchtigen sich. Der Beweis ruht in miroder nicht einmal dort. Vielleicht hat nichts von alledem Bestand.

Deshalb also wurden in Mendocino keine Spuren gefunden!

Er erinnerte sich an die Magenkrämpfe, an das unbeschreibliche Wohlgefühl, das jede Faser seines Körpers ergriffen hatte, wie magische Musik.

Auf seinem Bett fand er die gleichen in Auflösung begriffenen Haare, die sich ebenfalls verflüchtigten, als er sie anfassen wollte.

Er setzte sich aufs Bett, vergrub das Gesicht in den Händen und begann zu lachen. Aber es war ein erschöpftes, verzweifeltes Lachen. Er lachte, bis er zu ausgelaugt war, um weiterzulachen, und sich wieder hinlegte.

Eine Stunde später lag er immer noch im Bett und spürte seinen Erinnerungen nach. Der Geruch der Gasse, Müll und Urin; der Geruch der Frau, eine Mischung aus Parfüm und einer sauren, zitrusähnlichen Note. War es der Geruch der Angst? Er wusste es nicht. Um ihn herum hatte es vor Gerüchen und Geräuschen nur so gewimmelt, aber er hatte sich voll und ganz auf den Geruch des Mannes konzentriert, die anschwellenden Ausdünstungen seiner Bosheit.

Das Telefon klingelte. Er ignorierte es. Es klingelte wieder. Es spielte keine Rolle.

«Du hast jemanden getötet», murmelte er. «Willst du darüber nicht mal nachdenken? Hör auf, an die Gerüche zu denken, an die aufregenden Sinneseindrücke, an den Sprint über die Hausdächer, an die Vier-Meter-Sprünge in die Luft! Hör auf! Du hast getötet!»

Aber er konnte keine Reue empfinden. Kein bisschen. Der Mann war drauf und dran gewesen, die Frau umzubringen, und hatte ihr bereits irreparablen Schaden zugefügt, sie in Angst und Schrecken versetzt, sie gewürgt und sich ihr gewaltsam aufgedrängt. Es war ein Mann, der anderen geschadet hatte. Hätte er weitergelebt, hätte er es immer wieder getan. Da war er sich ganz sicher. Er hatte es gerochen. Der Geruch des Mannes, seine Aura, hatte ihm verraten, dass der Mann ein Killer war.

So wie Hunde Angst riechen konnten, konnte er Hilflosigkeit riechen. Und das Böse, das sich in einem Gewaltakt Bahn brach.

Nein, es tat ihm nicht leid. Die Frau lebte. Er hatte gesehen, wie sie weggerannt war, nicht nur der belebten Straße entgegen, den Lichtern, dem Verkehr, sondern dem Leben entgegen, einem Leben, das ihr in höchster Not wiedergeschenkt worden war.

Er stellte sich Marchent vor, wie sie mit einer Waffe in der Hand aus ihrem Arbeitszimmer rannte. Er sah, wie die Männer sie jagten, bis sie auf den harten Küchenfußboden stürzte. Sie starb. Ihr Leben war beendet.

Alles Leben um sie herum schien ausgelöscht. Der Redwoodwald vorm Haus starb, aus allen Zimmern des Hauses wich jegliches Leben. Die Küche schrumpfte, der Boden, auf dem sie lag, verschwand. Bis nichts übrig blieb als das Nichts, das sie verschluckte. Es war das Ende von Marchent gewesen.

Gab es ein Erwachen im Jenseits? Würde ihre Seele im Licht einer unendlichen, alles umfassenden Liebe wiederauferstehen? Woher sollten wir das wissen, bevor wir selbst dahin gelangten? Reuben versuchte sich Gott vorzustellen, einen Gott, so groß wie das Universum mit seinen Millionen von Sternen und Planeten, unendlichen Weiten, Geräuschen und Stille. Ein solcher Gott müsste alles kennen und wissen, alles. Auch die Gedanken und Gefühle, Ängste und Kümmernisse jedes einzelnen Lebewesens, von der dreckigsten Ratte bis zum edelsten Menschen. Dieser Gott könnte die Seele einer sterbenden Frau, die elend auf einem Küchenfußboden verreckte, aufnehmen, ganz und unversehrt und in all ihrer Schönheit. Er würde sie in seine kraftvollen Hände nehmen und in einen Himmel jenseits unserer Welt tragen, wo sie für immer mit ihm vereint wäre.

Doch wie konnte Reuben sich da sicher sein? Woher sollte er wissen, was hinter der Stille lag, die sich im Korridor von Kap Nideck in ihm ausgebreitet hatte, als er kaum noch Luft bekam und alles Leben aus ihm zu weichen drohte, so wie es schon aus den beiden Männern gewichen war, auf denen er lag?

Er sah bildlich vor sich, wie der Redwoodwald starb, wie die Zimmer des Hauses schrumpften und verschwanden, wie alles Materielle verging und Marchent starb.

Dann sah er wieder das Opfer des Vergewaltigers, wie die Frau um ihr Leben rannte. Er sah, wie die ganze Stadt um sie herum Gestalt annahm, mit Myriaden von Gerüchen, Geräuschen und grellen Lichtern; ausgehend von der rennenden Frau erstreckten sich diese Dinge in alle Richtungen, bis zu den dunklen Wassern der Bucht, den fernen Bergen, den vorüberziehenden Wolken. Schreiend griff die Frau nach dem Leben.

Nein, er bereute es nicht. Kein bisschen. Diese Anmaßung, diese Gier des Mannes, als er die Frau würgte und ihr das Leben nehmen wollte! Die Habsucht und Selbstherrlichkeit der Brüder, als sie ihre Messer wieder und wieder in dieses wunderbare Wesen stießen, das ihre Schwester war!

«Nein, wirklich nicht», murmelte Reuben.

Noch nie hatte er über solche Dinge nachgedacht. Aber es ging nicht um ihn. Es ging um die anderen. Sie musste er im Auge behalten. Ohne Reue. Er wurde ganz ruhig.

Schließlich stand er auf, wusch und kämmte sich.

Als er sein Spiegelbild sah, erschrak er. Natürlich, er war Reuben, kein Wolfsmensch. Aber er war nicht der Reuben von einst. Sein Haar war dichter und länger, und er war größer und breitschultriger. Was immer mit ihm vorging, welche Alchemistenküche auch immer sein Körper beherbergte – man sah ihm die Veränderung an. In seinem Inneren brodelte etwas, das einen robusteren Körper benötigte.

Grace hatte von Hormonen gesprochen, die er neuerdings wieder ausschüttete. Wachstumshormone. Sie vergrößern die Stimmbänder, die Beine, beschleunigen das Haarwachstum. Ganz normale Wachstumshormone eben. Doch die Hormone, die sein Körper produzierte, hatten noch andere Funktionen, viel komplexere, die von den Labortests nicht erfasst werden konnten. In seinem Körper ging etwas vor, das dem Zustand eines sexuell erregten Mannes ähnelte, der unabhängig davon, was er dachte oder wollte, von körperlicher Lust übermannt wurde und am ganzen Körper erstarkte. Seine Hormonproduktion lief auf Hochtouren.

Reubens naturwissenschaftliches Verständnis hatte sich immer in Grenzen gehalten. Vielleicht glich der Versuch, die inneren Vorgänge seines Körpers zu verstehen, eher dem Versuch, hinter die Geheimnisse der Magie zu kommen. Doch er spürte, dass etwas Reales, Materielles hinter dem steckte, was pure Magie zu sein schien. Woher kam seine Fähigkeit zur Verwandlung? Vom Speichel des Tiers, das ihn gebissen hatte? Es hätte ihn mit dem tödlichen Virus der Tollwut anstecken können, stattdessen hatte es ihm die Fähigkeit zur Verwandlung verliehen. Aber was für eine Kreatur war es gewesen? Ein Wolfsmensch, so wie er selbst nun einer war?

Hatte diese Kreatur Marchents Schreie genauso gehört, wie er die Schreie des Vergewaltigungsopfers gehört hatte? Hatte diese Kreatur das Böse in Marchents Brüdern gerochen wie er das Böse des Vergewaltigers?

So musste es wohl sein. Zum ersten Mal konnte er verstehen, warum die Kreatur ihn verschont hatte. Sie hatte erkannt, dass Reuben nicht Teil des Bösen war, das Marchent das Leben genommen hatte. Sie konnte die Aura des Bösen von dem der Unschuld unterscheiden.

Aber hatte sie auch gewollt, dass ihre Kraft auf ihn überging?

Etwas von ihrem Speichel war in Reubens Blutbahn gelangt, wie ein Virus, hatte seinen Weg vielleicht in sein Hirn gefunden, bis in die Zirbeldrüse hinein, jenes erbsengroße Organ, das … was steuerte? Die Hormonproduktion?

Herrgott, er wusste es einfach nicht, konnte nur mutmaßen. Zum ersten Mal im Leben hatte er das Bedürfnis, mit Grace über solche Fragen zu sprechen, aber gerade jetzt war es nicht möglich. Keine Chance! Sie durfte nichts von alldem wissen! Sie durfte es nie erfahren. Überhaupt durfte niemand, der so wissenschaftsbesessen war wie sie, es je erfahren.

Sie hatte schon viel zu viele Tests durchgeführt.

Niemand durfte je erfahren, was mit ihm geschehen war.

Er konnte sich lebhaft daran erinnern, wie er in Mendocino auf die Trage geschnallt wurde und die Ärzte anschrie: «Sagen Sie mir, was passiert ist!» Doch das war falsch gewesen. Niemand durfte es wissen, weil es niemanden gab, bei dem er sicher sein konnte, dass er das Wesen, zu dem er geworden war, nicht einsperren würde. Trotzdem musste er noch viel mehr darüber in Erfahrung bringen, was genau passiert war, zum Beispiel ob und wann und wie es sich wiederholen würde. Aber das ging nur ihn etwas an.

Und noch etwas: Da oben im Redwoodwald Nordkaliforniens gab es eine Kreatur wie ihn, halb Mensch, halb Tier, die für das verantwortlich war, was mit ihm geschehen war. Doch was, wenn es nicht halb und halb, sondern mehr Tier als Mensch war, während in Reuben Reste von Menschlichkeit erhalten geblieben waren?

Ein beängstigender Gedanke.

Er stellte sich vor, wie diese Kreatur durch Marchents dunkles Haus geschlichen war, die Brüder mit seinen Reißzähnen und Klauen vernichtet und sich dann Reuben gepackt hatte, um mit ihm dasselbe zu tun. Bis sie von etwas gestoppt worden war. Sie hatte erkannt, dass Reuben unschuldig war. Deswegen hatte sie von ihm abgelassen.

Aber hatte sie auch gewusst, was danach mit ihm passieren würde?

Wieder erschreckte ihn sein eigenes Spiegelbild und frischte die Erinnerung auf.

Seine Haut hatte einen besonderen Glanz angenommen, fast so, als hätte er sich mit Öl eingerieben. Auch seine Wangen, sein Kinn und die Stirn glänzten.

Kein Wunder, dass alle ihn angestarrt hatten.

Dabei hatten sie keinen Schimmer, was wirklich mit ihm los war. Wie könnten sie auch? Er selbst wusste ja nichts Genaues, sondern reimte sich alles bloß mühsam zusammen. Es gab so viel, was er noch herausfinden musste, so viel …

Es klopfte an der Tür, und jemand drehte den Türknauf. Reuben hörte Phil nach ihm rufen.

Er zog seinen Bademantel über und öffnete die Tür.

«Reuben, mein Sohn, es ist zwei Uhr nachmittags. Der Observer telefoniert seit Stunden hinter dir her.»

«Ich weiß, Dad. Tut mir leid», sagte er. «Ich fahre gleich los, wenn ich geduscht habe.»

Der Observer. Das war der letzte Ort, an dem er jetzt sein wollte. Verdammt! Er schloss sich im Bad ein und ließ das heiße Wasser laufen.

Es gab so viel, was er jetzt gern tun würde, so viel, worüber er nachdenken wollte. Aber er wusste, dass es wichtig war, zur Arbeit zu gehen. Statt um sich selbst zu kreisen, ohne weiterzukommen, sollte er tun, was Billie Kale von ihm erwartete. Seine Mutter. Sein Vater.

Dennoch hatte er sich noch nie so sehr danach gesehnt, allein zu sein, nachzudenken, Antworten zu suchen und das Rätsel zu lüften, das ihn umgab.