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Als er die Augen aufschlug, war es kurz nach vier Uhr nachmittags. Die Vorhänge waren zugezogen. Er hatte stundenlang geschlafen. Doch jetzt hörte er Stimmen vor, hinter und neben dem Haus.
Er setzte sich auf.
Von Laura keine Spur. Der Anrufbeantworter blinkte. Irgendwo im Haus klingelte es, aus Richtung der Küche oder der Bibliothek. Sein iPhone auf dem Nachttisch begann zu schnarren.
Der Fernseher war eingeschaltet, lief aber tonlos. Dieselben Nachrichten, die er gesehen hatte, bevor er einschlief, beherrschten immer noch den Newsticker am unteren Bildschirmrand: WOLFSMENSCHPANIK IN SANTA ROSA.
Er hatte die Berichterstattung verfolgt, bis ihm vor Erschöpfung die Augen zugefallen waren.
Im ganzen Bundesstaat wurde offiziell nach Stuart McIntyre gesucht, der am Abend aus dem St. Mark’s Hospital verschwunden war. Um 3:15 Uhr war sein Stiefvater von dem Wolfsmenschen getötet worden. Seine Mutter war ins Krankenhaus eingeliefert worden. Aus ganz Nordkalifornien gingen Meldungen ein, denen zufolge der Wolfsmensch an den unterschiedlichsten Orten gesehen worden sei.
Überall entlang der Küste brachen die Menschen in Panik aus. Dabei ging es weniger um Angst vor dem Wolfsmenschen als Unsicherheit, Hilflosigkeit und Enttäuschung. Warum kam die Polizei dem Wolfsmenschen nicht auf die Spur?
Gerade begann eine Pressekonferenz des Gouverneurs. Bilder vom Ermittlungsbeamten und Stuarts Elternhaus in der Plum Ranch Road flimmerten über den Bildschirm.
Reuben stand auf, nackt und barfuß, ging zum Fenster an der Frontseite des Hauses und blinzelte durch einen Spalt zwischen den Vorhängen. Es war ein trüber Nachmittag, und er konnte drei Streifenwagen sehen. Nein. Ein Wagen gehörte dem Sheriff, die anderen beiden gehörten zur Autobahnpolizei. Ein Stück weiter stand ein Krankenwagen. Warum ein Krankenwagen?
Jemand klopfte ungeduldig an die Haustür. Reuben versuchte zu verstehen, was die Männer wollten. Sie gingen um das Haus herum und versuchten es nun an der Hintertür.
War die Tür verschlossen?
Wo war Laura? Er konnte sie riechen. Sie war im Haus und kam näher.
Er zog sich eine Hose an und schlich in den Korridor. Dort konnte er Stuart atmen hören. Er öffnete die Zimmertür und sah Stuart auf dem Bett liegen. Er schlief so tief und fest wie Reuben selbst noch vor wenigen Augenblicken.
Beide waren vor Erschöpfung eingeschlafen. Reuben hatte vorher noch vergeblich versucht, etwas zu essen. Stuart dagegen hatte ein ganzes Porterhouse-Steak verschlungen. Aber beide hatten geschwächt und mit glasigen Augen dagesessen.
Stuart hatte berichtet, sein Stiefvater habe zweimal auf ihn geschossen, aber er war nicht verletzt.
Dann waren beide zu Bett gegangen.
Jetzt horchte er. Ein weiterer Wagen fuhr vor.
Dann hörte er Laura barfuß die Treppe heraufkommen. Im nächsten Moment sah er sie. Sie eilte auf ihn zu und warf sich in seine Arme.
«Sie sind schon zum zweiten Mal hier», flüsterte sie. «Die Alarmanlage ist eingeschaltet. Wenn sie ein Fenster einschlagen oder eine Tür aufbrechen, geht ein großes Getöse los.»
Reuben nickte.
Laura zitterte und war ganz blass.
«Du hast unzählige E-Mails bekommen, nicht nur von deiner Mutter, sondern auch von deinem Bruder und deinem Vater und Celeste. Und von Billie. Das Ganze scheint eine schreckliche Wendung zu nehmen.»
«Hat man dich durch die Fenster gesehen?», fragte Reuben.
«Nein. Die Vorhänge sind seit gestern Abend zugezogen.»
Draußen wurde Reubens Name gerufen. «Mr. Golding! Mr. Golding!» Es wurde an Hinter- und Vordertür gerüttelt.
Der Wind strich ums Haus, und Regen trommelte leise an die Fenster.
Reuben ging die Treppe ein paar Schritte hinunter.
Plötzlich musste er an den Lärm denken, von dem er in Marchents Todesnacht aufgewacht war. Wir wohnen in einem Glaspalast, dachte er. Es ist ganz leicht, hier einzubrechen.
Er sah sich zu Stuart um. Barfuß, in Boxershorts und T-Shirt schlief er wie ein Kind.
Galton war gekommen. Reuben hörte, wie er dem Sheriff etwas zurief.
Er ging ins Schlafzimmer zurück und trat an das Fenster, das nach Süden zeigte.
Galton sagte: «Ich weiß nicht, wo sie sind. Sie sehen ja selbst, dass beide Wagen da sind. Was soll ich sagen? Vielleicht schlafen sie noch. Erst gegen Morgen habe ich sie die Straße hochkommen sehen. Vielleicht erzählen Sie mir erst mal, was das Ganze hier soll?»
Aber niemand wollte Galton aufklären. Der Sheriff, die Polizisten und selbst die Sanitäter standen mit verschränkten Armen da und sahen zum Haus herauf.
«Ich kann Sie ja anrufen, wenn die beiden aufgestanden sind», sagte Galton. «Ja, ich weiß, wie man die Alarmanlage ausschaltet, aber ich bin nicht befugt, jemanden reinzulassen. Hören Sie …»
Geflüster. Dann: «Na gut, dann warten wir eben.»
Warten – worauf?
«Weck Stuart!», sagte Reuben zu Laura. «Und bring ihn in die Geheimkammer. Schnell!»
Er zog seinen blauen Blazer über und kämmte sich. Was immer als Nächstes geschah – er wollte sich respektabel präsentieren.
Sein Handy summte. Eine SMS von Jim: «Sind unterwegs.»
Was hatte das zu bedeuten?
Reuben hörte Stuart schlaftrunken protestieren, aber Laura ließ nicht locker und führte ihn zu dem Wäscheschrank mit der Geheimtür.
Als sie verschwunden waren, prüfte Reuben die Tür. Sie war nicht zu erkennen. Er schob die Regale wieder davor und legte Handtücher hinein. Dann schloss er den Wandschrank.
Er schlich die Treppe hinunter und durch den dunklen Hausflur in die Diele. Die einzige Lichtquelle war der Wintergarten. Der Regen tröpfelte auf das Glasdach. Die gläsernen Wände waren beschlagen.
Jemand drehte am Knauf der westlichen Tür.
Wieder kam ein Wagen vorgefahren, es klang nach einem Lastwagen. Reuben wollte die Vorhänge nicht bewegen und beschränkte sich aufs Horchen. Eine Frauenstimme. Dann Galton, der laut in sein Handy sprach.
«Am besten kommst du gleich her, Jerry. Hier ist die Hölle los. Die haben keinen Durchsuchungs- oder Haftbefehl, aber wenn die sich trotzdem Zugang verschaffen wollen, dann … Also, jedenfalls kommst du am besten gleich her.»
Reuben schlich sich zum Schreibtisch und warf einen Blick auf die Betreffzeilen der eingegangenen E-Mail-Flut.
«SOS» hieß es bei Celeste immer wieder. Billies E-Mails firmierten unter «Warnung». Phil schrieb: «Unterwegs». Die letzte von Grace lautete: «Fliege mit Simon ein». Sie war zwei Stunden alt.
Das also hatte Jim gemeint. Wahrscheinlich kamen sie am Flughafen von Sonoma County an und fuhren dann mit einem Wagen weiter.
Wie lange würden sie dafür brauchen?
Immer mehr Wagen fuhren vor.
Die letzte E-Mail von Billie war vor einer Stunde gekommen: «Sie kommen dich abholen und wollen dich wegsperren!»
Reuben wurde wütend, versuchte aber, einen kühlen Kopf zu behalten, und dachte nach. Was war passiert? Hatte jemand sie gesehen, als sie mit Stuart hergekommen waren? Galton hatte bestimmt nicht geplaudert. Und selbst wenn – das erklärte nicht, warum gleich eine so große Maschinerie angelaufen war.
Am rätselhaftesten war der Krankenwagen. Wer hatte den geschickt – und warum? Steckte Dr. Cutler dahinter? Hatte sie die ärztliche Verfügungsgewalt über Stuart erhalten? Wollte sie ihn in die Psychiatrie oder sonst eine geschlossene Anstalt bringen? Es war doch ihre Stimme, die Reuben da draußen hörte, oder? Da war aber noch eine andere Frauenstimme, eine mit ausländischem Akzent.
Er verließ die Bibliothek und ging über den dicken Perserteppich in der Diele zur Haustür.
Die Frau mit dem fremden Akzent – vielleicht eine Russin – erklärte, dass sie sich mit solchen Dingen auskenne. Wenn die Polizei kooperiere, werde alles gutgehen. Bislang sei es immer gutgegangen. Ein Mann mischte sich ein und unterstützte sie. Jaska! Reuben konnte ihn riechen. Auch die Witterung der Frau nahm er jetzt auf. Lügner, alle beide! Ausgeprägte Bösartigkeit.
Reuben spürte, wie die Krämpfe einsetzten. Er legte die Hand auf den Bauch, der ganz heiß wurde. «Noch nicht!», flüsterte er. «Noch nicht!» Das Prickeln kroch seine Arme hinauf, bis zum Nacken. «Noch nicht!»
Die Sonne ging unter. Schon in wenigen Minuten würde es an so einem trüben Tag wie heute vollkommen dunkel sein.
Inzwischen mussten an die fünfzehn Menschen da draußen sein, aber immer noch hörte er Wagen ankommen. Einer fuhr direkt vor die Haustür.
Natürlich konnte auch er sich in die Geheimkammer flüchten, aber was, wenn Galton sie kannte? Selbst wenn niemand sie kannte oder finden würde – wie lange konnten sie zu dritt dort ausharren?
Vor der Tür stritt Dr. Cutler mit den Russen. Sie werde ihnen Stuart nicht ausliefern und auch nicht zulassen, dass sie ihn irgendwo einwiesen. Es sei ja nicht einmal sicher, dass Stuart überhaupt hier war. Die russische Ärztin sagte, doch, das wisse sie genau, sie habe einen Tipp bekommen.
Plötzlich hörte Reuben seine Mutter, die sich in das Streitgespräch einmischte. Auch das Grummeln Simon Olivers war zu hören.
«Sie brauchen einen richterlichen Haftbefehl, um meinen Sohn gegen seinen Willen wohin auch immer zu schaffen», sagte Grace. «Mein Anwalt hier reicht Klage gegen Sie ein, wenn Sie es auch nur versuchen!»
Noch nie war Reuben so froh gewesen, ihre Stimme zu hören. Auch Phil und Jim konnte er jetzt hören. Sie unterhielten sich leise miteinander und schätzten die Anzahl der anwesenden Polizisten auf zwanzig. Sie überlegten, was zu tun war.
Dann erschrak Reuben von einem Geräusch, das aus dem Haus kam.
Die Krämpfe wurden stärker. Er spürte schon, wie seine Poren sich öffneten und die ersten Haarzellen aktiv wurden. Mit äußerster Willensanstrengung wehrte er sich dagegen.
Das Geräusch kam aus dem Hausflur. Jemand schien die Kellertreppe heraufzukommen. Dann knarrte die Kellertür.
Eine imposante Gestalt schälte sich aus dem Dunkeln, dann eine zweite zu ihrer Linken. Im schwindenden Gegenlicht aus dem Wintergarten konnte Reuben die Gesichter nicht erkennen.
«Wie sind Sie in mein Haus gelangt?», fragte er und ging wütend auf die beiden zu. Der Magen drehte sich ihm um, und seine Haut brannte. «Wenn Sie keine richterliche Anordnung haben, verschwinden Sie! Auf der Stelle!»
«Ganz ruhig, kleiner Wolf!», kam die sanfte Stimme von einem der beiden.
Der andere schaltete das Licht im Hausflur an.
Es war Felix, der Mann an seiner Seite Margon Sperver. Margon war derjenige, der gesprochen hatte.
Beinahe hätte Reuben vor Schreck laut aufgeschrien.
Beide Männer trugen dicke Tweedjacken und Stiefel. Sie rochen nach Regen und Erde. Der Wind hatte ihr Haar zerzaust, und ihre Haut war vor Kälte gerötet.
Reuben war so erleichtert, dass er weiche Knie bekam.
Felix kam auf ihn zu.
«Lassen Sie die Leute herein», sagte er.
«Das geht nicht!», protestierte Reuben. «Sie wissen ja nicht, dass es da einen Jungen gibt, er heißt Stuart …»
«Ich weiß», sagte Felix. «Ich weiß alles.» Lächelnd legte er Reuben eine Hand auf die Schulter. «Ich gehe jetzt nach oben und hole Stuart hier herunter. Machen Sie inzwischen Feuer in den Kaminen und schalteten Sie die Lampen an. Sobald Stuart bereit ist, den Leuten gegenüberzutreten, lassen Sie sie rein.»
Margon hatte schon angefangen, eine Lampe nach der anderen anzuschalten, und es war, als kehrte Leben in das Haus zurück.
Auch Reuben machte sich sofort an die Arbeit. Die Krämpfe ließen nach. Seine Gegenwehr war so anstrengend gewesen, dass er schwitzte.
Schnell machte er in der Diele Feuer.
Margon bewegte sich durchs Haus, als würde er sich auskennen. Er half Reuben, und bald waren die Kamine in der Bibliothek, im Esszimmer und im Wintergarten angezündet.
Margons Haar war so lang wie auf dem Foto, aber er hatte es mit einem Lederband zurückgebunden. Lederflicken saßen auch auf den Ellenbogen seines Jacketts. Seine Stiefel schienen uralt zu sein, hatten Risse und Schrammen. Seinem Gesicht war anzusehen, dass er sich jahrelang bei Wind und Wetter im Freien aufgehalten hatte, aber es strahlte eine verblüffende jugendliche Frische aus. Er schien höchstens vierzig zu sein.
Als er im Wintergarten Licht gemacht hatte, kam er auf Reuben zu und sah ihm in die Augen. Sein Blick erinnerte ihn an den von Felix bei ihrer ersten Begegnung. Und genau wie Felix schien auch Margon ein gütiger, freundlicher Mann zu sein.
«Wir haben schon lange darauf gewartet», sagte er warmherzig. «Ich wünschte, wir hätten es Ihnen leichter machen können, aber das war leider nicht möglich.»
«Was soll das heißen?»
«Die Zeit wird kommen, da Sie alles verstehen, aber jetzt geht es um etwas anderes. Wenn Stuart gleich herunterkommt, gehen Sie an die Tür und lassen die Ärzte herein. Bitten Sie die Gesetzeshüter, einstweilen draußen zu bleiben. Dann reden Sie mit ihnen. Meinen Sie, Sie schaffen das?»
Reuben bejahte.
Der Streit vor der Tür wurde lauter und heftiger. Grace war am besten zu verstehen. «Das ist nicht echt! Zeigen Sie mir den Arzt, der das unterschrieben hat, oder ich …»
Margon legte Reuben die Hände auf die Schultern und fragte besorgt: «Haben Sie es unter Kontrolle?»
Wieder bejahte Reuben.
«Gut», sagte Margon.
«Aber für Stuart kann ich nicht garantieren», sagte Reuben.
«Sobald wir merken, dass er sich verwandelt, bringen wir ihn außer Sichtweite», sagte Margon. «Es ist wichtig, dass er sich zeigt. Überlassen Sie alles andere uns.»
Stuart erschien in Polohemd und Jeans. Ängstlich sah er Reuben an. Auch Laura hatte sich umgezogen und trug jetzt ihre übliche Kombination aus grauem Pullover und Hose. Erhobenen Hauptes stellte sie sich an Reubens Seite.
Felix gab Margon ein Zeichen, dass sie sich zurückziehen sollten, dann gingen die beiden ins Esszimmer, während Reuben zur Haustür ging und die Außenbeleuchtung einschaltete, die Alarmanlage außer Kraft setzte und die Tür öffnete.
Durchnässte Menschen standen draußen, manche in Regenmänteln, andere mit Schirmen. Es waren mehr Polizisten, als Reuben erwartet hatte.
Als Erste trat die russische Ärztin auf Reuben zu. Sie war um die sechzig, untersetzt und trug das graue Haar wie eine eng anliegende Mütze. Jaska folgte ihr und winkte noch mehr Leute zur Unterstützung herbei, aber Grace stellte sich allen in den Weg.
Phil kam die Stufen zum Haus herauf, dicht gefolgt von Jim, und beide kamen herein.
«Hören Sie», sagte Reuben zu der versammelten Menge und hob die Hände, um sie zum Schweigen zu bringen. «Ich weiß, wie kalt es da draußen ist, und ich muss mich dafür entschuldigen, dass ich Sie so lange habe warten lassen.»
Rückwärts kamen Grace und Simon Oliver die Stufen herauf und versuchten immer noch, die Russen auf Distanz zu halten. Sofort nahm Reuben wieder den Gestank des Bösen wahr, der von den beiden Russen ausging. Jaska sah Reuben so grimmig an, als wollte er ihn hypnotisieren, und drängte sich rücksichtslos vor, während die russische Ärztin ihn mit ihren kleinen, milchig blauen Augen neugierig musterte.
«Bitte sehr, meine Herrschaften», sagte Reuben und sah die Russen und Grace an. «Kommen Sie doch herein. Sie auch, Dr. Cutler.» Er hoffte und betete, dass Felix und Margon wussten, was sie taten. Vor allem aber hoffte er, dass er sich nicht in ihnen täuschte, und kam sich plötzlich furchtbar naiv vor. «Lassen Sie uns im Haus miteinander reden.» Dann wandte er sich an Galton. «Tut mir leid, Ihnen bei diesem Wetter Arbeit zu machen, Galton. Aber können Sie den Leuten hier vielleicht Kaffee bringen? Sie kennen sich in der Küche ja aus. Genug Tassen müssten vorhanden sein.»
Laura, die neben Reuben stand, winkte Galton zur Hintertür und sagte, sie würde ihm helfen.
Galton machte ein verdutztes Gesicht, nickte aber und fing gleich an zu fragen, wer Milch oder Zucker im Kaffee haben wollte.
Grace kam herein, aber die beiden Russen blieben vor der Tür stehen, obwohl der Regen zugenommen hatte. Auf Russisch redete die Frau leise auf Jaska ein, der sich anschließend an die Polizisten wandte und sagte, sie sollten das Haus umstellen und sich in Bereitschaft halten.
Die so Angesprochenen schienen wenig geneigt zu sein, seinen Anweisungen zu folgen. Nur wenige setzten sich in Bewegung, die anderen blieben einfach stehen. Manche kamen aber auch aufs Haus zu und versuchten, Jaska zu folgen.
«Sie können reinkommen, Doktor», sagte Reuben. «Die anderen bleiben bitte draußen.»
Der Sheriff meldete Protest an und kam auf Reuben zu.
Reuben sagte nichts und ließ ihn in die Diele. Dann schloss er die Tür und wandte sich den Besuchern zu – dem Sheriff, seiner Familie, Simon Oliver, der jungen Dr. Cutler und den beiden Russen, die ihn mit eisigen Blicken musterten.
Plötzlich stieß Dr. Cutler einen Schrei aus. Sie hatte Stuart neben dem Kamin entdeckt und lief mit offenen Armen auf ihn zu.
«Keine Sorge, Doktor, es geht mir gut», sagte er und umarmte die Ärztin. «Es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was letzte Nacht mit mir los war. Ich musste einfach raus. Da hab ich das Fenster eingeschlagen und …»
Mehr konnte man nicht verstehen, weil die russische Ärztin und Grace einander anzuschreien begannen. Die Russin zeterte: «Alles wäre nur halb so kompliziert, wenn Ihr Sohn und der Junge einfach mitkämen.»
In ihrem Ton lag etwas Anmaßendes und Aggressives, und Reuben konnte den Geruch der Bosheit, den sie verströmte, kaum ertragen.
Simon war völlig durchnässt und machte in seinem grauen Anzug eine traurige Figur, vor allem aber war er wütend. Erregt fasste er Reuben am Arm und sagte: «Diese Anordnungen zur Zwangseinweisung sind ungültig! Möchte wissen, wer sie unterschrieben hat! Die Unterschriften scheinen nicht echt zu sein. Wer sind diese Leute überhaupt?»
Erst jetzt begriff Reuben, dass Jaska und die Russin mit polizeilichem Geleit gekommen waren, um Stuart und ihn in irgendeine Anstalt oder Klinik zwangseinzuweisen – vielleicht die in Sausalito.
«Sie sehen ja selbst, dass dieser junge Mann nicht gewalttätig ist.» Simon sah die beiden Russen an und fuhr fort: «Ich warne Sie! Wenn Sie versuchen, ihn oder den Jungen gewaltsam von hier fortzuschaffen, dann …»
Ohne weiter zuzuhören, drehte sich die russische Ärztin abrupt zu Reuben um und stellte sich vor. «Dr. Daria Klopow», sagte sie mit ihrem starken Akzent, hob die weißen Augenbrauen, kniff die Augen zusammen und streckte eine kleine, dicke Hand aus. Sie lächelte mechanisch und entblößte dabei eine Zahnreihe, die aus Porzellan zu sein schien. Ihr Geruch signalisierte Verachtung und Herrschsucht. «Vertrauen Sie mir, junger Mann. Ich kenne mich mit dem, was Sie durchmachen, bestens aus.»
«Genau», sagte Dr. Jaska. Auch sein Lächeln war aufgesetzt, sein Akzent der Gleiche wie der der Frau. «Niemand soll zu Schaden kommen. Aber Sie sehen ja selbst, wie viele Bewaffnete da draußen auf Sie warten.» Er drehte sich zur Haustür, als wollte er sie öffnen und die «Bewaffneten» hereinlassen.
Grace ratterte Paragraphen herunter, nach denen sein Handeln illegal war, und drohte ihm alle möglichen Klagen an.
Jim stand in seinem Priestergewand neben Reuben, und Phil rückte an ihre Seite. Mit seinem zerzausten Haar, dem zerknitterten Hemd und der verrutschten Krawatte entsprach er ganz dem Bild des zerstreuten Professors. Er schüttelte den Kopf und murmelte: «Nein, nein. Kommt nicht in Frage. Kommt überhaupt nicht in Frage, was Sie da vorhaben.»
Reuben hörte Stuart mit Dr. Cutler sprechen. «Ich will hierbleiben, bei Reuben. Er ist mein Freund. Bitte lassen Sie mich hierbleiben, Dr. Cutler! Bitte, bitte, bitte!»
Was soll ich bloß tun?
«Ach was!», sagte Dr. Klopow arrogant. «Sie sehen doch selbst, dass wir im Besitz von Dokumenten sind, die zum Wohle der beiden …»
«Welcher Mediziner soll diese sogenannten Dokumente unterschrieben haben?», ging Grace dazwischen. «So geht das nicht! Das lasse ich nicht zu.»
«Ich würde ohnehin nicht mitkommen», sagte Reuben.
Im nächsten Moment öffnete Jaska die Haustür, und eisiger Wind blies herein. Er rief den Polizisten etwas zu.
Der Sheriff protestierte: «Lassen Sie das, Doktor! Ich kümmere mich um die Angelegenheit. Die Männer sollen draußen bleiben.» Dann trat er selber an die Tür. «Alle bleiben, wo sie sind!», rief er. Der grauhaarige Mann, Ende sechzig und allem Anschein nach ein friedliebender Mensch, schien mit der Situation ganz und gar nicht einverstanden. Er sah Reuben und Stuart aufmerksam an, schüttelte dann den Kopf und fragte in die Runde: «Kann mir irgendjemand erklären, wenn’s geht mit einfachen Worten, warum diese beiden jungen Männer gegen ihren Willen festgesetzt werden sollten? Das wäre hilfreich, denn ich persönlich kann nicht erkennen, dass ihnen etwas fehlt.»
«Natürlich können Sie es nicht erkennen», erregte sich Dr. Klopow und stöckelte über das Eichenparkett, als brauchte sie das Geklacker, um sich selbst Mut zu machen. «Sie kennen die Krankheit nicht, mit der wir es hier zu tun haben. Sie tritt nur anfallsweise auf, aber deswegen ist sie nicht weniger gefährlich. Außerdem können Sie nicht wissen, dass wir ausgewiesene Experten auf diesem Gebiet sind.»
Sie wollte noch mehr sagen, aber Simon Oliver schnitt ihr das Wort ab und sagte zum Sheriff: «Ziehen Sie Ihre Leute da draußen ab und schicken Sie sie nach Hause!»
Die Tür stand noch offen. Von draußen drangen Stimmen herein, und der Wind wehte frischen Kaffeeduft herein. Galton war zu hören, und Reuben sah, dass Laura mit einem großen Tablett herumging und den Leuten Kaffee anbot.
Wo, zum Teufel, stecken Felix und Margon? Was erwarten sie von mir? Was soll ich tun?
«Alles ist in Ordnung», sagte Reuben und hob die Hände. «Ich gehe nirgendwohin.» Dann schloss er die Tür. «Zu Ihrer Information, Sheriff: Das letzte Mal bin ich vor einem Monat von einem Arzt untersucht worden. Ich habe keine Ahnung, wer diese Dokumente unterschrieben hat, aber wer immer es war, hat mich vorher nicht gesehen. Und was den Jungen betrifft … Ich habe ihn letzte Nacht hergeholt, weil er sich verirrt hatte. Ich sehe ein, dass es besser gewesen wäre, wenn ich jemanden verständigt hätte. Aber Sie sehen ja selbst, dass es Stuart gutgeht.»
Mit finsteren Mienen schüttelten die Russen die Köpfe.
«Nein, nein, nein», sagte Dr. Jaska. «Sie werden mitkommen, junger Mann. Wir haben keine Kosten und Mühen gescheut, um für Ihre Sicherheit zu sorgen, und lassen uns nicht davon abbringen. Nun kommen Sie schon! Wenn Sie es nicht freiwillig tun, müssen wir …»
Mitten im Satz brach er ab und wurde blass, genau wie Dr. Klopow neben ihm.
Reuben drehte sich um.
Margon und Felix waren zurückgekommen. Sie standen neben dem Kamin, und noch ein weiterer der vornehmen Gentlemen vom Foto war bei ihnen, der grauhaarige Baron Thibault, der aufgrund seines faltigen Gesichts älter zu sein schien als die anderen und auffallend große Augen hatte.
Ungezwungen und fast sorglos kamen die drei näher. Grace trat einen Schritt zurück, um ihnen Platz zu machen.
«Wir haben uns lange nicht gesehen, nicht wahr?», sagte Baron Thibault mit sonorem Bariton und sah die beiden Russen an. «Wie lange genau, was meinen Sie? Zehn Jahre?»
Dr. Klopow bewegte sich rückwärts auf die Haustür zu, und Jaska, der immer noch an der Tür stand, streckte die Hand nach dem Türknauf aus.
«Sie wollen doch nicht schon gehen?», fragte Margon höflich. «Sie sind doch gerade erst gekommen. Und wie Sie selbst sagten, Dr. Jaska, haben Sie keine Kosten und Mühen gescheut, um hier sein zu können.»
«Sie kennen diese Leute?» Grace sah Margon fragend an und zeigte auf die Russen. «Dann können Sie uns vielleicht darüber aufklären, was das Ganze hier soll.»
«Halt dich da raus, Grace!», sagte Phil.
Margon nickte beiden freundlich zu.
Die Russen standen wie versteinert da, obwohl sie vor Wut zu kochen schienen. Der Geruch des Bösen, den sie verströmten, wurde so stark, dass Reuben wieder Krämpfe bekam.
Felix beobachtete das Ganze mit undurchdringlicher Miene, aber Reuben glaubte eine Spur von Trauer in seinem Blick zu erkennen.
Plötzlich wurden vor der Tür Schreie laut.
Jaska machte einen Satz rückwärts. Auch Dr. Klopow erschrak, fing sich aber schnell wieder. Dann warf sie Margon einen wütenden Blick zu.
Jemand rüttelte so heftig an der Tür, dass sie in den Angeln bebte. Erschrocken traten die Russen zur Seite, und der Sheriff rief seinen Leuten etwas zu.
Draußen schrien jetzt Männer und Frauen.
Dann sprang die Tür auf und ging krachend zu Boden.
Reuben klopfte das Herz bis zum Hals.
Aus dem strömenden Regen trat ein Wolfsmensch ins Zimmer, ein riesenhaftes Monster von über zwei Metern mit dunkelbraunem Fell, funkelnden grauen Augen und glänzend weißen Reißzähnen. Ein tiefes, kehliges Knurren kam aus seiner Brust.
Die Krämpfe drohten Reubens Eingeweide zu zerreißen. Er spürte, wie das Blut aus seinem Kopf wich. Ihm wurde schwindlig, und er bekam weiche Knie.
Der Wolfsmensch baute sich vor Dr. Klopow auf, packte sie beim Arm und hob sie mühelos hoch.
«Nein, nicht!», schrie sie, wand sich und strampelte mit den Beinen. Doch die Bestie schwang sie umher und hielt sie nach draußen in den Regen.
Alle im Haus waren in Aufruhr. Reuben taumelte zurück, Dr. Cutler kreischte hysterisch, und Jim eilte an die Seite seiner Mutter.
Vor der Tür gerieten Männer wie Frauen in Panik. Schüsse ertönten, und jemand rief: «Nicht schießen! Nicht schießen!»
«Schnell! Fasst die Bestie!», schrie Dr. Jaska und stieß den wie versteinert dastehenden Sheriff an. «Nun ergreifen Sie ihn doch, Idiot!»
Fassungslos sah Reuben zu, wie der Wolfsmensch die Reißzähne in den Hals der Ärztin schlug und das Blut aus ihrer Arterie schoss. Augenblicklich erschlaffte ihr ganzer Körper.
Jaska schrie auf und rief: «Tötet ihn, tötet ihn!»
Der Sheriff nestelte an seinem Pistolenhalfter.
Draußen wurde wieder geschossen.
Unbeeindruckt schnappte die Bestie nach dem baumelnden Kopf der Ärztin und riss ihn mit einem einzigen Ruck ab. Dann schwenkte sie den Kopf triumphierend umher und warf ihn schließlich hinaus in die Dunkelheit.
Der leblose Rumpf fiel zu Boden und traf den Sheriff, der auf den Rücken fiel, während die Bestie Jaska auf der Flucht zum Wintergarten einholte.
Jaska stolperte, krachte in die Pflanzenkübel und ließ eine Schimpftirade auf Russisch los. Der Wolfsmensch riss auch ihm den Kopf ab. Dieses Mal warf er den Kopf in die Diele, wo er bis zu der herausgerissenen Tür rollte, dem Sheriff, der gerade wieder hochkam, direkt vor die Füße. Der Sheriff zog seine Waffe und streckte den Arm aus, um zu schießen, aber er zitterte so sehr, dass er nicht zielen konnte.
Der Wolfsmensch ging an ihm vorbei und zog Jaskas leblosen Körper an einer Klaue hinter sich her.
Reuben starrte auf seine kraftvollen, dichtbehaarten Beine, seinen geschmeidigen Gang, die fließenden Bewegungen seiner Muskeln. Alles war so wie bei seinem eigenen Körper in Wolfsgestalt, aber er hatte es noch nie gesehen. Es war wunderschön.
Der Wolfsmensch ließ die Leiche fallen und sprang an Grace und Jim vorbei durch die Diele und dann weiter in die Bibliothek. Dort machte er einen gewaltigen Satz durch einen Vorhang und das Fenster, das nach Osten ging, und verschwand. Glassplitter und Vorhang fielen zu Boden, dann begann es ins Zimmer zu regnen.
Reuben stand da wie erstarrt. Die Krämpfe waren kaum noch zu beherrschen, aber seine Haut war wie ein schützender Eisenpanzer.
Um ihn herum herrschte Chaos. Dr. Cutler war inzwischen vollkommen hysterisch. Stuart hielt sie in den Armen und redete beruhigend auf sie ein. Grace, die von der fliehenden Bestie umgerempelt worden war, stand wieder auf und sah dem Wolfsmenschen entsetzt nach. Jim betete kniend und mit geschlossenen Augen.
Phil eilte seiner Frau zu Hilfe, und Laura, die jetzt zur Tür hereinkam und Jaskas Leiche dort liegen sah, tauschte einen alarmierten Blick mit Reuben. Dann streckte er die Arme aus, und sie schmiegte sich an ihn.
Simon Oliver war mit gerötetem und schweißnassem Gesicht rücklings in einen Sessel gefallen, griff sich an die Brust und versuchte wieder aufzustehen.
Nur Margon, Felix und Thibault standen während des ganzen Durcheinanders völlig unbewegt da. Als Erster reagierte Thibault und ging auf den Sheriff zu, um ihm zu helfen. Der nahm dankbar seinen Arm, ging an Reuben und Laura vorbei aus der Tür und rief seinen Leuten Befehle zu.
Die Sirenen der Polizeiwagen heulten auf.
Felix stand ganz ruhig da und blickte auf Jaskas Kopf, der auf der Seite lag und mit toten Augen ins Leere starrte. Margon ging zu Dr. Cutler und sagte, sie solle sich beruhigen, «die Kreatur» sei geflohen. Die Ärztin sah aus, als müsse sie sich jeden Moment übergeben.
Die Polizisten machten sich in Richtung Wald auf. Immer mehr Sirenen waren zu hören. Blaulicht zuckte durch die Diele und erhellte in rhythmischen Abständen den Leichnam von Dr. Klopow, der in blutigen Kleidern auf der obersten Stufe vor der Haustür im Regen lag. Zwei Polizisten, die mit gezückten Waffen ins Haus kamen, stolperten darüber.
Stuart, weiß wie die Wand, stand reglos da und starrte mit leerem Blick vor sich hin.
Der arme Junge! Mitfühlend sah Reuben, dass er zitterte.
Zusammen mit einem Beamten der Autobahnpolizei kam der Sheriff in die Diele zurück und schrie: «Keiner verlässt diesen Raum, bevor wir von jedem Einzelnen eine Zeugenaussage haben!»
Auch Grace war blass geworden und zitterte. Ihre Augen waren weit aufgerissen und schwammen in Tränen. Phil redete beruhigend auf sie ein und streichelte sie.
Felix und Thibault sprachen mit dem Sheriff, aber Reuben konnte sie nicht verstehen.
Grace und Reuben tauschten einen Blick. Dann tat Grace etwas, das Reuben nie von ihr erwartet hätte: Sie wurde ohnmächtig. Wie ein Klotz fiel sie Phil aus dem Arm und schlug dumpf auf den Boden.