31
Schon am nächsten Morgen war die Geschichte in allen Medien. Nicht so sehr, weil der Wolfsmensch die Frechheit besessen hatte, so weit nördlich wie Santa Rosa zuzuschlagen und vier Killer zerfleischt hatte, sondern weil der Überlebende eigene Schlagzeilen produzierte.
Als jugendliches Opfer eines beinahe tödlichen Überfalls sollte seine Identität geheim gehalten werden, aber um fünf Uhr morgens hatte er vom Krankenhausbett aus die Presse angerufen und verschiedenen Reportern seine Version der Ereignisse erzählt.
Er hieß Stuart McIntyre, hatte gerade mit sechzehn seinen Highschoolabschluss gemacht und ein halbes Jahr zuvor international Aufsehen erregt, als er darauf bestand, mit einem gleichgeschlechtlichen Partner zum Abschlussball seiner katholischen Schule in Santa Rosa zu gehen. Die Schule hatte das nicht nur verboten, sondern ihm auch das Recht aberkannt, als Jahrgangsbester die Abschlussrede zu halten. Daraufhin hatte sich Stuart an die Medien gewandt und allen und jedem Interviews per Telefon und E-Mail gegeben.
Es war nicht das erste Mal, dass Stuart als Aktivist der Schwulenbewegung in Erscheinung getreten war. Aber vor dem Skandal um den Abschlussball hatte er hauptsächlich als Mitglied der Theatergruppe seiner Schule Berühmtheit erlangt, weil er eine Aufführung von Cyrano de Bergerac durchsetzte, nur um darin die Hauptrolle zu spielen, was er dann auch sehr erfolgreich getan hatte.
Als Reuben sein Foto in den Nachrichten sah, erkannte er ihn sofort. Er hatte ein kantiges Gesicht, Sommersprossen auf der breiten Nase und den Wangen und einen ungebändigten Blondschopf, der an einen Heiligenschein erinnerte. Seine Augen waren blau, sein Lächeln eher ein spitzbübisches Grinsen. Er hatte ein sympathisches Gesicht, und auf manchen Fotos war er sogar ausgesprochen hübsch. Die Kameras liebten ihn.
Reuben hatte gerade beim Observer angefangen, als Stuart in der näheren Umgebung zu bescheidenem Ruhm kam. Das Thema hatte ihn nicht sonderlich interessiert, aber er fand es amüsant, dass ein aufmüpfiger Schüler glaubte, eine katholische Schule würde ein schwules Pärchen dulden.
Stuarts Freund, ein gewisser Antonio Lopez, war derjenige, den die vier Angreifer letzte Nacht ermordet hatten. Die Killer hatten sogar angekündigt, dass sie die Leichen ihrer beiden Opfer schänden und verstümmeln würden.
Bis zum Mittag war die Geschichte die Topmeldung. Und immer noch ging es nicht in erster Linie darum, dass der «unbesiegbare» Wolfsmensch wieder eingegriffen und Stuart das Leben gerettet hatte. Viel interessanter schien zu sein, dass die treibende Kraft hinter dem Überfall auf die Homosexuellen Stuarts Stiefvater sein sollte, ein Golftrainer namens Herman Buckler. Darüber hinaus waren zwei der Killer Cousins von Antonio, dem toten Jungen, und jemand aus seiner Familie hatte den Medien die Information zugespielt, Stuarts Stiefvater habe seine Neffen zu dem Überfall angestachelt, weil der seinen schwulen Stiefsohn loswerden wollte. Stuart bestätigte das, indem er der Presse erzählte, die Angreifer selber hätten ihm das gesagt.
Und da war noch mehr Medienwirksames. Stuarts platinblonde Mutter, Buffy Longstreet, hatte als Teenager in einer kurzlebigen Sitcom mitgespielt, und Stuarts leiblicher Vater, ein IT-Genie, hatte vor dem Firmensterben in Silicon Valley ein Vermögen gemacht und war während einer Traumreise ins Amazonasbecken in Salvador de Bahia an einer Infektion gestorben. Sein Tod hatte Stuart reich gemacht, und auch seine Mutter war gut versorgt. Dem neuen Partner seiner Mutter, seinem Stiefvater, sei es aber nicht nur um Stuarts Geld gegangen, vielmehr habe er Stuart aus ganzem Herzen gehasst. Der Mann stritt jedoch alles ab und drohte Stuart eine Verleumdungsklage an.
Inzwischen studierte Stuart an der Universität von San Francisco und besaß ein Apartment in Haight-Ashbury, drei Blocks von der Universität entfernt. Tags zuvor, sagte er, sei er in Santa Rosa gewesen, um seinen Freund Antonio zu besuchen.
Offenbar wurde Stuart nicht müde, den Medienvertretern zu versichern, sein höchstes Ziel sei, Anwalt zu werden und für die Menschenrechte zu kämpfen. Radiosender landauf, landab führten Live-Interviews mit ihm, denn er war der Erste, der einen Angriff des Wolfsmenschen überlebt hatte und die Medien nicht scheute, seit Susan Larson mit Reuben in den Räumen des San Francisco Observer gesprochen hatte.
Reuben war noch dabei, sich einen Überblick über die Berichterstattung zu verschaffen, als zwei Polizisten aus Mendocino kamen, um mit ihm noch einmal über den Wolfsmenschen zu sprechen und ihn zu fragen, ob er sich in der Zwischenzeit doch noch an Einzelheiten der Schreckensnacht, in der Marchent umgekommen war, erinnert habe.
Das Gespräch war kurz, denn Reuben sagte, leider könne er sich an nichts erinnern, was er nicht schon gesagt habe. Darauf drückten die Polizisten ihre Wut und ihr Bedauern darüber aus, dass nicht genügend Anstrengungen unternommen würden, diesem Wolfsmenschen das Handwerk zu legen.
Fünf Minuten nachdem sie wieder gegangen waren, bekam Reuben einen Anruf von Stuart auf dem Handy.
«Sie wissen, wer ich bin», sagte eine aufgekratzte Stimme. «Hören Sie, ich habe gerade mit Ihrer Herausgeberin, dieser Billie Kale, gesprochen. Ich habe Ihren Artikel über diese Frau gelesen, die den Wolfsmenschen als Erste gesehen hat. Ich muss unbedingt mit Ihnen reden. Wenn Sie Interesse haben, kommen Sie bitte nach Santa Rosa. Die wollen mich noch nicht so bald entlassen. Wenn Sie kein Interesse haben, sagen Sie es bitte gleich, denn dann wende ich mich an jemand anders. Verstanden? Also, was ist nun, ja oder nein? Soll ich Ihre Herausgeberin gleich wieder anrufen? Die glaubt nämlich …»
«Ist ja schon gut, Stuart. Wo genau finde ich dich?»
«O Gott! Ich dachte, ich hätte Ihren Anrufbeantworter erwischt. Sie sind es persönlich? Cool! Ich bin im St. Mark’s Hospital in Santa Rosa. Aber beeilen Sie sich, die wollen mich nämlich von der Öffentlichkeit abschotten.»
Als Reuben das Krankenhaus erreichte, hatte Stuart Fieber bekommen und durfte keinen Besuch mehr empfangen. Reuben beschloss zu warten, auch wenn es Tage dauern sollte. Doch schon um zwei Uhr ließ man ihn vor. In der Zwischenzeit hatte er Grace zwei SMS geschrieben und sie gebeten, sich mit den Ärzten von Santa Rosa in Verbindung zu setzen und ihnen mitzuteilen, wie man ihn selbst behandelt hatte. Er begründete seine Bitte damit, dass man ja nicht wissen könne, ob der Junge von dem Wolfsmenschen vielleicht gebissen worden sei.
Grace zögerte und schrieb zurück: «Es ist doch gar nicht die Rede davon, dass der Junge gebissen wurde.»
Aber er war gebissen worden.
Als Reuben das Krankenzimmer betrat, hatte man Stuart einen Kissenberg in den Rücken gestopft und ihn an zwei Tröpfe gehängt. Gesicht, linker Arm und linke Hand waren frisch verbunden. Möglicherweise verbarg die Bettdecke weitere Verbände. Alles in allem aber erholte sich Stuart «überraschend» schnell. Er trank einen Schoko-Milchshake und grinste Reuben frech an. Seine Sommersprossen und die lachenden Augen erinnerten Reuben an Tom Sawyer.
«Er hat mich gebissen!» Stuart hob den linken Arm und brachte die Schläuche der Infusion zum Schaukeln. «Bestimmt werde ich jetzt selber zum Werwolf.» Er lachte laut und konnte gar nicht wieder aufhören.
Schmerzmittel, dachte Reuben.
Stuarts Mutter, Buffy Longstreet, eine mädchenhafte Blondine mit den gleichen Sommersprossen auf der allerdings plastisch korrigierten Nase, saß mit verschränkten Armen in der Ecke und blickte mit einer Mischung aus Faszination und Entsetzen zu ihrem Sohn hinüber.
«Eins muss ich diesem Typen lassen», plapperte Stuart drauflos. «Wenn er ein Kostüm trägt, woran natürlich niemand zweifelt, der alle Tassen im Schrank hat, ist es nicht zu toppen. Ich meine, Sie können sich kein Kostüm vorstellen, das echter wirkt! Aber der Typ muss auf Angel Dust sein, es gibt nämlich keine andere Droge, die jemandem derartig viel Kraft gibt. Sie können sich nicht vorstellen, wie dieser Typ losgestürmt ist! Aber andererseits … Vielleicht handelt es sich ja um eine unbekannte Tierart. Glaub ich aber nicht. Soll ich Ihnen sagen, was ich glaube?»
«Was denn?», fragte Reuben, obwohl ihm längst klar war, dass es sich hier um die Sorte Interview handelte, bei der ein Reporter nichts zu fragen brauchte.
«Passen Sie auf», sagte Stuart und zeigte mit dem Daumen auf die eigene Brust. «Meine Theorie ist folgende: Ich glaube, dass es ein ganz normaler Typ ist, also ein Mensch, dem aber was Schreckliches zugestoßen ist. Vergessen Sie den Werwolf-Scheiß! Das ist doch Schnee von gestern und führt zu nichts – außer höchstens Motiven auf Kaffeebechern und T-Shirts. Nein, dieser Typ hat irgendeine Krankheit oder Behinderung, so was wie Akromega- … also wenn jemand unnatürlich groß ist. Dadurch ist er zu einem Monster mutiert. Wissen Sie, mein Vater ist an den Amazonas gereist, das war immer sein größter Traum, aber da hat er sich irgendwas eingefangen, das ihm die Bauchspeicheldrüse und die Nieren zerfressen hat. Daran ist er dann nach nur einer einzigen Woche in einem Krankenhaus in Brasilien gestorben.»
«Oh, das tut mir leid», murmelte Reuben.
«Wie? Ach so, ja. Jedenfalls glaube ich, dass mit diesem … was immer es ist, so was Ähnliches passiert ist. Das Fell, die übergroßen Knochen …»
«Was für übergroße Knochen?», fragte Reuben.
«Der Typ hat riesige Hände und Füße, einen riesigen knochigen Schädel und so weiter. Es gibt Krankheiten, die so ein unnormales Wachstum auslösen. Nur dass dieser Typ eben noch mit diesen zotteligen Haaren bedeckt ist. Er muss so einsam sein wie das Phantom der Oper oder der Elefantenmensch … wie eine Missgeburt, die auf dem Jahrmarkt ausgestellt wird … oder wie Claude Rains in Der Unsichtbare. Jedenfalls ist er vollkommen durchgeknallt. Aber eins sage ich Ihnen: Dieser Typ hat Gefühle! Richtig intensive Gefühle. Sie hätten sehen sollen, wie er dastand und Antonio ansah! Er konnte einfach nicht aufhören, ihn anzustarren. Und dann hat er die Hand ausgestreckt, so ungefähr … uuups! Jetzt hätte ich fast die Schläuche rausgerissen.»
«Keine Sorge, es ist ja nichts passiert.»
«Jedenfalls hat er die Hände an den Kopf gelegt, als er Antonio tot daliegen sah, und dann …»
«Hör auf, Stuart!», schrie seine Mutter und rutschte ungeduldig auf ihrem Stuhl herum. «Du musst das alles vergessen!»
«Halt dich da raus, Mom. Ich spreche mit einem Reporter. Das ist ein Interview. Wenn er nicht wissen wollte, was passiert ist mit Antonio und so, dann wäre er gar nicht erst gekommen. Hol mir lieber noch einen Milchshake, okay?»
«Herrgott noch mal!», sagte seine Mutter, dann stöckelte sie aus dem Zimmer. Sie wusste, wie gut sie gebaut war.
«Jetzt können wir Klartext reden», sagte Stuart. «Diese Frau geht mir auf die Nerven. Mein Stiefvater schlägt sie grün und blau, und dann lässt sie ihren Frust an mir aus. Als ob ich was dafürkönnte, wenn er in ihrem Kleiderschrank mit einem Teppichmesser wütet.»
«Woran kannst du dich sonst noch erinnern?», fragte Reuben. «Ich meine von dem Überfall.» Er konnte sich nicht vorstellen, dass dieser lebhafte Junge an dem Chrisam oder sonst etwas sterben würde.
«Wie gesagt, er war unwahrscheinlich stark», sagte Stuart. «Die Angreifer haben auf ihn eingestochen, das hab ich genau gesehen. Voll brutal haben sie auf ihn eingestochen, aber er hat nicht mal gezuckt, sondern sie einfach in Stücke gerissen. Und dann … So was haben Sie noch nicht gesehen, echt, Mann! Das war Kannibalismus!» Stuart schüttelte den Kopf und sah aus dem Fenster, als werde er von Erinnerungen überwältigt. Dann sah er Reuben wieder an und sagte: «Die wollen nicht, dass ich mit der Presse rede, aber davon lass ich mich nicht abhalten. Ich kenne meine verfassungsmäßigen Rechte. Die können mir nicht verbieten, mit der Presse zu reden.»
«Richtig. Was wolltest du mir noch erzählen?»
Plötzlich sah Stuart wie ein Sechsjähriger aus. Tränen schossen ihm in die Augen, und er begann zu weinen.
«Es tut mir wirklich leid, dass dein Freund tot ist», sagte Reuben.
Doch der Junge war untröstlich.
Reuben nahm ihn in den Arm und stand eine ganze Weile so an seinem Bett, bis Stuart sagte: «Wissen Sie, was mir am meisten Angst macht?»
«Was denn?»
«Früher oder später schnappen die den Wolfsmenschen und tun ihm was Schreckliches an, schießen mit Maschinengewehren auf ihn oder erschlagen ihn wie ein Robbenbaby. Keine Ahnung. Auf jeden Fall tun sie ihm furchtbar weh. Für sie ist er kein Mensch, sondern ein wildes Tier. Wahrscheinlich pumpen sie ihn mit Blei voll, wie Bonnie und Clyde, und dann wird man nie erfahren, was der Typ sich dabei gedacht hat oder wer er eigentlich war.»
«Tut deine Hand noch weh?»
«Nein. Aber ich würde auch nichts merken, wenn sie in Flammen stünde. Die haben mir so viele Pillen gegeben …»
«Das kenne ich. Wolltest du mir noch was sagen?»
Die nächste halbe Stunde sprachen sie über Antonio und wie sehr seine Cousins ihn dafür gehasst hatten, dass er schwul war. Stuart hassten sie, weil sie ihn dafür verantwortlich machten, dass er Antonio «umgedreht» hatte. Sie sprachen auch über Stuarts Stiefvater, Herman Buckler, der die Männer dafür bezahlt hatte, Stuart und Antonio zu entführen, zu töten und ihre Leichen zu verstümmeln. Sie sprachen über Santa Rosa, Stuarts Schule und wie toll es sein musste, ein berühmter Strafverteidiger zu sein, wie Clarence Darrow, Stuarts großes Vorbild. Später würde Stuart für die Rechte von Minderheiten, Benachteiligten und Geächteten kämpfen.
Wieder begann Stuart zu weinen. «Das müssen die Medikamente sein», sagte er und rollte sich zusammen wie ein Baby.
Seine Mutter kam mit dem Milchshake zurück.
«Wenn du den auch noch trinkst, wird dir schlecht», sagte sie und knallte den Becher auf den Nachttisch.
Als die Krankenschwester kam, stellte sie fest, dass Stuart wieder Fieber hatte, und sagte, Reuben müsse jetzt gehen. Sie bestätigte, dass man Stuart auf Tollwut behandelte und ihm einen Mix von Antibiotika gab, um ihn vor allem zu schützen, womit dieses Wolfswesen ihn eventuell angesteckt hatte. Aber Reuben müsse jetzt wirklich gehen.
«Das Wolfswesen», wiederholte Stuart. «Klingt gut.» Dann fragte er Reuben: «Kommen Sie noch mal wieder, oder meinen Sie, dass Sie für Ihre Story schon alles haben, was Sie brauchen?»
«Ich komme morgen wieder, um zu sehen, wie’s dir geht», sagte Reuben. Er gab Stuart seine Karte und schrieb seine Adresse in Mendocino auf die Rückseite.
Auf dem Weg nach draußen hinterließ er eine weitere Visitenkarte im Schwesternzimmer und bat darum, informiert zu werden, wenn sich Stuarts Zustand verändern sollte. Der Gedanke, dass er sterben könnte, war ihm unerträglich.
Vor dem Fahrstuhl fing er die behandelnde Ärztin ab, Dr. Angie Cutler, und bat sie, sich mit Grace in San Francisco in Verbindung zu setzen. Er versuchte, taktvoll zu sein und die Fähigkeiten der Ärztin nicht in Frage zu stellen, aber inzwischen war er davon überzeugt, dass er nur dank seiner Mutter überlebt hatte. Dr. Cutler war aufgeschlossener, als er erwartet hatte. Sie war jünger als Grace, hatte aber schon von ihr gehört und schätzte sie. Auch ihr gab Reuben eine Visitenkarte. «Sie können mich jederzeit anrufen», sagte er und murmelte etwas davon, dass er das auch schon alles durchgemacht habe.
«Ich weiß», sagte Dr. Cutler und lächelte freundlich. «Ich bin froh, dass Sie den Jungen besucht haben. Er platzt vor Mitteilungsbedürfnis und weiß nicht, wohin mit sich. Aber er erholt sich erstaunlich schnell. Es grenzt an ein Wunder. Sie hätten die Verletzungen sehen sollen, mit denen er eingeliefert wurde.»
Im Fahrstuhl rief Reuben Grace an und drängte sie noch einmal, sich mit der Ärztin in Verbindung zu setzen, weil der Junge tatsächlich gebissen worden sei.
«Reuben, wenn ich dieser Frau erzähle, was ich an dir alles beobachtet habe, erklärt sie mich für verrückt.»
«Ich weiß, Mom. Aber vielleicht kannst du für die Behandlung des Jungen irgendein Detail beisteuern, auf das sonst niemand gekommen wäre.»
«Wie stellst du dir das vor, Reuben? Ich kann die Frau doch nicht einfach anrufen! Der einzige Mensch, der sich je für deine Symptome und ihre Behandlung interessiert hat, ist Dr. Jaska, und der hat dir ja offenbar gar nicht gefallen.»
«Ich weiß, Mom. Aber es geht doch nur darum, wie medizinisch mit dem Biss umgegangen wird.»
Der Fahrstuhl hielt im Erdgeschoss, und Reuben verließ das Krankenhaus. Ihm war kalt bis in die Knochen, als er zu seinem Wagen ging. Es regnete wieder, aber das war nicht der Grund für sein Frieren.
«Es tut mir leid, dass ich nicht geblieben bin, um mich mit diesem Dr. Jaska zu unterhalten, Mom. Ich weiß, dass du es gern gesehen hättest. Wenn es dir so wichtig ist, kann ich mich ja bald mal mit ihm treffen.»
Wäre ich länger geblieben, wäre ich zu spät durch Santa Rosa gekommen, um Stuart McIntyre noch zu retten.
Grace schwieg so lange, dass Reuben schon fürchtete, die Verbindung sei unterbrochen. Doch dann sprach sie weiter, wenn auch mit gänzlich veränderter Stimme.
«Warum bist du nach Mendocino gegangen, Reuben? Willst du mir nicht sagen, was wirklich mit dir los ist?»
Was sollte er darauf antworten?
«Mom, bitte nicht jetzt! Ich war den ganzen Tag unterwegs. Bitte ruf diese Ärztin an und sag ihr, wie du mich behandelt hast, als ich …»
«Hör zu, Reuben! Morgen ist die letzte Tollwutimpfung fällig. Das ist dir doch klar, oder?»
«Nein, das hatte ich völlig vergessen.»
«Ich habe dir jeden Tag auf deine Mailbox gesprochen. Morgen sind es genau vier Wochen, und du musst diese letzte Dosis unbedingt bekommen. Hat diese hübsche junge Frau, diese Laura, eigentlich auch ein Telefon? Und geht sie im Gegensatz zu dir ran, wenn’s klingelt? Oder kann ich ihr wenigstens Nachrichten für dich hinterlassen?»
«Ich schwöre Besserung, Mom!»
«Dann pass jetzt auf! Eigentlich wollten wir eine Krankenschwester zu dir raufschicken, um dir die letzte Injektion zu geben, aber wenn du willst, rufe ich diese Ärztin in Santa Rosa an und bitte sie, die Impfung morgen vorzunehmen, wenn du den Jungen wieder besuchst. Bei der Gelegenheit kann ich sie in ein Gespräch verwickeln, und wenn ich das Gefühl habe, dass sie bei der Behandlung des Jungen etwas übersieht … Nun, wir werden sehen.»
«Super, Mom! Du bist die Beste! Aber, sag mal, ist es wirklich erst vier Wochen her?»
Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Hatte sich sein Leben tatsächlich in nur vier Wochen so grundlegend verändert?
«Ja, Reuben. Vor vier Wochen verschwand mein geliebter Sohn, Reuben Golding, und du hast seinen Platz eingenommen.»
«Mom, ich liebe dich. Eines Tages werde ich all deine Fragen beantworten und unsere Probleme lösen.»
Grace lachte. «Na, das klingt ja schon wieder nach meinem Baby!»
Sie beendeten das Gespräch.
Reuben stand vor seinem Wagen, als er plötzlich eine Vision hatte. Er sah, wie er mit seiner Mutter vor dem Kamin in der Diele von Kap Nideck saß und ihr alles erzählte. Es war ein sehr vertrautes Gespräch, und sie war vollkommen einverstanden mit allem, was er ihr zu sagen hatte, steuerte Fachwissen und ihre unvergleichliche Intuition bei.
In der Welt, die er sich vorstellte, gab es keinen Dr. Akim Jaska und auch sonst niemanden. Nur ihn und Grace. Grace wusste und verstand alles. Sie half ihm zu begreifen, was mit ihm geschah, und würde ihn nicht im Stich lassen.
Aber das war reine Phantasie, genauso gut könnte er sich vorstellen, dass sein Bett nachts von Engeln bewacht war, mit Flügeln, so groß, dass sie bis an die Deckenbalken reichten.
Als er sich dieses Mutter-Sohn-Gespräch genauer vorzustellen versuchte, nahm es eine Wendung, die ihm Angst machte. Etwas Bösartiges schlich sich in Grace’ Blick, und ein Schatten legte sich auf ihr Gesicht.
Ein kalter Schauer durchfuhr ihn.
Nein, so würde es nicht sein.
Was er durchmachte, musste geheim bleiben. Außer Laura durfte nur Felix Nideck etwas davon erfahren, niemand sonst. Abgesehen vielleicht von diesem putzmunteren Jungen mit den Sommersprossen und dem frechen Grinsen, der da oben im Krankenbett lag und sich auf so wundersame Art erholte.
Reuben wollte so schnell wie möglich nach Hause, zu Laura, nach Kap Nideck. Noch nie hatte er das Haus so sehr als Zufluchtsstätte empfunden wie jetzt.
Als er ankam, bereitete Laura gerade einen großen Salat zu. Reuben sah ihr an, dass es ihr schlechtging und sie sich Sorgen machte. Ein Baguette, das sie im Ofen aufgebacken hatte, war gerade fertig. Sie setzten sich an den Esstisch und aßen schweigend, und nur das Mineralwasser in ihren Kristallgläsern sprudelte.
«Geht’s dir jetzt etwas besser?», fragte Reuben, nachdem er den größten Salat gegessen hatte, der ihm je vorgesetzt worden war.
Laura nickte. Sie hatte nur kleine Bissen zu sich genommen und zwischendurch immer wieder ihre frischpolierte silberne Gabel betrachtet.
Reuben blickte nachdenklich zum Eichenwald hinüber.
«Stimmt irgendwas nicht?», fragte Laura.
«Nichts stimmt mehr», sagte Reuben. «Ich mag es gar nicht zugeben, aber ich habe den Überblick verloren, wie viele Menschen ich schon getötet habe. Vielleicht sollte ich es mir aufschreiben. Auch wie viele Nächte ich als Wolfsmensch unterwegs war, sollte ich aufschreiben. Überhaupt sollte ich ein Tagebuch anlegen, in dem ich meine Beobachtungen festhalte.»
Seltsame Gedanken machten sich in ihm breit. Er wusste, dass er so nicht weitermachen konnte. Was, wenn er in ein anderes Land ginge, ein gesetzloses Land, wo man das Böse überall in Berg und Tal jagen konnte? Ein Land, wo es niemanden interessierte, wie viele Menschen er tötete und wie oft er des Nachts auf die Jagd ging. Er dachte an große, unübersichtliche Städte wie Kairo, Bangkok und Bogotá, an Länder mit endlosen Wäldern und unberührter Natur.
Nach einer Weile sagte er: «Dieser Junge, Stuart … Ich glaube, er schafft es. Zumindest wird er nicht sterben. Was sonst mit ihm passiert, weiß ich nicht. Ich wünschte, ich könnte mit Felix sprechen. Andererseits knüpfe ich an dieses Gespräch wohl zu viele Hoffnungen.»
«Er kommt ja irgendwann zurück», sagte Laura.
«Ich möchte heute Nacht hierbleiben, im Haus. Ich will mich nicht verwandeln. Oder anders: Wenn es das nächste Mal passiert, möchte ich im Wald allein sein, so wie damals in den Muir Woods, als wir uns kennengelernt haben.»
«Verstehe», sagte Laura. «Du hast Angst, dass du sonst nicht kontrollieren kannst, was du dann tust. Du fürchtest, dass du dich nicht ruhig verhalten und einfach hier im Haus bleiben kannst, wenn es passiert.»
«Ich habe es ja noch nicht mal versucht», sagte Reuben. «Das ist eine Schande. Ich sollte mir wirklich mehr Mühe geben. Außerdem muss ich morgen nach Santa Rosa zurück.»
Es begann dunkel zu werden. Tiefblaue Schatten breiteten sich aus und verschluckten den Wald. Wieder begann es zu regnen.
Nach einer Weile ging Reuben in die Bibliothek und rief das Krankenhaus in Santa Rosa an. Eine Krankenschwester sagte, Stuart habe hohes Fieber, sei aber ansprechbar.
Grace schickte eine SMS, dass die letzte Tollwutimpfung mit Dr. Cutler vereinbart sei, morgen um zehn.
Inzwischen war es Nacht geworden.
Reuben betrachtete das Foto der vornehmen Gentlemen über dem Kamin. Waren alle Kreaturen wie er? Trafen sie sich, um gemeinsam zu jagen und ihre Geheimnisse auszutauschen? Oder war Felix der Einzige?
Ich glaube, Felix wurde verraten.
Aber wie? Hatte Abel Nideck es auf Felix’ Besitz abgesehen, vielleicht sogar Geld für Felix’ Beseitigung bekommen, ohne seiner gutgläubigen Tochter Marchent etwas davon zu sagen?
Vergeblich suchte Reuben im Internet nach dem heutigen Felix Nideck. Vielleicht hatte er in Paris eine neue Identität angenommen, von der hier niemand etwas wusste.
In den Spätnachrichten hieß es, Stuarts Stiefvater sei auf Kaution freigelassen worden. Wortkarge Polizisten mussten vor den versammelten Reportern zugeben, dass er auch weiterhin unter Beobachtung bleibe, aber nicht als Tatverdächtiger gelte. Stuarts Mutter plärrte in die Kameras, ihr Mann sei unschuldig.
In der Zwischenzeit hatten sich «Augenzeugen» gemeldet, die den Wolfsmenschen in Walnut Creek, Sacramento und Los Angeles gesehen haben wollten. Eine Frau aus Fresno behauptete, sie habe ihn sogar fotografiert. Ein Pärchen aus San Diego berichtete, der Wolfsmensch habe sie davor gerettet, von einer Bande überfallen zu werden, aber leider hätten sie keinen der Beteiligten gut erkennen können. Auch in der Nähe von Lake Tahoe sollte der Wolfsmensch aufgetaucht sein.
Der Generalstaatsanwalt von Kalifornien hatte eine Task Force zur Verfolgung des Wolfsmenschen zusammengestellt, und eine Gruppe von Wissenschaftlern war mit forensischen Untersuchungen beauftragt worden.
Die Allgegenwart des Wolfsmenschen, hieß es, bedeute aber nicht, dass weniger Verbrechen begangen würden. Das stritten die Behörden entschieden ab. Die Polizei hingegen behauptete das Gegenteil, nämlich dass die Straßen Nordkaliforniens dieser Tage ungewöhnlich sicher seien.
«Schließlich könnte er überall sein», sagte ein Polizist aus Mill Valley.
Reuben ging zum Computer und schrieb seinen Artikel über Stuart McIntyre für den Observer. Dabei konzentrierte er sich auf die lebhaften Schilderungen des Jungen. Er erwähnte auch dessen Theorie über eine mysteriöse Krankheit des Monsters, und wie schon früher schloss er mit sehr persönlichen Bemerkungen über moralische Fragen, die der Wolfsmensch aufwarf. Dass dieses Wesen sich anmaßte, Richter und Vollstrecker in einem zu sein, sei etwas, wofür ihn die Gesellschaft nicht als Superhelden feiern dürfe.
Seine gewaltsamen Übergriffe, seine ungezügelte Brutalität können nicht hingenommen werden. Er steht gegen alles, was uns heilig ist, deswegen ist er nicht unser Freund, sondern unser Feind. Dass er wieder ein unschuldiges Opfer vor dem fast sicheren Tod gerettet hat, ist im Grunde nur Zufall. Dafür können wir ihm genauso wenig dankbar sein, wie wir für ein Erdbeben oder einen Vulkanausbruch dankbar sind, nur weil hinterher Rettungsmaßnahmen ergriffen werden. Spekulationen über seinen Charakter, seine Absichten und Motive sind nicht mehr und nicht weniger als das – nämlich reine Spekulationen. Beschränken wir uns also darauf, froh zu sein, dass Stuart McIntyre lebt und in Sicherheit ist.
Es war kein besonders origineller oder durchdachter Artikel, aber Reuben fand, dass er der Situation angemessen war. Das Interessanteste daran war die Schilderung von Stuarts Persönlichkeit – ein allem Anschein nach mit allen Wassern gewaschener, sommersprossiger schwuler Teenager, der fast noch im Kindesalter als Cyrano de Bergerac geglänzt hatte und nun, kaum dass er einen beinahe tödlichen Überfall überlebt hatte, der Presse vom Krankenbett aus freimütige Interviews gab. Den «Biss» hatte Reuben nur beiläufig erwähnt, genau wie Stuart, als er Reuben alles erzählt hatte. Auch in der öffentlichen Wahrnehmung spielte dieser Biss kaum eine Rolle.
Reuben und Laura gingen zu Bett, schmiegten sich aneinander und sahen sich einen französischen Film an, Cocteaus Die Schöne und die Bestie. Bald fielen Reuben die Augen zu. Es irritierte ihn, dass die Bestie mit der Schönen fließend Französisch sprach. Außerdem trug sie Samt und Seide, und ihre Augen glitzerten befremdlich. Die Schöne hingegen erinnerte ihn an Laura.
Er träumte, dass er in Wolfsgestalt durch endlose Graslandschaften lief, mühelos und schnell. Hinter der Ebene lag ein Wald, ein endloser dunkler Wald voller Städte. Ihre Glastürme reichten bis zu den höchsten Douglastannen und Mammutbäumen. Efeu umrankte Gebäude, die von hohen Eichen gesäumt wurden, und die Schornsteine auf ihren Spitzdächern rauchten. Die ganze Welt war ein einziger Wald mit Häusern und Türmen. Das Paradies. Immer höher kletterte er in die Bäume.
Er wollte aufwachen und Laura von dem Traum erzählen, aber er wusste, dass der Traum dann enden würde, und das wollte er nicht. Als es in seinem Traum Nacht wurde, erstrahlten die Türme in gleißendem Licht, das den ganzen Wald erhellte.
«Das Paradies», flüsterte er und öffnete die Augen.
Laura stützte sich auf den Ellenbogen und beobachtete ihn. Das fahle Licht des Fernsehers fiel auf ihr Gesicht, ihre feuchten Lippen.
Begehrte sie ihn auch in seiner jetzigen Gestalt? Einen ganz gewöhnlichen jungen Mann, dessen Hände nicht mehr Kraft hatten als die seiner Mutter?
Tatsächlich begehrte sie ihn auch jetzt. Sie begann ihn leidenschaftlich zu küssen, seine Brustwarzen zu streicheln, und ihr plötzliches Verlangen erschreckte ihn. Sie bearbeitete seine Haut, wie er ihre bearbeitet hatte. Zärtlich kratzte sie ihm mit den Fingernägeln übers Gesicht, fuhr mit den Fingern über seine Zähne und kniff ihm in die Lippen. Ihr Gewicht fühlte sich gut an, das Kitzeln ihrer lang herunterhängenden Haare. Nackte Haut auf nackter Haut. Die feuchte Stelle zwischen ihren Beinen. Sein Fleisch. Ja! Ich liebe dich, Laura.
Bei Sonnenaufgang wachte er auf.
Es war die erste Nacht seit seiner ersten Transformation, in der er sich nicht verwandelt hatte. Einerseits fühlte er sich erleichtert, aber er war unruhig und hatte das Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben. Hatte man ihn irgendwo vergeblich erwartet? Hatte er an etwas Verrat begangen, das jetzt Teil von ihm war? War das schlechte Gewissen, das sich in ihm regte, wirklich seins?