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In den nächsten zwei Stunden verlor Reuben in der Notaufnahme in Mendocino immer wieder das Bewusstsein. Dann wurde er mit einem Rettungshubschrauber ins San Francisco General geflogen, wo Dr. Grace Golding und ihr Mann Phil ihn schon erwarteten.

Er wehrte sich gegen die Riemen, mit denen er an die Trage geschnallt war. Der Schmerz und die Medikamente machten ihn ganz verrückt.

«Sie wollen mir nicht sagen, was passiert ist», beklagte er sich bei seiner Mutter, die sofort verlangte, dass die Polizei ihm Auskunft erteilen sollte.

Das Problem sei, so die Polizei, dass er von den Medikamenten zu benommen sei, um ihre Fragen zu beantworten, und momentan hätten sie mehr Fragen an ihn als er an sie. Eins könnten sie jedoch bestätigen: Marchent Nideck sei tot.

Erst als Celeste sich ans Telefon hängte und mit den Behörden in Mendocino sprach, wurden die Dinge klarer.

Jemand hatte mindestens sechzehnmal auf Marchent eingestochen, und zehn dieser Wunden waren potenziell tödlich. Sie sei innerhalb weniger Minuten gestorben, vielleicht sogar Sekunden. Sollte sie gelitten haben, dann nur ganz kurz.

Zum ersten Mal seit dem Kampf schloss Reuben die Augen aus freiem Willen und schlief ein.

Als er wieder aufwachte, stand ein Polizist in Zivil an seinem Bett und stellte ihm eine Menge Fragen. Zu benommen, um deutlich sprechen zu können, sagte Reuben: Ja, er habe «intimen Kontakt» mit der Verstorbenen gehabt. Nein, er habe nichts gegen einen DNA-Test. Ihm war ohnehin klar, dass die Autopsie es ans Licht bringen würde.

Er schilderte die Ereignisse, so gut seine Erinnerung es zuließ. Nein, er habe die Polizei nicht gerufen. Sein Telefon sei ihm aus der Hand gefallen, bevor er einen Anruf machen konnte, und er habe es nicht wiedergefunden. Wenn der Notruf jedoch von seinem Telefon gekommen sei, müsse er sich wohl irren.

(«Mord! Mord!» Das soll er immer wieder geschrien haben? Es klang gar nicht nach ihm.)

Celeste fand, dass er nicht weitersprechen solle. Er brauche einen Anwalt. Noch nie hatte Reuben sie so besorgt gesehen, so sehr den Tränen nahe.

«Nein, Unsinn», sagte Reuben. «Ich brauche keinen Anwalt.»

«Du hast eine Gehirnerschütterung», sagte Grace. «Deswegen kannst du dich nicht richtig erinnern. Es ist ein Wunder, dass du überhaupt noch so viel weißt.»

«‹Mord! Mord!› Das soll ich gesagt haben?»

Er wusste genau, dass er versucht hatte, sein Telefon wiederzufinden, und war sich sicher, dass er es nicht geschafft hatte.

Obwohl er von den Schmerzmitteln ziemlich benommen war, konnte er seiner Mutter ansehen, wie erschüttert sie war. Wie gewohnt trug sie ihren grünen Chirurgenanzug, die roten Haare hatte sie mit Haarklammern gebändigt, ihre blauen Augen waren rot gerändert, und sie sah müde aus. Wenn sie ihn anfasste, spürte er, dass ihre Hände zitterten, obwohl sie sich nichts anmerken zu lassen versuchte.

Als er vierundzwanzig Stunden darauf in ein normales Krankenzimmer verlegt wurde, brachte Celeste ihm die Nachricht, Marchent sei von ihren eigenen Brüdern umgebracht worden.

Tatsächlich waren sie mit einem gestohlenen Wagen zu dem Haus an den Klippen rausgefahren, hatten sich mit Perücken, Skimasken und Handschuhen vermummt und die Stromleitung zum Haus gekappt – nicht ohne zuvor die alte Hausangestellte im Dienstbotenflügel in ihrem Bett zu erschlagen. Um es wie das Werk eines x-beliebigen Einbrechers aussehen zu lassen, hatten sie die Fenster des Esszimmers eingeschlagen, obwohl die Hintertür des Hauses unverschlossen gewesen war.

Marchent hatten sie in der Küche angetroffen, gleich neben dem Arbeitszimmer. Eine kleine Waffe, auf der sich nur Marchents Fingerabdrücke befanden, war neben ihrer Leiche gefunden worden, aber daraus war kein Schuss abgegeben worden.

Welches Tier die Brüder getötet hatte, blieb vorläufig unklar, denn es konnten keine Spuren auf dem Anwesen gefunden werden. Seine Bisse hatten die Brüder auf der Stelle getötet, aber bislang konnte man nicht sagen, von was für einem Tier sie stammten.

Die Leute aus der Umgebung glaubten, dass es sich um Berglöwen handelte, die dort schon länger ihr Unwesen trieben.

Reuben sagte dazu nichts, obwohl er immer wieder die Geräusche hörte, die dieses Tier von sich gegeben hatte, und seine Pfote auf dem Rücken zu spüren glaubte. Dann durchfuhr ihn jedes Mal ein furchtbarer Schreck, und er fühlte sich wieder so hilflos wie im Moment des Angriffs und akzeptierte, dass er sterben würde.

«Dieses Gerede macht mich noch ganz verrückt», ereiferte sich Grace. «Einmal stammt der Speichel des Tiers von einem Hund, dann wieder von einem Wolf. Neuerdings wird nicht mal ausgeschlossen, dass die Bissspuren von einem Menschen stammen könnten. Irgendwas scheint in diesem Labor in Mendocino gründlich schiefzugehen, aber niemand will es zugeben. Tatsache ist, dass deine Wunden nicht richtig untersucht wurden. Völlig ausgeschlossen, dass sie von einem Menschen stammen. Und von einem Berglöwen stammen sie auch nicht. So etwas Absurdes!»

«Aber warum hat dieses Tier von mir abgelassen?», fragte Reuben. «Warum hat es mich nicht genauso getötet wie die anderen?»

«Wenn es die Tollwut hat, wäre ein sprunghaftes Verhalten normal», erklärte Grace. «Auch Bären können die Tollwut bekommen, Berglöwen allerdings nicht. Vielleicht wurde das Tier auch abgelenkt. Wir wissen es einfach nicht. Aber es spielt ja auch keine Rolle. Hauptsache, du lebst.» Dann sagte sie noch etwas davon, dass am Tatort keine Haare und kein Fell gefunden worden waren. «Dabei hätten da doch irgendwelche tierischen Spuren sein müssen!»

Reuben glaubte wieder den keuchenden Atem des Tiers zu hören, und ihm wurde bewusst, dass es überhaupt nicht nach Tier gerochen hatte. Trotzdem hatte er ein Tier gespürt, das dichte Fell eines Hundes oder Wolfs, direkt an seiner Haut.

Grace war dankbar, dass die Rettungssanitäter Reubens Wunden an Ort und Stelle versorgt hatten, aber sie fand, dass wenigstens die Wunden der Getöteten darauf hätten untersucht werden müssen, ob das Tier die Tollwut hatte.

«Sie hatten es mit einem Massaker zu tun, Grace», sagte Celeste beschwichtigend. «Da hatten sie andere Sorgen, als irgendwelche Tollwuttests durchzuführen.»

«Trotzdem müssen wir auf Nummer sicher gehen», erwiderte Grace. «Ich fange gleich mit einer Tollwuttherapie an.» Dann erklärte sie Reuben, die Behandlung sei nicht mehr annähernd so schmerzhaft wie früher, allerdings werde er nun achtundzwanzig Tage lang Spritzen bekommen. Sobald erste Symptome auftauchten, verlaufe die Tollwut fast immer tödlich. Deswegen hätten sie keine Wahl, als unverzüglich Gegenmaßnahmen einzuleiten.

Reuben war es einerlei. Genau wie der bohrende Schmerz in seinen Eingeweiden, die Kopfschmerzen und die stechenden Gesichtsverletzungen. Auch das Schwindelgefühl, das von den Antibiotika verursacht wurde, war ihm egal. Das Einzige, was ihn bewegte, war die Tatsache, dass Marchent tot war.

Er schloss die Augen, sah Marchent vor sich und hörte ihre Stimme.

Er konnte nicht fassen, wie schnell sie aus dem Leben geschieden war und dass er den Angriff überlebt hatte.

Erst am nächsten Tag durfte er sich die Nachrichten im Fernsehen anschauen. Das Unglück im Nideck-Haus war Stadtgespräch in ganz Mendocino. Viele glaubten, dass Wölfe dahintersteckten, denn Wolfsattacken gab es in dieser Gegend alle paar Jahre. Aber auch über Bären wurde geredet, denn dass es dort welche gab, war unbestritten. Menschen, die in der Nähe des Hauses wohnten, schworen allerdings auf einen Berglöwen, dem sie schon seit einem Jahr auf der Spur waren.

Tatsache war, dass niemand das Tier finden konnte, egal welcher Art es sein mochte, obwohl der ganze Redwoodwald durchkämmt worden war, nachdem einige Leute behauptet hatten, sie hätten dort nachts ein merkwürdiges Geheul gehört.

Geheul. Reuben konnte sich lebhaft an das furchterregende Geräusch erinnern, mit dem sich das Tier auf die Brüder gestürzt hatte. Es schien nicht töten zu können, ohne solche Geräusche zu machen. Sie waren Teil seiner todbringenden Kraft.

Mehr Medizin. Mehr Schmerzmittel. Mehr Antibiotika. Reuben wusste nicht, wie lange er schon im Krankenhaus lag.

Eines Tages sagte Grace, wahrscheinlich sei gar keine plastische Chirurgie nötig, um Reubens Gesicht wiederherzustellen. «Diese Bisswunde verheilt ganz erstaunlich, und auch deine Bauchdecke heilt sehr gut.»

«Als Kind ist er vernünftig ernährt worden», sagte Celeste. «Seine Mutter ist eine brillante Ärztin.» Dabei zwinkerte sie Grace zu, und Reuben freute sich, dass die beiden Frauen sich so gut verstanden.

«Ganz richtig», sagte Grace. «Und kochen kann sie auch. Trotzdem verläuft dieser Heilungsprozess erstaunlich gut.» Zärtlich fuhr sie mit den Fingern durch Reubens Haar, streichelte seinen Hals und seine Brust.

«Was glaubst du, woran das liegt?», fragte Reuben leise.

«Keine Ahnung», sagte Grace nachdenklich. «Jedenfalls brauchst du keine Vitaminspritzen mehr.»

Reubens Vater saß in einer Ecke des Krankenzimmers und las Grashalme von Walt Whitman. Ab und an sagte er etwas wie: «Du lebst, Sohn, das ist das Wichtigste.»

Obwohl alles andere gut heilte, nahmen Reubens Kopfschmerzen zu. Er konnte nie richtig schlafen, sondern fiel lediglich in einen leichten Schlummer, und dann hörte er die Gespräche der anderen unfreiwillig mit, ohne sie zu verstehen.

Grace, wie sie zu jemandem – vielleicht einem anderen Arzt – sagte: «Er verändert sich. Nein, nein, mit dem Tollwutvirus hat es nichts zu tun. Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass er damit überhaupt infiziert war. Trotzdem sehe ich die Veränderungen. Es klingt verrückt, aber sein Haar wird dicker. Und seine Augen …»

Am liebsten hätte Reuben sie gefragt: Wovon redest du? Aber er konnte es nur denken, und dann mischte sich dieser Gedanke mit anderen, die ihn nicht zur Ruhe kommen ließen.

Die Medikamente, die er bekam, konnten sein Bewusstsein nicht ausschalten, sondern dämpften nur alles. Sie konnten auch nicht verhindern, dass die Erinnerung immer wieder brutal in ihm hochkam und ihn aufwühlte, bis er nicht mehr auseinanderhalten konnte, was Realität oder Einbildung war. Manchmal schreckte er von Geräuschen auf, und selbst Gerüche konnten ihn aus dem leichten Schlaf reißen.

Jim kam ihn mehrmals am Tag besuchen, immer in Eile, weil er etwas Dringendes für seine Gemeinde zu erledigen hatte, und auch er versicherte Reuben, dass seine Genesung gute Fortschritte mache. Dennoch sah Reuben im Gesicht seines Bruders etwas, das ihm neu war: eine große Furcht. Jim hatte seinen kleinen Bruder immer beschützt und war stets um ihn besorgt gewesen, aber die Sorgen, die er sich jetzt zu machen schien, saßen tiefer. «Gemessen an dem, was du hinter dir hast», sagte er einmal, «machst du einen überraschend fitten Eindruck. Schon deine Gesichtsfarbe … Du bist nicht annähernd so blass, wie man erwarten könnte.»

Celeste übernahm so viel von der anfallenden Krankenpflege, wie Reuben zuließ. Sie gab ihm mit einem Strohhalm zu trinken, schüttelte seine Kissen auf, wischte ihm das verschwitzte Gesicht ab und half ihm aus dem Bett, wenn er seinen verordneten Spaziergang durch die Station machen sollte. Zwischendurch ging sie oft aus dem Zimmer, um mit ihren Kollegen von der Staatsanwaltschaft zu telefonieren, und wenn sie zurückkam, versicherte sie ihm, es gebe nichts, worüber er sich Sorgen machen müsse. Sie war tüchtig, sachlich und unermüdlich.

«Die Schwestern haben dich zum bestaussehenden Patienten gewählt», sagte sie einmal zu ihm. «Ich habe keine Ahnung, was sie dir hier geben, aber ich könnte schwören, dass deine Augen ein dunkleres Blau haben als früher.»

«Unmöglich», erwiderte Reuben. «Bei Erwachsenen ändert sich die Augenfarbe nicht mehr.»

«Doch», widersprach Celeste. «Bestimmte Medikamente können diese Wirkung haben.»

Die Spekulationen über das rätselhafte Tier hielten weiter an. Bei einem Besuch an Reubens Krankenbett fragte seine Herausgeberin, Billie Kale, der kluge Kopf des San Francisco Observer, ob Reuben sich denn wirklich nicht an Einzelheiten erinnern könne.

«Nein, wirklich nicht», antwortete Reuben und kämpfte gegen die betäubende Wirkung der Medikamente an.

«Aber du bist dir sicher, dass es kein Berglöwe war?»

«Billie, ich habe dir doch gesagt, dass ich nichts sehen konnte.»

Billie war eine kleine, untersetzte Frau mit gepflegtem weißem Haar, die sich exquisit und teuer kleidete. Nach vielen Jahren Zugehörigkeit zum Senat von Kalifornien hatte sich ihr Mann zur Ruhe gesetzt und finanzierte nun die Zeitung, um Billie in fortgeschrittenem Alter eine sinnvolle Tätigkeit zu ermöglichen. Sie war eine großartige Herausgeberin, die Wert darauf legte, dass jeder Reporter einen individuellen Stil pflegte. Wer eine eigene, unverwechselbare Stimme hatte, wurde von ihr unterstützt, und sie hatte Reuben von Anfang an gemocht.

«Ich habe kein Tier gesehen», sagte er. «Nur gehört. Und es klang wie ein großer Hund. Ich habe keine Ahnung, warum es mich nicht getötet hat. Auch nicht, warum es überhaupt ins Haus gekommen ist.»

Und das war doch die eigentliche Frage. Warum war das Tier ins Haus eingedrungen?

«Nun ja, diese Junkies, die beiden Brüder, haben die halbe Fensterfront des Esszimmers herausgerissen», sagte Billie. «Du musst dir mal die Fotos ansehen. Unfassbar … die eigene Schwester zu töten! Und dann die alte Frau, die hinten im Haus geschlafen hat … Entsetzlich! Wenn du wieder gesund bist, musst du darüber schreiben. Ich finde übrigens, du siehst gar nicht mehr krank aus. Welche Medikamente geben sie dir eigentlich?»

«Keine Ahnung.»

«Ist ja auch egal. Wir sehen uns, wenn du so weit bist.» Damit wandte sie sich so abrupt zum Gehen, wie sie gekommen war.

Als Reuben einmal mit Celeste allein war, beichtete er ihr die Sache mit Marchent. Dass sie es bereits wusste, überraschte ihn nicht. Aber auch alle möglichen Zeitungen hatten offenbar darüber berichtet. Das haute Reuben fast um, und Celeste merkte es.

«Es ist nicht so schlimm», sagte sie. «Vergiss es einfach.» Sie tröstete ihn, als sei er derjenige, der hintergangen worden war.

Zum wiederholten Mal lehnte er ihren Rat ab, sich rechtlichen Beistand zu holen. Wozu sollte er den brauchen? Seine Angreifer waren tot, und damit war die Sache erledigt.

Damit hatte er beinahe recht.

Fünf Tage nach dem Mord – er lag noch im Krankenhaus, seine Wunden waren fast verheilt, aber die Antibiotika, die ihm prophylaktisch verabreicht wurden, verursachten starke Übelkeit – erfuhr er, dass Marchent ihm das Haus vermacht hatte.

Etwa eine Stunde vor ihrem Tod hatte sie mit ihren Anwälten in San Francisco telefoniert und ihnen die entsprechenden Dokumente unterschrieben zugefaxt. Eins davon hatte Felice als Zeugin gegengezeichnet. Darin bestätigte sie die telefonische Verfügung, das Haus solle künftig Reuben Golding gehören. Marchent wollte sogar selbst die fälligen Schenkungs- und Grundstückssteuern übernehmen, um Reuben die Formalitäten und Kosten zu ersparen. Auch alle Versicherungen hatte sie für ein Jahr im Voraus bezahlt.

Außerdem hatte sie dafür gesorgt, dass ihren Brüdern die Summe ausgezahlt würde, die ihnen bei einem Verkauf des Hauses zugestanden hätte.

Die Dokumente fanden sich alle auf ihrem Schreibtisch, zusammen mit einer Liste «für Reuben», auf der sie Lieferanten, Handwerker und andere Leute verzeichnet hatte, die sich in der Vergangenheit um das Haus gekümmert hatten.

Ihr letzter Anruf hatte einem Freund in Buenos Aires gegolten, dem sie gesagt hatte, dass sie früher als erwartet zurückkehren werde.

Siebeneinhalb Minuten nach diesem Telefonat war in der regionalen Notrufzentrale der Hilferuf «Mord! Mord!» eingegangen.

Reuben war völlig perplex.

Grace ließ sich ganz entsetzt in den Stuhl neben seinem Bett fallen, als sie von der Sache hörte, und sagte: «Was für ein Klotz am Bein! Wie willst du dieses Haus je wieder loswerden?»

Celeste sagte unsicher: «Irgendwie hat es aber auch was Romantisches.»

Der unerwartete Besitzerwechsel beschäftigte auch die Strafverfolgungsbehörden, und es wurden eine Menge Fragen gestellt. Reubens Familie schaltete ihre Anwälte ein.

Das bedeutete aber nicht, dass irgendein Verdacht auf Reuben fiel. Er hatte eine weiße Weste und war bislang nicht einmal wegen Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung aufgefallen. Seine Eltern waren international anerkannte Kapazitäten. Außerdem wäre er beinahe umgekommen. Der Messerstich in den Bauch hatte nur knapp lebenswichtige Organe verfehlt, sein Hals war grün und blau, er hatte eine Gehirnerschütterung, und der Tierbiss hätte ihm beinahe eine Halsvene durchtrennt.

Celeste versicherte ihm, die Staatsanwaltschaft sei sich darüber einig, dass sich kein Mensch solche Verletzungen selbst beibringen konnte. Außerdem hatten die Brüder ein Motiv, und zwei ihrer Bekannten hatten ausgesagt, dass die Brüder von einem derartigen Vorhaben gesprochen hatten, allerdings hätte man es für Angeberei gehalten und nicht gedacht, dass sie es wirklich tun würden.

Reubens Anwesenheit in dem Haus zur Tatzeit hatte einen nachvollziehbaren Grund. Seine Herausgeberin selbst hatte ihn auf diese Story angesetzt, und es gab keinerlei Spuren, die darauf hindeuteten, dass sein Kontakt mit Marchent nicht einvernehmlicher Natur war.

Stunde um Stunde verbrachte er in seinem Krankenbett damit, Fakten wie diese durchzugehen. Wann immer er zu schlafen versuchte, merkte er, dass seine Gedanken in einer teuflischen Endlosschleife gefangen waren. Immer und immer wieder rannte er in Gedanken die Treppe hinunter, um Marchent zu retten. Wusste sie, dass die Angreifer ihre Brüder waren? Hatte sie sie trotz ihrer Verkleidung erkannt?

Wenn er einschlummerte, wachte er kurz darauf wie gehetzt auf, und alles tat ihm weh, weil er sich so furchtbar angestrengt hatte, Marchent zu retten. Dann spürte er auch wieder die eigenen Verletzungen im Gesicht, am Hals und am Bauch und klingelte nach einer Schwester, um nach mehr Schmerzmitteln zu verlangen. Wenn er dann wieder einschlief, ging der Albtraum von vorne los.

Und dann gab es da diese Stimmen und Geräusche, die ihn immer wieder aufweckten. In einem anderen Zimmer weinte jemand. Eine Frau schrie ihre Tochter an: «Lass mich sterben! Lass mich bitte, bitte sterben!»

Er hätte schwören können, dass mit den Belüftungsschächten dieses Krankenhauses etwas nicht stimmte. Wie sonst sollte er Menschen hören, die sich in anderen Stockwerken oder gar auf der Straße befanden? Überall waren diese Stimmen, und er verstand jedes Wort.

«Das sind die Medikamente», sagte seine Mutter. «Du musst Geduld haben.» Trotzdem änderte sie die Dosierung der Spritzen, die sie ihm selbst verabreichte, und dann sagte sie plötzlich: «Ich möchte noch ein paar zusätzliche Tests durchführen.»

«Wozu?»

«Auch wenn es verrückt klingt, mein Junge, aber ich könnte schwören, dass deine Augen dunkler werden.»

«Bitte, Mutter!», sagte Reuben spöttisch. «Wer hat hier die Drogen bekommen?» Dass Celeste das auch schon gesagt hatte, erwähnte er nicht, sondern dachte: Vielleicht sehe ich nun endlich seriöser und respektabler aus.

Seine Mutter sah ihn an, als hätte er nichts gesagt. «Es ist wirklich erstaunlich, was für ein zäher, kerngesunder Bursche du bist, Reuben.»

Das sagten alle.

Sein bester Freund aus Berkeley, Mort Keller, kam ihn zweimal besuchen, und Reuben wusste es umso mehr zu schätzen, als Mort gerade in Englisch promovierte und kurz vor der mündlichen Prüfung stand. Er selbst hatte immer noch ein schlechtes Gewissen wegen seines abgebrochenen Studiums.

«Du siehst besser aus denn je», sagte Mort. Er hatte Ringe unter den Augen, und seine Kleidung war verknittert.

Andere Freunde meldeten sich telefonisch oder per SMS, alte Schulkameraden und Kollegen von der Zeitung. Aber Reuben hatte keine Lust zu reden. Trotzdem freute er sich über die Anteilnahme. Seine Cousins aus Hillsborough wollten vorbeikommen, aber er sagte, er dürfe nicht so viel Besuch empfangen. Grace’ Bruder, der in Rio de Janeiro arbeitete, schickte ein Paket Kekse, das für die ganze Station ausreichte. Phils Schwester, die in einem Altersheim in Pasadena lebte, war so krank und schwach, dass man ihr nichts von Reubens Missgeschick erzählt hatte.

Celeste störte es nicht, dass er mit Marchent geschlafen hatte, und fuhr sogar die Ermittlungsbeamten an: «Sie wollen doch wohl nicht behaupten, er hätte sie vergewaltigt und gezwungen, ihm ein Fünf-Millionen-Anwesen zu vermachen? Hätte sie sich dann in aller Seelenruhe eine Stunde lang mit ihrem Anwalt darüber unterhalten? Das ist doch lächerlich! Muss ich denn sogar noch der Polizei auf die Sprünge helfen? Denken Sie gefälligst nach, bevor Sie haltlose Fragen stellen!»

Gegenüber den Medien äußerte sie sich ähnlich. Reuben sah sie manchmal im Fernsehen, wenn sie die Reporter mit Gegenfragen bombardierte. In ihrem schlichten schwarzen Kostüm mit Rüschenbluse und zerzausten braunen Locken sah sie einfach hinreißend aus. Auch die ehrliche Empörung stand ihr gut.

Eines Tages wird sie eine berühmte Anwältin sein, dachte er.

Sobald er wieder Essen bei sich behalten konnte, brachte sie ihm Minestrone aus North Beach mit. Sie trug das Rubinarmband, das er ihr geschenkt hatte, und ihr Lippenstift hatte die gleiche Farbe. Seit er im Krankenhaus lag, machte sie sich besonders hübsch, und er registrierte es.

«Das mit Marchent tut mir wirklich leid», sagte er.

«Meinst du etwa, ich verstehe das nicht? Eine romantische Küste, ein romantisches Haus, eine romantische ältere Frau. Mach dir keine Gedanken!»

«Vielleicht solltest lieber du in den Journalismus gehen», murmelte er.

«Ha! Da ist es ja wieder, das Sonnyboylächeln! Ich dachte schon, du hättest es verlernt.» Zärtlich streichelte sie ihm über den Hals. «Alles komplett verheilt. Es ist ein Wunder!»

Reuben wollte sie auf die Wange küssen, doch dann schlummerte er ein.

Er roch das Essen, und ein anderer Duft mischte sich darunter, ein Parfüm. Es war die Marke seiner Mutter. Und dann waren da all die anderen chemischen Gerüche, typisch Krankenhaus. Als er die Augen aufschlug, nahm er nur noch die chemischen Gerüche wahr, die hier seit Jahren in den Wänden hingen. Jeder einzelne war klar zu identifizieren und hatte eine ganz eigene Note. Es war, als entzifferte er einen Code.

Irgendwo in der Ferne redete die sterbende Frau immer noch auf ihre Tochter ein: «Schalte die Apparate ab! Ich bitte dich!» Und die Tochter erwiderte: «Aber Mommy, es gibt gar keine Apparate!» Dann weinte sie.

Als die Krankenschwester das nächste Mal hereinkam, erkundigte er sich nach Mutter und Tochter. Er wollte es nicht zugeben, aber er hatte das merkwürdige Gefühl, dass die Mutter in Wahrheit etwas von ihm wollte.

«Auf dieser Station liegt keine solche Patientin, Mr. Golding», versicherte ihm die Schwester. «Es sind wohl die Medikamente, die Ihnen diese Stimmen vorgaukeln.»

«Welche Medikamente geben Sie mir eigentlich genau? Letzte Nacht dachte ich, ich hätte eine Kneipenschlägerei gehört.»

Als er das nächste Mal aufwachte, stand er am Fenster. Wie er dahin gekommen war, wusste er nicht. Ohne es zu merken, hatte er sich die Kanüle aus dem Arm gerissen. Sein Vater saß an seinem Krankenbett und döste. Celeste stand etwas abseits mit dem Rücken zu Reuben und sprach aufgeregt in ihr Handy.

«Wie bin ich hierhergekommen?»

Eine merkwürdige Unruhe machte sich in ihm breit. Er wollte gehen, laufen, nicht nur den Korridor entlang mit dem Tropf im Schlepp, sondern raus aus dem Gebäude, die Straße runter, in den Wald und dann auf die Berge. Der Drang war so übermächtig, dass er es kaum noch ertragen konnte, hier eingeschlossen zu sein. Es war qualvoll. Er sah die Wälder vor sich, die Marchents Haus umgaben, mein Haus, und er dachte: Nie wieder werden wir dort zusammen spazieren gehen. Sie wird mir nichts mehr zeigen können … die Redwoodbäume, die zu den ältesten Lebewesen dieses Planeten gehören …

Dieser Wald gehörte jetzt ihm und unterstand seiner Obhut. Dieser Gedanke verlieh ihm plötzlich eine ungeheure Energie. Er setzte sich in Bewegung. Durch den Korridor, am Schwesternzimmer vorbei und die Treppe hinunter. Er trug nur das dünne Krankenhausnachthemd, das am Rücken locker zusammengeknotet war. Damit konnte er draußen keinen Abendspaziergang machen. Trotzdem war es ein gutes Gefühl, Treppen zu laufen, von einem Stockwerk ins andere zu gehen.

Dann blieb er abrupt stehen. Stimmen. Überall waren sie und redeten auf ihn ein, aber so leise, dass er nicht verstehen konnte, was sie sagten. Aber sie waren da, wie Wellen, die das Wasser kräuselten, oder ein Windhauch, der in die Bäume fuhr und die Blätter rascheln ließ. In der Ferne schrie jemand um Hilfe. Reuben drückte sich die Hände auf die Ohren, aber das änderte nichts an seiner Wahrnehmung. Ein Junge schrie. Die Stimmen kamen nicht aus dem Krankenhaus. Aber von wo? Barfuß ging er durch die Lobby auf den Ausgang zu, als zwei Pfleger ihn aufhielten.

«Ich weiß nicht, wie ich hierherkomme», sagte er, und es war ihm furchtbar peinlich. Aber die Pfleger waren freundlich und machten ihm keine Vorhaltungen, als sie ihn auf seine Station zurückbrachten.

«Rufen Sie meine Mutter nicht an», bat er. Celeste und Phil warteten ja auf ihn.

«Hat man dir Ausgang gegeben?», fragte sein Vater.

«Ich bin so ruhelos, Dad, ich wollte mich einfach mal bewegen. Ich weiß auch nicht, was ich mir dabei gedacht habe.»

Am nächsten Morgen hörte er im Halbschlaf, wie seine Mutter über die jüngsten Testergebnisse sprach. «Das ergibt doch keinen Sinn», sagte sie. «Plötzlich soll er wieder Wachstumshormone gebildet haben? Ein erwachsener Mann? Und dann all das Kalzium in seinem Blut und diese Enzyme! Nein, ich weiß, dass es nicht die Tollwut ist, natürlich nicht, aber ich frage mich, ob dem Labor nicht ein Fehler unterlaufen ist. Ich möchte, dass alles noch einmal durchgetestet wird.»

Reuben schlug die Augen auf. Das Zimmer war leer. Stille. Er stand auf, duschte, rasierte sich und betrachtete seine Bauchwunde. Die Narbe war kaum noch zu erkennen.

Weitere Tests ergaben, dass von seiner jüngst erlittenen Gehirnerschütterung nicht die geringsten Spuren zurückgeblieben waren.

«Ich möchte nach Hause, Mom.»

«Noch nicht, mein Baby.»

Es stand noch ein Test aus, der Aufschluss darüber geben sollte, ob sich irgendwo in seinem Körper eine Infektion nachweisen ließe. Zu dem Zweck musste er eine Dreiviertelstunde lang vollkommen still liegen.

Als er diese Prozedur überstanden hatte, kam Grace mit zwei Labortechnikern herein. «Ich fasse es nicht! Sie haben alle Proben verloren?» Sie kochte vor Wut. «Ich erwarte, dass Ihnen keine weiteren Pannen unterlaufen! Zusätzliche DNA-Analysen kommen nicht in Frage! Falls Sie auch die vermurkst haben, ist das Ihr Problem! Ein Test dieser Art sollte reichen!»

«Vermurkst?», fragte Reuben.

«Das haben sie selbst zugegeben. Die medizinischen Labors in Nordkalifornien stecken in einer skandalösen Krise.» Grace verschränkte die Arme vor der Brust und sah zu, wie die zwei sich erneut daranmachten, Reuben Blut abzunehmen, und Röhrchen um Röhrchen damit füllten.

Gegen Ende der Woche war seine Genesung so weit fortgeschritten, dass Grace die Welt nicht mehr verstand. Den größten Teil des Tages ging er spazieren oder saß irgendwo und las, was die Zeitungen über das Massaker, Familie Nideck und das rätselhafte Tier schrieben. Dann verlangte er nach seinem Laptop. Sein Telefon war noch von der Polizei beschlagnahmt, deshalb bat er um ein neues.

Sein erster Anruf galt seiner Chefin, Billie Kale. «Es gefällt mir nicht, Gegenstand all dieser Geschichten zu sein», sagte er. «Ich will selbst darüber berichten.»

«Darauf warten wir schon die ganze Zeit, Reuben. Maile mir deinen Artikel, wenn er fertig ist. Wir haben einen Deal.»

Seine Mutter überbrachte ihm die Mitteilung, das Krankenhaus sei bereit, ihn auf eigene Verantwortung zu entlassen. «Mein Gott, wie du aussiehst, mein Baby! Du musst dir dringend die Haare schneiden lassen!»

Ein Arzt, mit dem Grace befreundet war, schaute vorbei, und sie unterhielten sich im Flur. «Ob du’s glaubst oder nicht: Die Laborergebnisse stimmten hinten und vorne nicht, und das meiste ging sowieso verloren.»

Langes Haar? Reuben stand auf, um sich im Spiegel zu betrachten. Hmmm. Sein Haar war tatsächlich dichter und länger geworden.

Zum ersten Mal dachte er wieder an jenen mysteriösen Margon und sein schulterlanges Haar. Margon, der Gottlose, inmitten der anderen feinen Herren auf dem Foto über dem Kamin in der Bibliothek. Vielleicht, überlegte er, sollte er sein Haar von jetzt an wie dieser Margon tragen. Eine Zeitlang jedenfalls.

Unwillkürlich musste er lachen.

Als er nach Russian Hill zurückkehrte, setzte er sich sofort an den Schreibtisch. Noch während die Krankenschwester, die für ihn angeheuert worden war, bei ihm Puls und Temperatur maß, fuhr er seinen Laptop hoch.

Es war früher Nachmittag, acht Tage nach dem Massaker, und einer dieser schönen klaren Tage, an denen die San Francisco Bay wie ein blauer Juwel leuchtete und die Stadt trotz der vielen gläsernen Türme ganz weiß aussah. Er ging auf den Balkon, genoss die kühle Brise und atmete tief ein, obwohl er sich früher nicht viel aus dem typischen Küstenwind gemacht hatte.

Es war wunderbar, wieder im eigenen Zimmer zu sein, mit dem eigenen Kamin und dem eigenen Schreibtisch.

Er schrieb fünf Stunden lang.

Als er die Taste drückte, um den Artikel an Billie abzuschicken, war er mit seiner minutiösen Schilderung der Ereignisse zufrieden. Aber er wusste, dass die Medikamente seine Erinnerung trübten und dass dieser Text nicht den Schwung hatte, der seine Texte sonst auszeichnete. «Kürze, wenn du meinst, es ist nötig», hatte er für Billie dazugeschrieben. Sie würde schon wissen, was zu tun war. Auch für sie war es ja eine merkwürdige Situation, dass sich «einer der vielversprechendsten Reporter des Observer», wie es immer hieß, nun selbst in den Schlagzeilen anderer Zeitungen wiederfand.

Am nächsten Morgen wachte er mit einem drängenden Gedanken auf und rief sofort seinen Anwalt, Simon Oliver, an. «Es geht um das Nideck-Anwesen», sagte er. «Genauer gesagt um die persönlichen Hinterlassenschaften und Unterlagen von Felix Nideck. Ich möchte sie kaufen.»

Simon riet ihm, nichts zu überstürzen und einen Schritt nach dem anderen zu machen. Noch nie zuvor habe Reuben sein Kapital angerührt. Großvater Spangler (Grace’ Vater) sei doch erst vor fünf Jahren gestorben, und was hätte er wohl davon gehalten, wenn sein Vermögen gleich ausgegeben würde? Reuben unterbrach den Anwalt und sagte, er wolle alles erwerben, was Felix Nideck gehört hatte, es sei denn, Marchent hätte andere Verfügungen getroffen. Dann legte er abrupt auf.

So kenne ich mich gar nicht, dachte er. Direkt unhöflich war er nicht gewesen, nur sehr bestimmt.

Am Nachmittag, als sein Artikel in Druck gegangen war, döste er vor sich hin und beobachtete, wie der Nebel vom Meer hereinkam und langsam die Bucht einhüllte. Das Telefon klingelte, und Oliver sagte, die Anwälte, die den Nachlass Felix Nidecks verwalteten, seien sehr aufgeschlossen. Marchent Nideck habe ihnen gesagt, dass sie nicht wisse, was mit den persönlichen Hinterlassenschaften ihres Onkels geschehen solle, und so spräche nichts dagegen, sie an Reuben zu veräußern. Ob er tatsächlich alles erwerben wolle, was sich im Haupthaus und den Nebengebäuden befinde?

«Alles», sagte Reuben. «Möbel, Bücher, Aufzeichnungen, einfach alles.»

Er schloss die Augen und weinte, als er an Marchent dachte. Die Krankenschwester kam, um nach ihm zu sehen, aber als sie ihn in diesem Zustand vorfand, wollte sie nicht stören und zog sich wieder zurück. «Marchent», flüsterte er. «Wunderschöne Marchent.»

Später bat er die Schwester, ihm eine starke, frische Rinderbrühe zu besorgen.

«Ich koche sie lieber selbst», sagte die Schwester. «Ich fahre nur schnell die Zutaten kaufen, die ich dafür brauche.»

«Großartig», sagte Reuben und war angezogen, bevor ihr Wagen um die Ecke bog. Ohne dass Phil etwas merkte, schlich er aus der Haustür.

Er ging den Russian Hill hinunter, Richtung Bucht, und genoss den Wind und die Bewegung.

Er schien mehr Kraft in den Beinen zu haben als je zuvor. Dabei hätten sie nach so vielen Tagen im Krankenhausbett doch geschwächt sein müssen. Stattdessen rannte er fast.

Als er North Beach erreichte, war es schon fast dunkel. Er passierte Restaurants und Bars, betrachtete die Menschen und hatte plötzlich das Gefühl, anders zu sein. Ihm war, als könnte er sie sehen, sie ihn aber nicht. Natürlich sahen sie ihn, das wusste er, und trotzdem hatte er das Gefühl, nicht wirklich gesehen zu werden. Das war völlig neu für ihn.

Bis jetzt war ihm wichtig gewesen, wie andere Menschen ihn sahen. Oder anders: Es war ihm nie ganz geheuer gewesen, von anderen angesehen und beurteilt zu werden. Jetzt aber war es ihm völlig egal. Er fühlte sich unsichtbar. Frei.

Er betrat eine schummrige Bar, setzte sich auf einen Hocker am Ende des Tresens und bestellte sich eine Cola light. Zum ersten Mal im Leben war ihm egal, was der Barkeeper dabei von ihm dachte.

Er trank, und das Koffein stieg ihm zu Kopf.

Er drehte sich zum Fenster und beobachtete die Passanten.

Ein Mann betrat die Bar. Er war groß und kräftig und hatte eine zerfurchte Stirn. Ein paar Barhocker entfernt nahm er Platz. Er trug eine dunkle, durchgescheuerte Lederjacke und zwei große silberne Ringe an der rechten Hand. Er hatte etwas Grobschlächtiges und beugte sich ungelenk über den Tresen. Auch die Art, wie er sich ein Bier bestellte, war unkultiviert. Er strahlte etwas Böswilliges, vielleicht sogar Gewalttätiges aus.

Plötzlich drehte er sich zu Reuben um und fragte: «Was gibt’s zu glotzen?»

Reuben betrachtete ihn gelassen und fühlte sich in keiner Weise verpflichtet, ihm zu antworten, sondern sah ihn einfach weiter an.

Wütend stand der Mann auf und verließ die Bar.

Reuben sah ihm nach. Er begriff, dass er den Mann verärgert hatte und dass er sich in eine Situation manövriert hatte, die er sonst stets vermieden hatte. Nie wäre es ihm früher in den Sinn gekommen, einen starken Kerl gegen sich aufzubringen. Jetzt war es ihm vollkommen egal. Stattdessen versuchte er sich klarzumachen, was er in dem Mann gesehen hatte: Er trug eine Schuld mit sich herum, eine große Schuld. Fast hatte er ein schlechtes Gewissen, dass er überhaupt noch am Leben war.

Reuben verließ die Bar.

Überall in der Stadt brannten jetzt die Lichter. Es war stockdunkel. Der Verkehr hatte zugenommen, und auch mehr Leute waren unterwegs. Es herrschte gelöste Feierabendstimmung, und überall waren nur fröhliche Gesichter zu sehen.

Plötzlich hörte er wieder Stimmen. Stimmen von weit her.

Wie angewurzelt blieb er stehen und horchte. Irgendwo kämpften gerade eine Frau und ein Mann miteinander. Die Frau war ebenso wütend wie verängstigt. Der Mann drohte ihr, und sie begann zu schreien.

Reuben war wie gelähmt. Seine Muskeln verkrampften sich. Was er hörte, traf ihn bis ins Mark, aber er wusste nicht, was er tun sollte. Erst nach einer Weile wurde ihm bewusst, dass jemand neben ihm stand. Es war der unangenehme Mann aus der Bar.

«Immer noch auf Ärger aus?», schnarrte er. «Schwuchtel!» Er legte Reuben die flache Hand auf die Brust und wollte ihn wegstoßen, aber Reuben bewegte sich keinen Millimeter. Stattdessen schoss seine rechte Faust in die Höhe und traf den Mann unter der Nase. Er flog über den Bürgersteig und landete unsanft am Straßenrand.

Andere Passanten erschraken, flüsterten miteinander und zeigten auf Reuben.

Der Mann war eher erstaunt als wütend. Reuben beobachtete ihn. Die Hand an der blutigen Nase stand er langsam auf und machte, dass er wegkam, ohne auf den vorbeirauschenden Verkehr zu achten. Dann war er verschwunden.

Reuben sah auf seine Hand. Gott sei Dank kein Blut. Trotzdem hatte er das Bedürfnis, die Hand zu waschen. Er trat an die Fahrbahn, winkte einem Taxi und fuhr nach Hause.

Was hatte das alles zu bedeuten? Einmal war er von zwei Junkies angegriffen worden, die ihn beinahe umgebracht hätten. Und jetzt war es ihm ein Leichtes, sich gegen einen großen, schweren Mann zu verteidigen, der ihn noch vor zwei Wochen restlos eingeschüchtert hätte. Er war kein Feigling, besaß aber genügend gesunden Menschenverstand, um sich nicht auf einen Kampf mit jemandem einzulassen, der in Streitlaune und fünfzig Pfund schwerer war. Solchen Leuten ging man aus dem Weg, und zwar schnell.

Das schien er jetzt aber nicht mehr nötig zu haben.

Er wusste, dass es etwas zu bedeuten hatte, aber er wollte nicht wissen, was. Es war ein wunderbares Gefühl, und er wollte es einfach nur genießen.

Grace empfing ihn nahezu hysterisch, als er nach Hause kam. Wo war er gewesen?

«Einfach nur draußen, Mom. Wo soll ich denn sonst gewesen sein?» Er setzte sich gleich wieder an seinen Computer. «Ich habe zu arbeiten.»

«Was soll das?» Grace gestikulierte erregt. «Ein verspätetes kindliches Aufbegehren? Müssen wir uns jetzt darauf einstellen, dass du die ganze Pubertät noch mal durchläufst?»

Reubens Vater sah von seinem Buch auf und fragte: «Bist du dir sicher, mein Sohn, dass du zweihunderttausend Dollar für die persönlichen Hinterlassenschaften dieser Familie Nideck ausgeben willst? Hast du Simon Oliver tatsächlich damit beauftragt, das ganze Zeug zu erwerben?»

«Es ist ein Schnäppchen, Dad. Ich versuche nur zu tun, was Marchent gewollt hätte.»

Reuben wollte schon anfangen zu schreiben, als ihm einfiel, dass er sich noch gar nicht die Hände gewaschen hatte.

Er ging ins Badezimmer und begann sich die Hände zu schrubben. Irgendetwas stimmte nicht mit seiner Hand. Er streckte die Finger aus. Das war doch nicht möglich! Er untersuchte die andere Hand. Größer! Seine Hände waren größer als früher! Hätte er einen Ring getragen, hätte er es schon eher bemerkt.

Er ging an seine Kommode und holte ein Paar lederne Autohandschuhe heraus. Sie passten ihm nicht mehr.

Ganz ruhig stand er da und versuchte zu verstehen, was mit ihm geschah. Seine Füße taten weh, und zwar schon den ganzen Tag. Er hatte nur nicht groß darauf geachtet, weil er seinen ersten Ausflug genießen wollte. Aber nun wurde ihm klar, was mit seinen Füßen los war: Auch sie waren gewachsen. Nicht viel, aber schon deutlich. Er zog die Schuhe aus und spürte die Erleichterung.

Er ging ins Zimmer seiner Mutter. Mit verschränkten Armen stand sie am Fenster und sah ihm entgegen. Genauso habe ich immer die Leute angesehen, dachte er. Taxierend, prüfend, skeptisch. Nur dass seine Mutter nicht irgendwen auf diese Weise ansah, sondern ihn.

«Wachstumshormone», sagte er. «Die haben sie doch in meinem Blut gefunden, oder?»

Grace nickte verhalten. «Physiologisch betrachtet bist du bis etwa dreißig noch im Wachstum. Deswegen produziert dein Körper im Schlaf immer noch Wachstumshormone.»

«Also könnte ich immer noch einen Wachstumsschub bekommen?»

«Einen kleinen vielleicht.»

Reuben merkte, dass seine Mutter ihm etwas verheimlichte, und fragte: «Was gibt’s für ein Problem, Mom?»

«Ich weiß nicht, mein Baby. Ich mache mir einfach Sorgen um dich. Ich möchte doch nur, dass es dir gutgeht.»

«Aber es geht mir gut, Mom. Es ging mir nie besser.»

Zurück in seinem Zimmer legte er sich aufs Bett und schlief sofort ein.

Am nächsten Tag kam sein Bruder nach dem Abendessen auf ihn zu und bat um ein Gespräch unter vier Augen.

Sie gingen auf die Dachterrasse, aber dort war es so kalt, dass sie nach einigen Minuten ins Wohnzimmer gingen und sich vor den Kamin setzten. Es war ein kleines Zimmer, so wie alle in diesem Haus in Russian Hill, aber schön geschnitten und wohnlich eingerichtet. Reuben saß im Ledersessel seines Vaters, Jim auf der Couch. Jim trug sein «Kirchen-Outfit», wie er seine schwarze Hemdbrust und den weißen Stehkragen nannte, dazu eine schlichte schwarze Hose und ein schwarzes Jackett. Zivil trug er praktisch nie.

Er fuhr sich mit den Fingern durchs braune Haar und sah seinen Bruder an, doch Reuben war ihm schon seit Tagen fremd. Er sah die blauen Augen seines Bruders, die blasse Haut und die schmalen Lippen. Reuben war immer schon der Attraktivere von ihnen gewesen, obwohl auch Jim gut aussah.

«Ich mache mir deinetwegen Sorgen», sagte Jim.

«Nur zu verständlich», sagte Reuben.

«Unter anderem wegen der Art, wie du redest. So sorglos und direkt und … einfach seltsam.»

«Ich rede doch nicht seltsam!», widersprach Reuben und fand, dem sei nichts hinzuzufügen. Konnte Jim sich denn nicht vorstellen, was er durchgemacht hatte? Oder war er allem Weltlichen schon zu sehr entrückt? Marchent war tot, und er selbst wäre beinahe gestorben. Das war nicht gerade wenig.

«Ich hoffe, du weißt, dass wir alle zu dir stehen», sagte Jim.

«Du untertreibst», sagte Reuben.

Jim lächelte gequält.

«Verrate mir eins», sagte Reuben. «Du kommst in Tenderloin doch mit vielen Menschen zusammen, ganz ungewöhnlichen Menschen, und du nimmst ihnen die Beichte ab, seit Jahren.»

«Das stimmt», sagte Jim.

«Glaubst du an das Böse? Ich meine das ganz abstrakte Böse an sich.»

Zuerst war Jim sprachlos. Dann befeuchtete er sich die Lippen und sagte: «Diese Killer … Es waren Junkies. Ihre Tat hatte einen ganz banalen Hintergrund …»

«Nein, Jim, das meine ich nicht. Ich kenne die Geschichte der Brüder. Was ich wissen will, ist … Hast du manchmal das Gefühl, dass du das Böse spüren kannst, das bestimmte Menschen ausstrahlen? Oder spürst du, wenn jemand drauf und dran ist, etwas Böses zu tun?»

Jim dachte nach, bevor er sagte: «Je nach Situation und psychischer Verfassung benehmen Menschen sich manchmal destruktiv.»

«Vielleicht ist es das», sagte Reuben.

«Was meinst du?»

Reuben hatte keine Lust, seinem Bruder von dem Mann in der Bar zu erzählen. Außerdem gab es da nicht viel zu erzählen. Es war ja praktisch nichts passiert. Interessant war nur, wie er den Mann wahrgenommen hatte. Er schien eine gesteigerte Wahrnehmung für dessen destruktive Energie und Absichten gehabt zu haben. «Etwas so Banales …», murmelte Reuben.

«Erinnerst du dich daran», sagte Jim, «dass ich dich immer damit aufgezogen habe, du müsstest wohl eine gute Fee haben, die einen Sonnyboy aus dir macht, dem alles wie von selbst zufällt?»

«Allerdings», sagte Reuben gereizt. «So einer war ich.»

«Jedenfalls ist dir so etwas wie letzte Woche noch nie passiert, und deswegen mache ich mir Sorgen.»

Reuben sagte nichts. In Gedanken war er immer noch bei dem Mann an der Bar. Dann sah er seinen Bruder an und dachte, was für ein freundlicher, sanfter Mensch Jim doch war. Seine neueste Erklärung dafür war, dass Jim eine Einfachheit und Klarheit besaß, die anderen abging.

Als Jim wieder das Wort ergriff, riss er Reuben aus seinen Gedanken.

«Ich würde alles dafür geben, dir zu helfen», sagte er. «Damit dein Gesicht wieder das alte wird und ich meinen Bruder Reuben wiedererkenne.»

Eine bemerkenswerte Aussage, aber Reuben erwiderte darauf nichts. Was hätte er auch sagen sollen? Er versuchte sich zu konzentrieren, aber seine Gedanken schweiften immer wieder ab. Es war schmerzhaft, an den Überfall erinnert zu werden, vor allem, wenn Marchents Gesicht vor ihm auftauchte, so wie jetzt.

Jim räusperte sich. «Ich glaube, ich verstehe, was du durchmachst», sagte er. «Sie hat geschrien, und du wolltest ihr helfen, aber du warst nicht rechtzeitig bei ihr. Du hast dein Bestes versucht, aber du hast es nicht geschafft. Daran hätte jeder zu knabbern.»

Jim hatte ja recht. Trotzdem wollte Reuben nicht darüber sprechen. Es war so einfach gewesen, den Mann aus der Bar niederzuschlagen, so selbstverständlich. Genauso einfach war es gewesen, ihn nach dem einen Schlag wieder laufenzulassen.

«Reuben?»

«Ja, Jim, ich höre dir zu. Aber du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen. Lass uns lieber ein andermal reden. Momentan ist alles in Ordnung.»

Jims Telefon klingelte. Verärgert holte er es aus der Tasche und sah aufs Display. Dann stand er auf, küsste Reuben auf die Stirn und ging.

Gott sei Dank, dachte Reuben.

Er starrte ins Feuer. Es war nur ein Gasbrenner, sah aber ganz natürlich aus. Er dachte an das echte Holzfeuer in Marchents Diele, an das Bullern und Knistern der mächtigen Flammen, und glaubte das Feuer wieder riechen zu können, zusammen mit Marchents Parfüm.

Wenn dir so etwas passiert, macht es dich einsam. Egal wie viele Menschen dich lieben und dir helfen wollendu bist allein. Ganz allein.

Auch Marchent war allein, als sie starb.

Plötzlich konnte er sich ihre letzten Momente ganz genau vorstellen, wie ihr Gesicht auf dem Küchenfußboden lag und sie langsam verblutete.

Reuben stand auf und ging durch den Hausflur. Das Arbeitszimmer seines Vaters war dunkel, und die Tür stand offen. Die Lichter der Stadt schimmerten durch die hohen, weiß gerahmten Fenster. Phil saß in Morgenmantel und Pyjama auf seinem großen ledernen Schreibtischstuhl, hatte Kopfhörer aufgesetzt und hörte mit hochgelegten Beinen Musik. Dazu sang er leise mit.

Reuben ging zu Bett.

Gegen zwei Uhr schreckte er aus dem Schlaf und dachte: Jetzt ist es mein Haus. Das bindet mich für immer an die Geschehnisse, für den Rest meines Lebens. Wieder einmal hatte er vom Grauen jener Nacht geträumt, aber dieses Mal war es nicht bloß ein Kaleidoskop der immer gleichen Schreckensbilder gewesen. Vielmehr hatte er die Tierpfote auf seinem Rücken gespürt und den Atem der Bestie gehört. In seinem Traum war es weder Hund, Wolf noch Bär, sondern eine gesichtslose, dunkle Macht, die erst den jungen Angreifern den Garaus gemacht und dann – aus welchen Gründen auch immer – beschlossen hatte, ihn am Leben zu lassen. Mord! Mord!

 

Am nächsten Vormittag unterzeichneten die Anwälte der Familien Nideck und Golding einen Kaufvertrag über den persönlichen Nachlass von Felix Nideck. Marchents handschriftlicher Testamentsnachtrag, den Felice als Zeugin unterschrieben hatte, war ans Nachlassgericht weitergeleitet worden, und in sechs Wochen würde Reuben der rechtmäßige Besitzer von Kap Nideck sein – ein Name, den Marchent in ihrer Verfügung übernommen hatte. Außerdem hatte sie Reuben zum Erben der persönlichen Hinterlassenschaften ihres Onkels bestimmt.

«Es ist noch nicht sicher», sagte Simon Oliver, «dass niemand das Testament und die Zusätze anficht. Andererseits kennen wir die Anwälte von Baker & Hammermill schon lange, vor allem Arthur Hammermill, und sie sagen, dass sie bereits vergeblich nach potenziellen Miterben gesucht haben. Demnach scheint es also keine rechtmäßigen Erben für den Nideck-Nachlass zu geben. Als Felix Nideck für tot erklärt wurde, haben sie offenbar alle Verästelungen des Familienstammbaums geprüft und sind zu dem Schluss gekommen, dass niemand mehr lebt, der erbberechtigt wäre. Auch der Freund von Marchent Nideck in Buenos Aires hat alle Dokumente unterzeichnet und erklärt, dass er keine weitergehenden Ansprüche auf ihren Nachlass erhebt. Sie hat ihm übrigens ein hübsches Sümmchen vermacht. Sie scheint eine großzügige Frau gewesen zu sein und hat in ihrem Testament auch etliche wohltätige Organisationen bedacht. Tragischerweise gibt es für einen Großteil ihres Nachlasses keinen Empfänger. Aber was das Haus und das Grundstück in Mendocino betrifft, kann ich Sie beruhigen, mein Junge: Es wird ohne Wenn und Aber in Ihren Besitz übergehen.»

Er hörte gar nicht wieder auf zu reden und verlor sich in Details über die Nidecks, die im neunzehnten Jahrhundert «aus dem Nichts» in Kalifornien aufgetaucht seien. Dann schilderte er, wie die Anwälte der Familie in all den Jahren, als Felix als vermisst galt, weltweit nach Erben gesucht hatten. Weder in Europa noch in Amerika seien sie fündig geworden. Dann kam er darauf zu sprechen, dass ja auch die Goldings und die Spanglers (Grace’ Familie) alteingesessene San Franciscoer Familien und ihre Stammbäume ähnlich verästelt seien.

Reuben schlief beinahe ein. Das Einzige, was ihn interessierte, waren das Grundstück und das Haus mit allem, was es beherbergte.

«Das alles gehört Ihnen», sagte Simon.

Gegen Mittag beschloss Reuben, etwas zu kochen, wie er es früher oft getan hatte. Damit wollte er den anderen beweisen, wie gut es ihm ging. Schon als Kinder hatten er und Jim ihrem Vater beim Kochen geholfen, und Reuben hatte das Gemüseputzen, Zerkleinern und Garen immer als überaus entspannend empfunden. Grace hatte mitgemacht, wann immer sie Zeit dafür fand.

Als Grace heimkam, setzten sie sich zu Tisch und aßen Lammkoteletts und Salat.

«Hör mal, mein Baby», sagte sie. «Ich finde, du solltest das Haus möglichst bald zum Verkauf anbieten.»

Reuben musste lachen. «Es verkaufen? Niemals, Mom! Diese Frau hat es mir vermacht, weil ich mich auf den ersten Blick darin verliebt habe. Ich werde dort einziehen.»

Grace war schockiert. «Ich glaube nicht, dass du dir das gut überlegt hast», sagte sie und sah Celeste vielsagend an.

Celeste legte die Gabel auf den Teller. «Du denkst ernsthaft darüber nach, dort hinzuziehen? Das verstehe ich nicht … nach allem, was dort geschehen ist.»

Sie sah so traurig und gekränkt aus, dass sie Reuben leidtat. Aber was sollte er sagen?

Phil sah Reuben nachdenklich an.

«Was guckst du denn so, Phil?», fragte Grace.

«Ich weiß nicht», sagte Phil. «Aber sieh dir unseren Jungen doch an! Er hat zugenommen, nicht wahr? Und was seine Haut betrifft, muss ich dir recht geben.»

«Wieso», fragte Reuben, «was ist denn mit meiner Haut?»

«Komm, lass gut sein», sagte Grace.

«Deine Mutter findet, dass dir ein Flaum wächst, wie bei einer Schwangeren. Ich weiß, dass du weder eine Frau noch schwanger bist, aber deine Mutter hat recht. Du bekommst wirklich einen Flaum.»

Wieder musste Reuben lachen.

Alle betrachteten ihn neugierig.

«Ich will dir eine Frage stellen, Dad. Über das Böse. Glaubst du, dass es eine spürbare Kraft ist? Glaubst du, dass es das Böse überhaupt gibt? Und damit meine ich jetzt nicht böse Taten oder so, sondern eine Art Macht, die über einen kommt und einen dann dazu bringt, Böses zu tun?»

Phils Antwort kam prompt. «Nein, mein Sohn. Absolut nicht.» Er nahm einen Bissen Salat, ehe er fortfuhr: «Die Erklärung für das Böse ist in Wahrheit ganz banal, ganz langweilig. Es handelt sich schlicht und ergreifend um Verfehlungen, egal ob ein Dorf niedergebrannt wird und alle Einwohner dabei sterben oder ob jemand in zügelloser Wut ein Kind umbringt. Es sind alles nur Verfehlungen.»

Niemand sagte etwas.

«Denke nur an die Genesis, mein Sohn», fuhr Phil fort. «Die Geschichte von Adam und Eva – sie haben einfach nur eine Verfehlung begangen.»

Reuben dachte nach und wollte nichts erwidern, wusste aber, dass es von ihm erwartet wurde.

«Das war’s, was ich befürchtet hatte», sagte er. «Kann ich mir ein Paar Schuhe von dir leihen, Dad? Du trägst doch Größe vierundvierzig, oder?»

«Kein Problem, Sohn. Ich habe einen ganzen Schrank voller Schuhe, die ich nie trage.»

Reuben nickte und dachte an das Haus in Mendocino, an die vielen kleinen Tontafeln mit Keilschrift, an das Zimmer, in dem er mit Marchent geschlafen hatte. Noch sechs Wochen! Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor.

Er stand auf, ging langsam aus dem Esszimmer und die Treppe hinauf.

Kurz darauf saß er in seinem Zimmer am Fenster und blickte auf die Golden Gate Bridge, die sich in der Ferne erhob. Nach einer Weile kam Celeste herein, um zu sagen, dass sie jetzt ins Büro zurückfahren würde.

Reuben nickte.

Sie legte ihm den Arm um die Schultern. Langsam hob er den Kopf und sah zu ihr auf. Wie hübsch sie ist, dachte er. Nicht so abgeklärt und elegant wie Marchent, aber frisch und süß. Ihr Haar war ein schimmerndes Braun, auch ihre Augen waren braun, und sie hatte ein lebhaftes Gesicht. Früher war sie ihm nie zerbrechlich erschienen, aber jetzt sah er sie so: frisch, unschuldig und sehr, sehr zerbrechlich.

Warum hatte sie ihn bloß immer so nervös gemacht? Warum war es immer so anstrengend gewesen, ihren Erwartungen zu entsprechen, ihr Tempo mitzugehen, ihren intellektuellen Ansprüchen zu genügen?

Sie wich so plötzlich zurück, als hätte sie sich über irgendetwas erschrocken. Sie trat mehrere Schritte zurück und starrte Reuben dabei unverwandt an.

«Was hast du denn?», fragte er. Er hatte keine Lust, mit ihr zu reden, aber offensichtlich fühlte sie sich unwohl, und es war eine Frage des Anstands, sich nach ihrem Befinden zu erkundigen.

«Ich weiß nicht», sagte sie und rang sich ein Lächeln ab, das aber gleich wieder erstarrte. «Ich hätte gerade schwören können, dass du plötzlich jemand anders bist … ein Fremder, der mich mit Reubens Augen ansieht.»

«Ach was! Ich bin’s doch bloß», sagte er und lächelte.

Aber Celeste entspannte sich nicht, sondern verabschiedete sich schnell. «Wir sehen uns dann beim Abendessen.»

Reuben wollte einen Braten machen und freute sich darauf, die Küche für sich zu haben.

Als Celeste gegangen war, kam die Krankenschwester herein, um ihm eine Spritze zu geben. Es war ihr letzter Tag.