13

Pater Jim schloss seine Kirche, St. Francis at Gubbio im Stadtteil Tenderloin, sobald es dunkel wurde. Tagsüber schliefen die Obdachlosen auf den Kirchenbänken und bekamen ein Stück weiter die Straße runter ein warmes Mittagessen, doch abends wurde die Kirche aus Sicherheitsgründen geschlossen.

Das wusste Reuben.

Er wusste auch, dass sein Bruder abends um zehn – also jetzt – in seiner kleinen spartanischen Wohnung in einem heruntergekommenen Mietshaus gegenüber dem Friedhof tief und fest schlief.

In den ersten Jahren nach Dienstantritt hatte Jim im alten Pfarrhaus gewohnt, aber jetzt waren dort Gemeindebüros und Lagerräume untergebracht. Mit Zustimmung des Erzbischofs hatten Grace und Phil die kleine Wohnung gekauft, kurz darauf dann das ganze Gebäude, und Jim hatte daraus nach und nach eine mehr oder weniger respektable Bleibe für die zuverlässigeren Bewohner der Gegend gemacht.

Reuben trug seinen braunen Trenchcoat und ein Kapuzenshirt, seine Pfoten und Klauen waren unbeschuht. So war er über die Dächer zur Kirche gelangt. Dann ließ er sich in den kleinen dunklen Friedhof hinunter. Drei Stunden zuvor hatte er sich verwandelt. Seitdem versuchte er, die Stimmen zu ignorieren, die von allen Seiten nach ihm riefen. Er konnte nicht mehr kämpfen.

Er rief seinen Bruder mit dem Handy an. Inzwischen konnte er seine Pfoten geschickter benutzen, sodass ihm die Bedienung keine Schwierigkeiten mehr machte.

«Ich möchte eine Beichte ablegen, in der Kirche», sagte er. Seine tiefe, kehlige Stimme war ihm selbst inzwischen vertraut, aber er wusste, dass Jim sie nicht erkannte. «Im Beichtstuhl. Bitte!»

«Und es muss jetzt sein?», fragte Jim ganz verschlafen.

«Ich kann nicht länger warten. Ich brauche einen Priester. Und Gott. Sie werden es verstehen, wenn Sie mich angehört haben.»

Jedenfalls hoffte Reuben das.

Reuben band sich den Schal vor den Mund und rückte die Sonnenbrille zurecht, als er vor der Kirche wartete.

Jim, ganz der pflichtbewusste Priester, beeilte sich und staunte, als er sah, dass der reuige Sünder schon längst auf ihn wartete. Auch die Größe des Mannes überraschte ihn. Aber er ließ sich nichts anmerken, nickte nur und schloss das schwere Kirchenportal auf.

Reuben fand ihn ziemlich mutig. Immerhin könnte er fürchten, dass der große, kräftige Fremde ihm eins über den Kopf zog und dann die goldenen Kerzenständer raubte. Er fragte sich, wie oft Jim wohl nachts aus dem Bett geholt wurde und warum er sich ein Leben ausgesucht hatte, das nur aus Opfern und anstrengender Arbeit bestand. Dazu gehörte, dass er jeden Tag Suppe und Fleisch an Leute austeilte, die ihn oft genug hintergingen, sowie die tägliche Morgenandacht, bei der so getan wurde, als seien die Oblaten und der Wein tatsächlich «der Leib und das Blut Christi».

St. Francis war eine der prachtvollsten Kirchen der Stadt, erbaut lange bevor Tenderloin zum bekanntesten Problemviertel von San Francisco wurde. Sie war groß, die Kirchenbänke waren mit kunstvollen Schnitzereien versehen, und an den Wänden prangten üppige Goldmalereien. Auch die drei romanischen Rundbögen über dem Altar waren reich bemalt, genau wie die Seitenaltäre für den heiligen Joseph und die Jungfrau Maria. Im hinteren Teil des Kirchenschiffs standen alte holzgeschnitzte Beichtstühle. Es waren dreiteilige Häuschen mit Kabinen für die reuigen Sünder zur Rechten und Linken und dem Sitz des Priesters in der Mitte, abgeteilt durch hölzerne Gitterpaneele.

Es war jedoch nicht unbedingt nötig, diese Kabinen aufzusuchen, wenn man beichten wollte. Genauso gut konnte man seine Beichte auf einer Parkbank, in einem ganz gewöhnlichen Zimmer oder sonst wo ablegen. Reuben wusste das sehr wohl. Aber was er jetzt brauchte, war ein hochoffizieller Akt, der zugleich höchster Geheimhaltung bedurfte. So wollte Reuben es haben, und so hatte er es arrangiert.

Er folgte Jim zu den Beichtstühlen. Schon länger benutzte Jim nur noch einen, den vordersten. Reuben wartete geduldig vor dem Beichtstuhl, während Jim die kleine Seidenstola hervorholte und sich über die Schultern legte. Reuben wusste, dass dem Sünder damit signalisiert wurde, nun sei der Priester bereit, das Beichtsakrament zu spenden.

Erst dann nahm Reuben die Sonnenbrille ab und lockerte den Schal, sodass sein Gesicht zu sehen war.

Jim sah nur flüchtig zu ihm hinüber, als er ihn mit einer Handbewegung aufforderte, in die Beichtkabine zu gehen. Doch dieser flüchtige Blick genügte.

Jim sah den Tierkopf, der seine eigene Körpergröße überragte. Erschrocken riss er den Mund auf, schnappte nach Luft und taumelte an den Beichtstuhl. Dabei hob er die rechte Hand und bekreuzigte sich. Dann schloss er die Augen, und als er sie wieder öffnete, wirkte er entschlossen, es mit der Bestie aufzunehmen.

«Die Beichte», sagte Reuben und öffnete die Tür der Kabine. Dann signalisierte er Jim mit der Pfote, dass er in seinem Teil des Beichtstuhls Platz nehmen solle.

Jim brauchte einen Moment, um sich von dem Schreck zu erholen.

Für Reuben war es beklemmend, ihn unter diesen Umständen zu sehen, zumal Jim nicht wusste, dass das Monster, das ihm gegenübersaß, sein Bruder war. Wann kam es denn auch vor, dass man einem Bruder gegenübersaß, der einen wie einen Wildfremden ansah?

Jetzt wusste er mehr über seinen Bruder, als er bei ihrem alltäglichen Kontakt je erfahren hätte, nämlich dass er mutiger und pflichtbewusster war, als Reuben erwartet hatte, und trotz seiner Angst die Ruhe bewahren konnte.

Reuben ging in die Beichtkabine und zog den Samtvorhang hinter sich zu. Es war eng dadrinnen – ein Raum für normal proportionierte Männer und Frauen. Er kniete sich auf die gepolsterte Holzleiste, die ohnehin dafür vorgesehen war, und wandte sich dem Gitter zu, hinter dem Jim gerade die Hand hob, um den Beichtenden zu segnen.

«Ich habe gesündigt, Pater», sagte Reuben. «Was ich jetzt sagen werde, muss ein Beichtgeheimnis bleiben.»

«Natürlich», sagte Jim. «Sind deine Absichten aufrichtig?»

«Vollkommen. Ich bin dein Bruder, Reuben.»

Jim sagte nichts.

«Ich habe den Vergewaltiger in North Beach und die Männer im Golden Gate Park getötet. Ich habe auch die Frau am Buena Vista Hill erschlagen, die das alte Ehepaar gefoltert hatte. Und dann habe ich die Kidnapper von Marin County getötet, als ich die Kinder befreite. Leider kam ich zu spät, um alle zu retten. Zwei waren schon tot. Ein weiteres Mädchen, das zuckerkrank war, ist heute Morgen gestorben.»

Schweigen.

«Ich bin wirklich dein Bruder», sagte Reuben. «Alles hat mit dem Überfall in Mendocino angefangen. Ich weiß nicht, was für eine Kreatur mich da angefallen hat. Ich weiß auch nicht, ob sie es war, die mir diese Kraft verliehen hat. Aber ich weiß, was für eine Kreatur ich jetzt bin.»

Wieder nur Schweigen. Jim schien völlig entgeistert vor sich hin zu starren.

Reuben fuhr fort: «Jeden Abend verwandle ich mich, und jeden Abend geht meine Verwandlung eher los. Heute schon um sieben. Ich weiß nicht, ob ich lernen kann, das zu verhindern oder es willentlich herbeizuführen. Ich weiß auch nicht, warum ich mich im Morgengrauen immer in meine menschliche Gestalt zurückverwandle. Ich weiß nur, dass ich dann vor Erschöpfung halbtot bin.

Du fragst dich, wie ich meine Opfer finde? Ich höre die Hilferufe und spüre die Furcht der unschuldigen Menschen. Und ich rieche das Böse der Angreifer. Ich rieche es, wie ein Hund oder ein Wolf seine Beute riecht.

Den Rest kennst du. Du hast es ja in der Zeitung gelesen und in den Nachrichten gehört. Mehr kann ich dir nicht sagen.»

Schweigen.

Reuben wartete.

In der engen Kabine war ihm unerträglich warm. Aber er wartete.

Schließlich begann Jim zu sprechen. Seine Stimme war so heiser und leise, dass Reuben ihn kaum verstehen konnte.

«Wenn du mein kleiner Bruder bist, musst du Dinge wissen, die nur er wissen kann. Sag etwas, das mir beweist, wer du wirklich bist.»

«Herrgott, Jimmy, ich bin’s», sagte Reuben. «Mom weiß nichts davon, Phil auch nicht. Auch Celeste hat keine Ahnung. Niemand weiß es, Jim, niemand außer einer Frau – und die weiß nicht, wer ich wirklich bin. Sie kennt mich nur als Wolfsmensch. Falls sie die Polizei, das FBI, die Gesundheitsbehörde oder die CIA verständigt hat, ist es zumindest nicht publik gemacht worden. Ich sage es dir, Jim, weil ich dich brauche. Du musst Bescheid wissen. Ich bin mit dieser Sache ganz allein, Jim. Völlig allein. Glaub mir, ich bin wirklich dein Bruder. Immer noch. Und jetzt sprich bitte mit mir!»

Reuben sah, wie Jim die Hand vors Gesicht hielt und sich räusperte.

«Okay», sagte er schließlich und lehnte sich zurück. «Gib mir eine Minute, Reuben. Du weißt ja, dass man Priester mit der Beichte nicht schockieren kann. Aber ich glaube, das gilt nicht, wenn der Bußwillige ein …»

«Ein Tier ist», sagte Reuben. «Ich bin ein Werwolf, Jim. Allerdings würde ich mich lieber als Wolfsmensch bezeichnen. Auch wenn ich mich verwandelt habe, bleibt mein menschliches Bewusstsein intakt. Das merkst du ja gerade selbst. Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Wenn ich verwandelt bin, werden Hormone oder so etwas in mir aktiv, die mich emotional verändern. Auch dann bin ich Reuben, aber ein Reuben, der merkwürdigen Einflüssen unterliegt. Kein Mensch weiß, in welchem Maße Hormone und Gefühle den freien Willen beeinflussen, wie sie das Gewissen, Hemmschwellen und die Moral verändern.»

«Das stimmt. Und es stimmt auch, dass niemand anders das so ausdrücken würde wie mein kleiner Bruder Reuben.»

«Phil Golding hat seine Söhne nicht umsonst dazu erzogen, über ethische Fragen nachzudenken.»

Jim lachte. «Und wo ist Phil jetzt, da ich ihn brauche?»

«Lass ihn außen vor, Jim. Das hier muss unter uns bleiben.»

«Ist ja schon gut.»

Reuben zögerte, ehe er sagte: «Es ist ganz einfach, Menschen zu töten, die nach Schuld riechen. Nein, das stimmt so nicht. Sie riechen nicht nach Schuld. Sie riechen nach der Absicht, Böses zu tun.»

«Und wie ist es mit anderen, mit unschuldigen Menschen?»

«Die riechen einfach nur nach Mensch. Unschuldig, gesund, gut. Wahrscheinlich hat mich die Kreatur in Mendocino deswegen leben lassen. Ich habe sie überrascht, als sie gerade die beiden Mörder angriff. Auf mich hatte sie es nie abgesehen, ich habe sie lediglich gestört. Aber als sie von mir abließ, wusste sie vielleicht sogar, was sie mit mir getan hatte, dass sie mich sozusagen infiziert hatte.»

«Aber du weißt nicht, wer oder was es war?»

«Nein, noch nicht. Aber ich werde es herausfinden, wenn es irgend möglich ist. Es steckt mehr dahinter, als man auf den ersten Blick meinen möchte. Es betrifft das Haus und die ganze Familiengeschichte. Aber noch kann ich das Ganze nicht durchblicken.»

«Und heute? Hast du heute jemanden getötet?»

«Nein, hab ich nicht. Aber die Nacht ist noch jung, Jim.»

«Die ganze Stadt ist auf der Suche nach dir. Sie haben noch mehr Kameras an den Verkehrsampeln installiert. Spezialeinheiten bewachen die Hausdächer. Außerdem gibt es jetzt die Möglichkeit, die Hausdächer via Satellit zu überwachen. Man weiß, dass du dich über die Dächer der Stadt bewegst. Sie werden dich kriegen, Reuben! Und dann werden sie auf dich schießen. Man wird dich töten, Reuben!»

«So einfach ist das nicht, Jim. Lass das meine Sorge sein.»

«Nein, Reuben. Ich will, dass du dich den Behörden stellst. Ich begleite dich nach Haus. Wir rufen Simon Oliver an und weihen den Strafverteidiger der Kanzlei ein. Wie heißt er doch gleich? Gary Paget. Und dann …»

«Hör auf, Jim! Das alles werden wir nicht tun.»

«Du brauchst Hilfe, Kleiner! Du greifst Menschen an und reißt sie in Stücke! Was willst …»

«Hör auf, Jim!»

«Erwartest du von mir, dass ich dir dafür Absolution erteile?»

«Ich bin nicht wegen der Absolution hier, das weißt du ganz genau. Ich bin gekommen, um dir ein Geheimnis anzuvertrauen, Jim. Du darfst niemandem etwas davon sagen. Du hast es vor Gott versprochen.»

«Das stimmt. Trotzdem musst du tun, was ich dir sage. Du musst zu Mom gehen und ihr alles erklären. Sie soll dich durchchecken und rausfinden, was körperlich mit dir vorgeht, wie und warum diese Verwandlung über dich kommt. Mom ist von einem Spezialisten aus Paris angesprochen worden, einem russischen Arzt mit einem merkwürdigen Namen, Jaska, glaube ich. Dieser Mann sagt, er hat schon mehrere solcher Fälle gesehen … Menschen, mit denen rätselhafte Veränderungen vorgingen. Du bist also nicht der Erste, Reuben, und du …»

«Niemals!»

«Wir leben doch nicht mehr im Mittelalter, Reuben! Und das hier sind nicht die düsteren Straßen vom London des neunzehnten Jahrhunderts. Mom ist die ideale Person, um Licht in dieses …»

«Ist das dein Ernst? Meinst du, Mom sollte mit diesem Jaska eine Art Frankenstein-Labor einrichten und dann heimlich an mir herumforschen? Stellen sie dann auch einen buckligen Helfer namens Igor ein, der Kernspinuntersuchungen durchführt und Chemikalien zusammenrührt? Meinst du, sie sollte mich an einen im Boden verankerten Stuhl fesseln, wenn die Sonne untergeht, damit ich mein Unwesen nur in meiner kleinen Zelle treibe und der Rest der Menschheit unbehelligt bleibt? Das kann nicht dein Ernst sein! Ein Wort zu Mom, Jim, und ich bin erledigt. Sie würde alle führenden Köpfe zu Hilfe rufen und sich nicht allein auf diesen Pariser Russen verlassen. Du kennst sie doch. Sie würde glauben, dass die Welt das von ihr erwartet, und selbstverständlich würde sie sich als Erstes ans Telefon hängen und die Gesundheitsbehörde verständigen. Abgesehen davon würde sie mich natürlich sofort einsperren, damit ich nicht noch mehr ‹Unheil› anrichte, und dann wäre ich erledigt, Jim. Es wäre mein Ende. Oder der Anfang einer Existenz als Versuchskaninchen hinter Schloss und Riegel. Was glaubst du, wie lange es dauern würde, bis sie mich in irgendeine Einrichtung sperren? Selbst Mom könnte das nicht verhindern.

Ich will dir sagen, was vor zwei Tagen in Buena Vista passiert ist. Die Frau hat auf mich geschossen, Jim, und die Wunde war bereits am nächsten Morgen verheilt. Die Kugel ist durch meine Schulter gegangen, aber davon ist nichts mehr zu sehen, und ich habe keinerlei Beschwerden.

Für den Rest meines Lebens würde man mir Tag und Nacht Blut abnehmen, um rauszufinden, was mir diese regenerative Kraft verleiht. Man würde Proben von meinen Organen nehmen, sogar von meinem Gehirn, falls niemand interveniert. Alle nur erdenklichen Instrumente würden zum Einsatz kommen, um herauszufinden, wie und warum meine Verwandlung vonstattengeht, welche Hormone mein Körperwachstum steuern und mir Reißzähne, Klauen und ein Fell wachsen lassen. Und man wird natürlich erforschen, was mir so viel Kraft gibt und mich so aggressiv macht. Man würde versuchen, die Verwandlung gezielt herbeizuführen. Und es würde nicht lange dauern, bis man begreift, dass diese merkwürdige Sache, die da mit mir passiert, nicht nur in Bezug auf Lebenserwartung und Wundheilung interessant ist, sondern auch in Bezug auf die Landesverteidigung. Man würde darüber nachdenken, ein Eliteheer von Wolfssoldaten für den Guerillakampf heranzuzüchten, das überall auf der Welt eingesetzt werden könnte, wo konventionelle Methoden nutzlos sind.»

«Okay, du kannst aufhören. Offenbar hast du gründlich darüber nachgedacht.»

«Allerdings», sagte Reuben. «Ich habe den ganzen Tag in einem Motelzimmer gelegen, die Nachrichten verfolgt und an nichts anderes denken können. Ich musste auch an die Geiseln in Kolumbien denken und wie leicht es für mich wäre, zu ihnen zu gelangen und sie zu befreien. Lauter so Zeug ging mir durch den Kopf. Aber erst jetzt, da ich mit dir rede, wird mir klar, welche Konsequenzen meine Entdeckung hätte.» Er zögerte, und als er weitersprach, klang seine Stimme brüchig. «Du weißt gar nicht, was es für mich bedeutet, mit dir zu reden, Jim. Wir müssen uns darüber klarwerden, was da mit mir passiert. Lass uns darüber reden!»

«Es muss doch irgendjemanden geben, dem du trauen kannst», sagte Jim. «Jemanden, der erforscht, was mit dir passiert, ohne dich zu verraten.»

«Den gibt es aber nicht, Jimmy. Deswegen enden die Werwolf-Filme immer mit einer silbernen Kugel.»

«Ist das realistisch? Kann nur eine silberne Kugel dich töten?»

Reuben lachte leise. «Keine Ahnung. Bis jetzt weiß ich nur, dass mir ein Messer und eine gewöhnliche Kugel nichts anhaben können. Vielleicht gibt es eine ganz einfache Methode, mich zu töten … irgendein Gift. Ich weiß es nicht.»

«Verstehe. Ich verstehe jetzt auch, warum du Mom nicht trauen kannst. Trotzdem glaube ich, dass man sie dazu kriegen könnte, alles geheim zu halten, weil sie dich liebt, Kleiner, und weil sie deine Mutter ist. Aber vielleicht täusche ich mich. Jedenfalls würde es Mom völlig aus der Fassung bringen, so viel steht fest, egal wie sie damit nach außen hin umgehen würde.»

«Das ist auch etwas, das ich bedenken muss», sagte Reuben. «Ich darf die Menschen, die ich liebe, nicht damit belasten. Es könnte sie aus der Bahn werfen.»

Deswegen will ich hier weg und Laura in ihrem Waldhaus wiederfinden. Ich sehne mich so sehr nach ihr, weil sie aus irgendeinem Grund keine Angst vor mir hat und mich nicht abstoßend findet. Im Gegenteil. Sie hat mich in die Arme genommen und sich von mir in die Arme nehmen lassen …

Gedanken, die er auch beichten musste.

«Es gibt da diese Frau», sagte Reuben. «Eigentlich weiß ich gar nicht, wer sie ist. Das heißt, ich habe im Internet nachgesehen, deswegen glaube ich zu wissen, wer sie ist. Aber ich habe sie ganz zufällig getroffen und gleich bei ihr gelegen.»

«Bei ihr gelegen», sagte Jim. «Das klingt ja wie in der Bibel. Du meinst, du hattest Sex mit ihr?»

«Ja. Aber ich sage trotzdem lieber, dass ich bei ihr gelegen habe, weil … Wie soll ich sagen? Es war einfach wunderschön.»

«Na, super! Im Ernst, Reuben, du brauchst Hilfe! Du kannst mit der Kraft, die du plötzlich hast, nicht umgehen, und aus dem, was du erzählst, schließe ich, dass du auch mit der Einsamkeit nicht klarkommst.»

«Und wer sollte mir deiner Meinung nach dabei helfen?»

«Ich tu mein Bestes.»

«Ich weiß.»

«Du brauchst eine sichere Bleibe für die Nacht. Überall sind Suchtrupps unterwegs. Sie halten dich für einen Irren, der sich als Wolf verkleidet.»

«Die haben ja keine Ahnung.»

«So einfach ist das nicht, Reuben. Es gibt DNA-Spuren von Speichel, der an den Opfern gefunden wurde. Was, wenn sich herausstellt, dass es menschliche DNA ist, die DNA eines mutierten menschlichen Wesens? Was, wenn sich herausstellt, dass diese DNA abnorme Sequenzen enthält?»

«Davon verstehe ich nichts.»

«Es heißt, es gibt Probleme bei der DNA-Analyse. Probleme, von denen die Öffentlichkeit nichts erfahren soll. Das kann bedeuten, dass verfeinerte Testmethoden angewendet werden. Celeste sagt, man vermutet, dass die DNA-Spuren auf irgendeine Art manipuliert wurden.»

«Was soll das heißen?»

«Man vermutet, dass der Wolfsmensch absichtlich falsche Spuren legt, um die Behörden zum Narren zu halten.»

«Das ist doch lächerlich!»

«Außerdem bringt man die Vorfälle mit den Morden von Mendocino in Verbindung. Wenigstens tut Mom das. Sie will unbedingt, dass die beiden Junkies diesbezüglich untersucht werden. Man lässt wirklich nichts unversucht, um der Sache auf den Grund zu gehen.»

«Du meinst also, sie kriegen früher oder später heraus, dass in Mendocino ein anderer Wolfsmensch zugeschlagen hat und dass man es folglich mit zwei verschiedenen zu tun hat, die umherstreifen und ihr Unwesen treiben?»

«Keine Ahnung. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Jedenfalls solltest du nicht unterschätzen, wie leicht man dir unter Umständen auf die Spur kommen kann. Wenn deine DNA ins System eingespeist ist und sich eine Übereinstimmung mit den aktuellen Tests ergibt …»

«Aber meine DNA ist nirgendwo eingespeist. Mom sagte, irgendetwas sei mit der Probe schiefgegangen, die sie genommen hatten. Außerdem habe … hatte ich mir nie etwas zuschulden kommen lassen. Die Strafverfolgungsbehörden können meine DNA also gar nicht haben.»

«Ach, etwa weil sie sich grundsätzlich an die Spielregeln halten? Aber selbst wenn es keine DNA aus früheren Zeiten von dir gibt, muss dir klar sein, dass sie Marchent Nideck obduziert haben.» Jim regte sich immer mehr auf.

«Ich weiß», sagte Reuben.

«Und Mom sagt, dass sie bei ihr angerufen und um Gegenstände gebeten haben, mit deren Hilfe deine DNA bestimmt werden kann. Mom hat sich aber geweigert, und dieser Arzt aus Paris bestärkt sie darin, alle weiteren Untersuchungen zu boykottieren.»

«Bitte beruhige dich, Jim! Ich kann dir schon nicht mehr folgen. Du hättest in Moms Fußstapfen treten und auch Arzt werden sollen.»

Jim sagte nichts.

«Ich muss jetzt gehen», sagte Reuben.

«Nein, nicht so schnell! Wo willst du denn hin?»

«Ich muss ein paar Sachen klären, vor allem, wie ich die Verwandlung steuern und vielleicht sogar verhindern kann.»

«Dann hat es also nichts mit dem Mond zu tun?»

«Es ist keine Magie, Jim. Und nein, es hat nichts mit dem Mond zu tun. Das ist ein frommes Märchen. Tatsächlich ähnelt es eher einem Virus. Jedenfalls kommt es mir so vor. Mein Blick auf die Welt hat sich verändert, Jim, mein moralischer Kompass. Ich weiß zwar noch nicht, was ich von alledem halten soll, aber Magie ist es nicht.»

«Aber wenn es nicht von einer höheren Macht kontrolliert wird, sondern eine Art Virus ist, warum tötest du dann nur böse Menschen?»

«Das habe ich doch schon erklärt! Ich folge dem, was ich rieche und höre.» Ein kalter Schauer lief Reuben über den Rücken, als er das sagte, und er fragte sich zum wiederholten Mal, was es zu bedeuten hatte.

«Seit wann hat das Böse denn einen bestimmten Geruch?», fragte Jim.

«Weiß ich nicht», sagte Reuben. «Aber wir wissen ja auch nicht, warum Hunde Angst riechen können.»

«Hunde reagieren auf kleinste körperliche Signale. Sie können Schweiß riechen, vielleicht sogar Hormone wie Adrenalin. Willst du etwa behaupten, das Böse hätte hormonelle Aspekte?»

«Vielleicht», sagte Reuben. «Aggression, Feindseligkeit … vielleicht haben all diese Dinge einen bestimmten Geruch, den Menschen nicht wahrnehmen können. Wir wissen es nicht. Oder weißt du etwas darüber?»

Jim antwortete nicht.

«Was ist?», fragte Reuben. «Wäre es dir lieber, wenn es etwas Übernatürliches ist? Etwas Teuflisches?»

«Wann hast du mich je sagen gehört, etwas sei vom Teufel?», fragte Jim zurück. «Abgesehen davon rettest du die unschuldigen Opfer. Seit wann hat der Teufel Mitleid mit unschuldigen Opfern?»

Reuben seufzte. Ihm schwirrte der Kopf, und er konnte nicht annähernd in Worte fassen, was ihn bewegte. Er konnte nicht erklären, wie sich sein Denken verändert hatte, und zwar auch, wenn er sich nicht verwandelte. Außerdem war er sich nicht sicher, was er Jim überhaupt erklären wollte.

«Eins steht jedenfalls fest», sagte er. «Solange die Verwandlung ohne Vorwarnung über mich kommt und ich nicht weiß, wann und wie es geschieht, bin ich äußerst verletzlich. Leider bin ich der Einzige, der das Geheimnis lüften kann. Und leider hast du verdammt recht, dass sie meine DNA von Marchent haben, wenn nicht noch sonst woher. Mit der DNA haben sie Zugriff auf mich, und deswegen muss ich jetzt los.»

«Wohin denn?»

«Nach Kap Nideck. Hör mal, Pater Jim, du kannst mich dort jederzeit besuchen, und wir können in Ruhe darüber reden, wenn dir danach ist. Aber du darfst mit niemandem sonst reden.»

«Ist gut», sagte Jim. «Erlaubst du mir wenigstens, Nachforschungen anzustellen?»

Reuben verstand. Ein Priester durfte nicht nur mit niemandem über die Beichte sprechen, sondern auch sonst nichts unternehmen.

«Apropos Forschung», sagte Reuben. «Ich war heute schon zu Hause und habe mir ein paar Bücher abgeholt. Legenden, Geschichten, Gedichte, solche Sachen. Aber ich weiß, dass es in Amerika Vorfälle gab … Menschen haben Dinge beobachtet …»

«Ich weiß», sagte Jim. «Mom hat so etwas erwähnt. Auch dieser Dr. Jaska. Irgendwas über die Bestie von der Bray Road.»

«Ach, das. Da will jemand in Wisconsin eine merkwürdige Kreatur gesehen haben, einen Bigfoot oder so etwas. Die Sache ist völlig unklar und nicht besonders gut dokumentiert. Aber ich bin selbst auf ein paar Dinge gestoßen, die Licht in diese Sache bringen könnten. Der Name Nideck taucht in merkwürdigen Zusammenhängen auf, und ich versuche noch dahinterzukommen, was das zu bedeuten hat. Noch habe ich aber nichts in der Hand. Aber ja, natürlich darfst du eigene Nachforschungen anstellen.»

«Danke», sagte Jim. «Bitte bleib mit mir in Kontakt, Reuben!»

«Mach ich, Jim.»

Reuben griff nach dem Vorhang.

«Warte!», sagte Jim. «Sprich Bußgebete, Reuben! Sprich sie aus vollem Herzen!» Jims Stimme wurde ganz heiser. «Hiermit erteile ich dir Vergebung deiner Sünden.»

Es berührte Reuben zu hören, wie nahe seinem Bruder das alles ging. Mit gesenktem Kopf murmelte er: «Gott, vergib mir. Vergib meine Mordgelüste und die Tatsache, dass ich von all dem Neuen völlig fasziniert bin und es nicht mehr missen möchte. Ich wäre mir nur gern sicher, dass es etwas Gutes ist.» Er seufzte und zitierte den heiligen Augustinus: «Gott, mach mich rein, aber nicht gleich heute.»

Jim vertiefte sich ins Gebet. Schließlich sagte er: «Gott schütze dich.»

«Warum sollte er das tun?», fragte Reuben.

Mit der größten Selbstverständlichkeit sagte Jim fast kindlich naiv: «Weil er dich erschaffen hat. Egal wer oder was du bist – er hat dich erschaffen. Und er allein weiß, warum und zu welchem Zweck du bist, wie du bist.»