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Laura fuhr, Reuben saß auf dem Beifahrersitz und schlief.

Vorher hatten sie kurz bei Reubens Familie vorbeigeschaut, weil er sich sicher war, dass Simon Oliver seinen Eltern von seinem Besuch erzählen würde, und tatsächlich hatte er es bereits getan.

Grace war gerade dabei gewesen, das Abendessen vorzubereiten, und Phil hatte schon am Tisch gesessen. Auch Celeste und Mort waren da und tranken mit Grace in der Küche ein Glas Wein. Ein befreundeter Arzt war ebenfalls dabei, ein Onkologe, dessen Name Reuben sich nicht merken konnte, und deckte zusammen mit einer Ärztin, die Reuben noch nie gesehen hatte, den Tisch. Im Hintergrund lief Jazz, und alle waren bester Stimmung.

Reuben hatte gemerkt, wie sehr er sie alle vermisste, genau wie das gemütliche Haus und das gesellige Leben. Umso mehr hatte er die lockere Atmosphäre genossen, zumal zu viele Leute da waren, um seiner Mutter und Celeste Gelegenheit zu geben, ihn mit Fragen und Ratschlägen zu traktieren. Laura wurde freundlich behandelt, vor allem von Celeste, und es war offensichtlich, wie erleichtert sie darüber war, dass auch Reuben schon jemand Neues gefunden hatte. Nur Mort war von Gewissensbissen geplagt und wagte Reuben kaum anzusehen, aber Reuben boxte ihm kumpelhaft an den Arm und grinste. Rosy, die Hausangestellte, umarmte Reuben herzlich.

Grace hätte ihm natürlich nur zu gern unter vier Augen ins Gewissen geredet, aber sie konnte Steaks und Brokkoli auf dem Herd nicht sich selbst überlassen, und so begnügte sie sich mit einem Kuss.

Trotzdem sagte sie: «Bleib doch wenigstens zum Essen!»

«Wir kommen gerade vom Essen.»

«Aber Dr. Jaska kommt heute Abend noch, und ich möchte, dass du ihn kennenlernst.»

«Nicht heute, Mom.»

Mit Rosys Hilfe hatte er seine letzten Bücher, Ordner und Fotos zusammengepackt und zum Porsche gebracht. Dann war er noch einmal ins Esszimmer gegangen, wo Kerzen auf Tisch und Kamin brannten, hatte sich von allen verabschiedet und Grace durch die Luft einen Kuss zugeworfen.

Als er die Treppe hinuntergegangen war, hatte es an der Haustür geklingelt, und er hatte einem großen grauhaarigen Mann mit kantigem Kinn und kalten grauen Augen geöffnet.

Sofort war Grace die Treppe heruntergekommen, um den Mann ins Haus zu führen. Eine Hand legte sie auf die Schulter des Mannes, mit der anderen hielt sie Reuben fest.

Der Mann ließ Reuben nicht aus den Augen, und es war offensichtlich, dass ihn diese Begegnung überraschte.

Reuben dagegen hatte ein höchst merkwürdiges Gefühl, und er nahm einen Geruch war, den er nur zu gut kannte. Dieser Geruch war zwar schwach, aber eindeutig.

«Das ist Dr. Akim Jaska, Reuben, ich habe dir ja schon von ihm erzählt», sagte Grace und wirkte nicht so selbstsicher wie sonst. «Kommen Sie doch rein, Doktor. Rosy, bringen Sie dem Doktor bitte seinen üblichen Drink.»

Der Geruch wurde immer stärker, als Reuben dem Mann in die merkwürdig milchigen Augen sah. Er befürchtete, dieser Geruch könnte eine unkontrollierte Verwandlung bewirken.

Grace beobachtete die beiden mit wachsendem Unbehagen und sagte plötzlich: «Du musst los, mein Baby.»

«Genau, Mom. Ich hab dich lieb.»

Vor ihm ging Laura aus der Tür, nachdem sie sich höflich verabschiedet hatte.

«Ich wünsche Ihnen einen schönen Abend, Doktor. Ich melde mich, Mom.»

Als Reuben vor die Tür trat, spürte er einen leichten Krampf im Bauch. Es war nur eine Warnung, nicht der Beginn einer Verwandlung. Nein, er durfte sich jetzt nicht verwandeln! Er spürte, dass er es kontrollieren konnte, obwohl er Jaskas Geruch noch in der Nase hatte. Er blickte sich zum Haus um und horchte genau hin. Aber er konnte nur höflichen Smalltalk vernehmen, bedeutungsloses Geplänkel. Der Geruch aber blieb und wurde sogar noch stärker.

«Lass uns schnell losfahren», sagte er.

Der Verkehr floss zügig über die Golden Gate Bridge. Wie üblich im Winter war es früh dunkel geworden, aber es regnete nicht. So kam Laura gut voran, während Reuben schlief.

Es war ein leichter Schlaf, und als er spürte, dass sie sich Santa Rosa näherten, drangen plötzlich Stimmen an sein Ohr. Erschrocken wachte er auf und setzte sich aufrecht hin.

Noch nie hatte er einen derart verzweifelten Schmerzensschrei gehört.

«Fahr rechts ran!», sagte er.

Die Krämpfe hatten schon begonnen. Seine Haut prickelte. Der Gestank der Grausamkeit drohte ihn zu ersticken. Etwas so Böses hatte er noch nie gespürt.

«Zwischen die Bäume», sagte er, und Laura lenkte den Wagen in den nahegelegenen Park.

Reuben riss sich die Kleider vom Leib und rannte los. Noch während er sich verwandelte, erklomm er die Bäume.

Wieder und wieder hörte er die gellenden Schreie, und sie brachten sein Blut zum Kochen. Sie kamen von Teenagern, die geschlagen wurden und Angst hatten, verstümmelt oder gar getötet zu werden. Daneben das brutale Geschrei, die Flüche und Drohungen der Angreifer.

Die Geräusche kamen nicht aus dem Park, sondern vom verwahrlosten Hinterhof eines dunklen, heruntergekommenen Hauses. Eine Viererbande hatte zwei Jungen hierhergebracht, um sie systematisch zu quälen. Im Näherkommen spürte Reuben, dass eins der Opfer seinem letzten Atemzug nahe war. Er roch Blut, Wut und Terror.

Den sterbenden Jungen konnte er nicht mehr retten, das wusste er, aber den anderen, der noch um sein Leben kämpfte.

Mit einem wüsten Schrei stürzte er sich auf zwei Angreifer, die den Unterleib des vitaleren Jungen mit Fäusten traktierten. Der Junge setzte sich zur Wehr und beschimpfte die Angreifer: «Scheißkerle, Killer, ich hasse euch!»

In dem Durcheinander von Gliedmaßen schnappte Reuben zielsicher nach dem stinkenden Kopf eines Angreifers, während er mit der rechten Pfote den Haarschopf eines anderen packte. Der erste wand sich vor Schmerzen, als Reuben die Zähne in seinen Schädel schlug. Noch einmal griff der Mann nach dem blutenden Jungen und schien ihn wie einen menschlichen Schutzschild vor sich ziehen zu wollen. Den anderen Angreifer warf Reuben zu Boden und zerschmetterte ihm den Kopf in dem schmutzigen Hof. Dann stürzte er sich mit aller Kraft auf den anderen und riss ihm große Fleischbrocken aus dem Leib, um sie zu verschlingen. Jetzt konnte sich das Opfer aus dem Griff des Sterbenden befreien.

Reuben hatte keine Zeit, sein Mahl zu genießen. Er riss dem Mann den Hals auf, packte hinein und nahm, was er kriegen konnte, als ihn auch schon die anderen beiden Bandenmitglieder angriffen.

Mit gezückten Messern stürzten sie sich auf ihn und versuchten, ihm das «Kostüm» auszuziehen. Einer stach zwei-, dreimal auf ihn ein, und der andere versuchte ihm die «Maske» vom Kopf zu schneiden.

Blut schoss Reuben aus Brust und Kopf und tropfte ihm in die Augen. Seine Wut steigerte sich zur Raserei. Einem Angreifer riss er das Gesicht mit den Klauen in Fetzen und schlitzte ihm die Halsschlagader auf. Den anderen erwischte er, als er über den Maschendrahtzaun flüchten wollte. Er schlug zu, und augenblicklich war der andere tot. Reuben beugte sich über ihn und verschlang sein Bein. Dann ließ er ihn los und taumelte zurück. Vor Anstrengung und Blutrausch fühlte er sich ganz benommen. Der Geruch des Bösen wurde schwächer, aber andere Gerüche irritierten ihn. Ringsum sammelten sich Schaulustige, und hinter ihm roch es nach Tod.

In den umliegenden Häusern gingen immer mehr Lichter an. Stimmen wurden laut, Schreie. Auch in dem Haus direkt über dem Hof wurde Licht gemacht.

Reubens Wunden schmerzten, aber er spürte, dass sie bereits zu heilen begannen, das Loch über seinem rechten Auge juckte sogar schon – ein Zeichen, dass die Heilung weit fortgeschritten war. In der Dunkelheit sah er das verletzte Opfer durch den müllübersäten Hof auf den anderen, den toten Jungen zukriechen. Der Junge kniete sich neben den Freund und rüttelte ihn, als wollte er ihn wieder zum Leben erwecken. Als er begriff, was geschehen war, stieß er einen fürchterlichen Schrei aus.

Dann kroch er zu Reuben. Schluchzend sagte er: «Er ist tot. Die haben ihn umgebracht. Er ist tot, tot, tot!»

Schweigend blickte Reuben auf den verletzten, halbnackten Jungen. Er und sein Freund konnten nicht älter als sechzehn sein. Der Junge stand auf. Gesicht und Kleidung waren blutüberströmt. Hilfesuchend streckte er Reuben die Hände entgegen. Dann wurde er ohnmächtig und fiel vornüber.

Erst als er so vor Reuben lag, konnte der die winzige blutende Wunde in seiner ausgestreckten linken Hand sehen. Es war nur ein kleines Loch. Dann fand Reuben noch mehrere Wunden dieser Art an den Handgelenken und Unterarmen des Jungen. Es waren Bisswunden, kein Zweifel!

Reuben erstarrte.

In den angrenzenden Höfen tuschelten Menschen miteinander, und die Hintertür des Hauses wurde geöffnet.

Dann schrillten Sirenen, kamen näher und bohrten sich wie glühende Stangen in Reubens Gehörgänge.

Er zog sich in eine dunkle Nische zurück.

Blinklichter wurden von den schweren Regenwolken reflektiert, erschienen dann neben dem Haus und tauchten es in gespenstisches Licht. Auch der Müll, der überall auf dem Hof herumlag, war jetzt besser zu sehen.

Reuben sprang über einen Zaun und eilte geräuschlos durch die Dunkelheit. Als er den nächsten Wald erreichte, ließ er sich auf alle viere nieder und lief weiter, Kilometer um Kilometer, bis zu der Stelle, wo sein Porsche unter den Bäumen stand.

Es war Zeit für die Rückverwandlung.

Verlasse mich jetzt, du weißt, was ich brauche! Gib mir meine alte Gestalt zurück.

Er hockte sich neben den Wagen und kam langsam wieder zu Atem. Er wusste mittlerweile, dass er die Krämpfe am besten überstand, wenn er sich nicht dagegen wehrte. Das dichte Wolfsfell zog sich zurück. Die Wunden in seiner Brust schmerzten, und dort blieb das blutverklebte Fell stehen. Auch die Wunde über seinem rechten Auge blieb von dickem Fell bedeckt. Seine Klauen wurden kleiner und verschwanden schließlich ganz. Mit langen, schwieligen Fingern betastete er seine Wunden und zupfte an dem Haar, das sie bedeckte. Seine nackten Beine waren schwach, und unsicher stand er auf den nackten Füßen. Als er die Wagentür öffnen wollte, verlor er das Gleichgewicht und fiel auf die Knie.

Sofort war Laura bei ihm und hielt ihn fest. Dann half sie ihm auf den Beifahrersitz. Die verbleibenden Fellflecken verliehen ihm ein monströseres Aussehen, als wenn er vollständig verwandelt war, aber das Blut war bereits zu einer dicken Glasur geronnen. Immer noch brannte seine Haut an diesen Stellen, aber gleichzeitig verbreitete sich auf seinem Kopf das angenehme Gefühl, als würde er sanft massiert.

Laura fuhr Richtung Freeway, und er zog Hemd und Hose wieder an. Die Hand auf die Brustwunden gelegt, spürte er, wie sich auch dort das dicke Wolfsfell zurückzog und dann abfiel, bis nur das weiche Unterfell blieb. Von der Stirnwunde hatte sich das Fell bereits vollständig gelöst.

Um ihn herum wurde alles dunkel, und er war der Ohnmacht nahe. Er versuchte dagegen anzukämpfen, aber sein Kopf rollte zur Seite und schlug ans Seitenfenster. Er stöhnte auf.

Sirenen, schrill und bedrohlich nah. Aber der Porsche war schon wieder auf dem Freeway in nördlicher Richtung. Laura beschleunigte, überholte die anderen Wagen und erreichte schließlich Höchstgeschwindigkeit.

Reuben lehnte sich zurück und beobachtete sie. Sie war vollkommen ruhig und konzentrierte sich aufs Fahren.

«Reuben?», sagte sie nach einer Weile, ohne den Blick vom Verkehr abzuwenden. «Bleib wach, sprich mit mir! Alles in Ordnung?»

«Ja, keine Sorge.» Er zitterte, als hätte er Schüttelfrost. Sogar seine Zähne klapperten. Das Fell über den Brustwunden hatte sich zurückgebildet, und auch die Wunden selbst waren verschwunden. Seine Haut kribbelte. Lustvolle Schauer durchfluteten seinen Körper und ermüdeten ihn. Der Geruch des Todes hing noch an ihm und erinnerte ihn an den Jungen, der so sinnlos gestorben war.

«Ich habe etwas Schreckliches getan», sagte er leise.

«Was denn?», fragte Laura. Vor und hinter ihnen herrschte dichter Verkehr, der sich aber nicht staute. Sie ließen Santa Rosa hinter sich.

Reuben schloss die Augen. Er hatte keine Schmerzen mehr, nur ein leichtes Pulsieren ließ ihn noch spüren, wo die Wunden gesessen hatten.

«Etwas ganz Schreckliches, Laura», flüsterte er so leise, dass sie ihn nicht hören konnte. Er sah den Jungen auf sich zukommen, das blasse, flehende, blutende Gesicht, umgeben von blondem Haar, die Augen schreckhaft aufgerissen, seine Lippen bewegten sich, aber es kam kein Laut heraus.

Wieder drohte Reuben die Dunkelheit zu verschlucken. Dieses Mal wehrte er sich nicht dagegen. Der Ledersitz war weich, das Fahrgeräusch schläferte ihn ein, und er überließ sich dem Schlaf.