11
Die Muir Woods erstreckten sich über eine Fläche von gut zweihundert Hektar. Hier standen einige der ältesten Redwoodbäume Kaliforniens. Manche waren über sechzig Meter hoch und über tausend Jahre alt. Zwei Bäche flossen durch den Canyon. Früher war Reuben hier oft gewandert, er kannte den Wald gut.
Er genoss die Stille und Abgeschiedenheit, die er auch in Mendocino suchte. Im Hochgefühl seiner ungeheuren Stärke erklomm er die höchsten Bäume und schwang sich mit gewaltigen Sprüngen von einem zum anderen, als hätte er Flügel. Überall witterte er die Anwesenheit anderer Tiere.
Immer tiefer drang er in den Wald ein und betrat den weichen Boden erst wieder, als er keine menschlichen Stimmen mehr hörte. Nur noch der Regen sang sein Lied, und tausend kleine Kreaturen, deren Namen er nicht kannte, waren in Farnen und Zweigen zu hören. Über ihm raschelten Vögel in den Bäumen.
Er lachte und summte vor sich hin, streifte ziellos umher und kletterte schließlich in den Wipfel eines hohen Baums. Der Regen prasselte wie Nadeln auf seine Augen, aber er kletterte immer weiter, bis die Zweige zu dünn wurden, um sein Gewicht zu tragen. Schließlich stieg er wieder hinab und tanzte mit ausgestreckten Vorderbeinen auf dem weichen, feuchten Waldboden.
Er warf den Kopf in den Nacken und stieß einen wilden Schrei aus, der in lang anhaltendes Geheul überging. Eine Antwort bekam er nicht. Nur Geflatter und Geraschel war zu hören, als kleine Lebewesen vor ihm die Flucht ergriffen.
Er ließ sich auf alle viere nieder und lief lautlos und schnell durch den dichten Wald. Plötzlich witterte er ein anderes Tier – ein Luchs –, der von seinem Ruheplatz aufgeschreckt war und vor ihm floh. Hungrig folgte er der Fährte und schlug zu, als er das Tier erreichte. Es knurrte und wehrte sich, aber er packte es am Fell und schlug ihm die Zähne ins Fleisch.
Dieses Mal ließ er sich nicht von der ersehnten Mahlzeit abhalten.
Er riss das saftige Muskelfleisch von den Knochen und zermalmte es mit den Zähnen. Zusammen mit Knochen und Fell verschlang er alles, was er kriegen konnte, schlürfte genüsslich das Blut, die weichen Innereien, den Bauchspeck. Gut vierzig Pfund Beute verleibte er sich ein und ließ nur die Pfoten und den Kopf übrig, aus dem ihm feindselige gelbe Augen entgegenstarrten.
Reuben atmete schwer und winselte leise, als er sich die letzten Blutstropfen von den Zähnen leckte. Ein Luchs – was für ein Festmahl! Katzen bettelten niemals um Gnade. Sie kämpften bis zum Schluss. Das erhöhte den Genuss.
Doch plötzlich überkamen ihn Horror und Ekel. Er hatte sich auf allen vieren fortbewegt und wie ein Tier gefressen.
Aufrecht ging er weiter und überquerte einen Bach auf einem dicken, bemoosten Baumstamm, auf dem seine Klauen sicheren Halt fanden. Immer tiefer drang er in die Schlucht ein, tiefer als je zuvor, bis er die Bergflanke des Mount Tamalpais erreichte.
Irgendwann legte er sich hin und schmiegte sich an die raue Rinde eines Baums. Er blinzelte in die Dunkelheit, und zum ersten Mal sah er mehr Kreaturen, als er in dieser Umgebung vermutet hatte. Er witterte Füchse, Eichhörnchen, Streifenhörnchen und noch allerlei Getier, das er nicht identifizieren konnte.
Als er sich ausgeruht hatte, streifte er weiter umher, bis sich der Hunger wieder meldete. Er beugte sich zu einem Bach hinunter und verfolgte die schnellen Bewegungen der Winterlachse. Als er mit der Pfote ins Wasser fuhr, erwischte er einen großen, zappelnden Fisch und schlug die Zähne hinein.
Das rohe Fleisch war köstlich und schmeckte ganz anders als der saftig-sehnige Luchs.
War es wirklich Hunger, den er stillte? Nein, es musste etwas anderes sein. Er machte sich mit seiner neuen Existenz vertraut und probierte aus, was alles möglich war.
Wieder erklomm er einen Baum und suchte die wankenden Zweige nach Vogelnestern ab. Er fraß alle Eier, die er finden konnte, ohne sich von den kreischenden Vogelmüttern stören zu lassen, die ihn umschwirrten und auf ihn einhackten.
Zurück am Bachufer, reinigte er Gesicht und Pfoten im eiskalten Wasser. Dann stieg er ins Bachbett und nahm ein Bad, indem er sich das Wasser auf Kopf und Schultern spritzte. Er wollte das Blut abwaschen, bis nichts mehr davon zu sehen war. Es war wunderbar erfrischend. Er ließ sich auf die Knie nieder und trank, als hätte er sein Leben lang seinen Durst nicht stillen können. Er schleckte das Wasser auf und verschluckte es in großen Zügen.
Der Regen prasselte auf die Wasseroberfläche und zwang ihr sein Muster auf. Darunter tummelten sich die Fische und zogen ihre Bahnen.
Wieder erklomm er einen Baum, um den Wald weiter in der Höhe zu durchstreifen. Keine Sorge, Vögelchen, ich tu euch nichts. «Du sollst das Zicklein nicht in der Milch der Mutter kochen», heißt es in der Bibel. Das hatte er auch nicht vor.
Wie schon früher konnte er trotz der Wolken die Sterne sehen. Es war wunderschön, wie sich der Himmel über Nebel und Wolken wölbte. Der Regen überzog die Bäume mit silbernem Licht. Überall auf den Blättern rings um ihn glitzerte und wisperte der Regen. Er sammelte sich auf den oberen Zweigen und fiel auf die darunter, immer weiter, bis er die Welt unter ihm benetzte. Regen, Regen und wieder Regen. Er machte die jungen Farne und die dichte Laubdecke des Waldbodens weich und ließ alles frisch und würzig duften.
An seinem Körper konnte er den Regen nicht spüren, nur auf den Augenlidern. Aber riechen konnte er ihn. Alles, was er nährte und reinigte, veränderte sein Aroma.
Langsam kletterte Reuben wieder herunter und ging auf dem Waldboden weiter, aufrecht und vollkommen gesättigt. Er fühlte sich erstaunlich sicher, und es amüsierte ihn, dass er keinem Lebewesen begegnete, das keine Angst vor ihm gehabt hätte.
Dass er die drei niederträchtigen Männer ausgelöscht hatte, widerte ihn an, und ihm war zum Weinen zumute. Aber konnte er weinen? Konnten wilde Tiere weinen? Ein heiseres Lachen entfuhr seiner Kehle.
Ihm war, als hörten die Bäume ihm zu. Doch war es nicht eine anmaßende Vorstellung, dass sich diese tausendjährigen Wächter des Waldes darum scherten, wer oder was außer ihnen hier lebte? Was für gewaltige Gebilde diese Redwoodbäume waren, so viel größer und stärker als alles andere in ihrer natürlichen Umgebung! Was für wunderbare göttliche Geschöpfe!
Noch nie war ihm eine Nacht schöner vorgekommen. Er konnte sich gut vorstellen, für immer so zu leben, sich selbst genug, stark und völlig angstfrei. Wenn dieser Zustand das Geschenk der Wölfe war, war er nur zu gern bereit, es anzunehmen.
Doch er hatte Angst, dass diese bewussten Empfindungen dem Tier in ihm geopfert werden könnten. Für den Moment aber war für ihn alles Poesie, und er trat seiner Umwelt mit Hochachtung und Demut gegenüber.
Plötzlich fiel ihm ein Lied ein, ein altes Lied. Er wusste nicht mehr, wo er es gehört hatte. Er begann es leise zu summen, während er sich den genauen Text in Erinnerung zu rufen versuchte.
Dabei näherte er sich einer von hohen Gräsern bewachsenen Lichtung. Das Mondlicht, das durch die tiefhängenden Wolken sickerte, war hier viel stärker. Nach der Enge des Waldes waren die im Regen schimmernden Gräser ein ganz bezaubernder Anblick.
Tanzend begann er sich im Kreis zu drehen, während er sang. Seine Stimme klang tief und klar. Es war nicht die Stimme des alten Reuben, des nichtsahnenden, ängstlichen Reuben. Es war die Stimme des Reuben, zu dem er in dieser Nacht geworden war.
Das Geschenk der Einfachheit,
das Geschenk der Freiheit,
das Geschenk tief in uns drinnen,
auf das Richtige zu sinnen.
Wenn wir uns finden
am rechten Platz,
sind Liebe und Freude unser Schatz.
Wieder und wieder sang er diese Zeilen, tanzte mit geschlossenen Augen und drehte sich immer schneller. Irgendwann war ihm, als erschiene ein Licht vor seinen Augenlidern, ein schwaches, fernes Licht, aber er beachtete es nicht, sondern sang und tanzte weiter.
Dann hörte er plötzlich auf.
Er hatte etwas gewittert – einen starken, unerwarteten Geruch, süßlich und mit Parfüm vermischt.
Jemand war ganz in der Nähe. Als er die Augen öffnete, sah er einen Lichtschein im Gras. Der Regen schien an dieser Stelle aus purem Gold zu sein.
Er witterte keinerlei Gefahr. Es war ein menschlicher Geruch, ganz rein, unschuldig und furchtlos.
Er schaute sich um. Sei sanft und freundlich, sagte er sich. Der andere wird sich vor dir fürchten, vor Angst vielleicht sogar außer sich sein. Und er ist ein Zeuge.
Ein Stück entfernt stand eine Frau auf der Veranda eines dunklen Hauses und sah in seine Richtung. In einer Hand hielt sie eine Laterne.
In der Dunkelheit reichte der Schein der Laterne weit, auch wenn er in der Ferne immer schwächer wurde. Jedenfalls war es so hell, dass sie ihn sehen konnte.
Sie stand ganz still und schien ihn inmitten der hohen Gräser aufmerksam zu beobachten. Sie hatte langes Haar, das in der Mitte gescheitelt war, und große, schattige Augen. Das Haar schien grau zu sein, fast weiß, aber das mochte im diffusen Licht täuschen. Reuben konnte keine Einzelheiten erkennen. Die Frau trug ein langes weißes Nachthemd, und sie war ganz allein. In dem dunklen Haus hinter ihr war niemand.
Hab keine Angst!
Das war sein erster und einziger Gedanke. Wie klein und zerbrechlich sie wirkte! Wie ein unterlegenes, schwaches Tier, das ihm bei Laternenschein entgegenstarrte.
Bitte hab keine Angst!
Reuben fing wieder an zu singen, dieselbe Strophe und mit derselben tiefen, klaren Stimme wie zuvor, dieses Mal aber ruhiger und langsamer. Dabei bewegte er sich vorsichtig auf die Frau zu, bis er direkt im Lichtkegel der Laterne stand.
Die Frau rührte sich nicht. Sie schien neugierig und vollkommen fasziniert zu sein.
Reuben ging immer näher, bis er am Fuße der Veranda stand.
Tatsächlich hatte die Frau weißgraues Haar. Das war erstaunlich, denn ihr Gesicht war so glatt wie Porzellan. Ihre Augen waren eisblau. Von nahem war zu sehen, dass sie wirklich fasziniert war, denn sie konnte den Blick nicht von Reuben abwenden.
Was aber sah sie da? Sah sie, dass er sie mit der gleichen Neugier und Faszination musterte?
Tief in seinem Inneren erwachte ein Verlangen, dessen Unbedingtheit ihn überraschte. Sein Glied versteifte sich. Konnte sie es sehen? Konnte sie sehen, dass er nackt war und seine Lust nicht verbergen konnte? Dass sie sich sogar sekündlich steigerte, ihn stärkte und erdreistete?
Ein Verlangen wie dieses hatte er bislang nicht gekannt.
Er ging die Stufen zur Veranda hinauf. Als er oben war, überragte er die Frau, und sie wich zurück. Doch nicht vor Angst. Im Gegenteil. Er schien ihr willkommen zu sein.
Woher kam diese bemerkenswerte Furchtlosigkeit? Warum wirkte sie so heiter, als sie ihm in die Augen blickte? Sie war etwa dreißig, vielleicht etwas jünger. Eine zarte Person mit vollem, sinnlichem Mund und schmalen, aber starken Schultern.
Langsam streckte er eine Vorderpfote nach ihr aus. Langsam genug, um ihr Zeit zur Flucht zu geben. Aber sie rührte sich nicht. Er nahm ihr die Laterne aus der Hand und stellte sie auf die Holzbank vor der Hauswand. Die Tür war nur angelehnt. Dahinter brannte ein sehr schwaches Licht.
Reuben begehrte diese Frau so sehr, dass er ihr am liebsten das Nachthemd vom Leib gerissen hätte.
Ganz vorsichtig griff er nach ihr und umarmte sie. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Sein Verlangen nach ihr war genauso stark und unbezwingbar wie vorher sein Drang zu töten und die Gier nach blutigem Fleisch. Wilde Tiere kannten keine Zurückhaltung. Was sie wollten, holten sie sich sofort und auf der Stelle.
Im Schein der Laterne sah ihre Haut weiß und zart und wunderschön aus. Sie öffnete die Lippen und stieß überrascht einen leisen Ton aus. Vorsichtig näherte Reuben sich ihren Lippen mit der Pfote.
Dann hob er sie hoch und nahm ihre Beine auf sein linkes Vorderbein. Sie war federleicht, legte einen Arm um seinen Hals und fuhr mit den Fingern in sein Fell.
Mit diesen einfachen Gesten steigerte sie seine Lust, und ihm entfuhr ein leises Stöhnen.
Er musste sie haben, wenn sie es zuließ. Und ganz offensichtlich ließ sie es zu.
Er trug sie zur Tür, stieß sie auf und trug sie ins warme Haus.
Der Geruch von gepflegter Häuslichkeit schlug ihm entgegen – ein polierter Fußboden, parfümierte Seife, Kerzen, etwas Weihrauch, ein Feuer. Und dann der süße Duft, den die Frau selbst verströmte. O Fleisch, o gesegnetes Fleisch! Wieder stöhnte Reuben vor Lust auf. Aber konnte sie sein Stöhnen deuten? Wusste sie, dass es nicht gefährlich war, sondern pure Lust ausdrückte?
In einem Herdfeuer war noch Glut. Das Display einer Digitaluhr leuchtete schwach.
Gleich darauf befanden sie sich im Schlafzimmer. An der Wand stand ein antikes Bett mit einem Kopfteil aus goldbemaltem Eichenholz. Die weißen Laken und Kissen sahen aus, als seien sie weich wie Schaum.
Die Frau hielt sich an ihm fest. Durch das dichte Fell konnte er ihre Finger zuerst kaum spüren, doch dann leitete jedes Haar die Berührung bis in die Wurzel. Als Nächstes berührte die Frau seinen lippenlosen Mund, den schmalen Streifen schwarzen Fleisches. Sie berührte seine Zähne. Erkannte sie, dass er sie anlächelte? Sie packte fester in seine Mähne.
Er küsste sie auf Kopf und Stirn. Hmmm! Ihre Haut war wie Satin. Dann küsste er sie auf die Augen, die sie bereitwillig schloss.
Ihre Augenlider waren wie Seide. Ein Wesen aus Seide und Satin, ohne Fell, duftend, blütenweich.
Wie nackt und verletzlich sie wirkte! Bitte, Liebste, überleg es dir jetzt nicht anders!
Zusammen sanken sie aufs Bett, aber um ihr nicht weh zu tun, passte er auf, dass sie nicht sein volles Gewicht zu spüren bekam. Er schmiegte sich eng an sie, hielt sie fest und strich ihr das Haar aus der Stirn. Weiß und grau mit viel weichem Flaum.
Er beugte sich vor, um sie auf den Mund zu küssen, und sie öffnete die Lippen. Er atmete in ihren offenen Mund.
«Vorsichtig», flüsterte sie und strich ihm die Haare aus den Augen.
«Oh, meine Schöne!», flüsterte er. «Ich werde dir nicht weh tun. Lieber würde ich sterben, als dir weh zu tun. Darauf gebe ich dir mein Wort.»