17
Gegen Mittag hatte Reuben seinen Wagen gerade ein Stück hügelabwärts von Lauras Haus geparkt, als sie herauskam, in einen olivgrünen Jeep stieg und in die kleine Stadt fuhr, aus der er gerade kam.
Sie ging in ein kleines Café, und Reuben sah, dass sie sich allein an einen Tisch am Fenster setzte.
Er parkte seinen Wagen und folgte ihr.
Sie saß da, als sei sie in Gedanken versunken. Sie trug ihre Cordjacke und hatte das Haar wieder mit dem schwarzen Band zurückgebunden. Reuben sah sie zum ersten Mal bei Tageslicht und fand ihre Schönheit bemerkenswert.
Wortlos setzte er sich ihr gegenüber. Er war wieder fast normal gekleidet, mit einer halbwegs akzeptablen Khakijacke, sauberem Hemd und Krawatte. Es waren die Sachen, die er am Vortag gekauft hatte. Außerdem hatte er fast eine Stunde unter der Dusche gestanden, bevor er das Motel verließ. Sein Haar war zu lang und zu dicht, aber wenigstens hatte er es sorgfältig gekämmt.
«Was wollen Sie?», fragte sie, ließ die Speisekarte sinken und sah sich gereizt nach einem Kellner um.
Reuben antwortete nicht. Ein Kellner war momentan nicht zu sehen. Die meisten Tische waren frei.
«Ich möchte hier allein sitzen und etwas essen», sagte Laura höflich, aber bestimmt. «Würden Sie sich also bitte woanders hinsetzen?»
Plötzlich wechselte ihr Gesichtsausdruck, und ihr Blick verhärtete sich, genau wie ihre Stimme.
«Sie sind Reporter», sagte sie gereizt. «Vom Observer.»
«Stimmt.»
«Was haben Sie hier zu suchen?» Sie wurde immer wütender. «Was wollen Sie von mir?» Sie sah ihn kalt an, aber Reuben sah ihr an, dass sie innerlich der Panik nahe war.
Er beugte sich vor und sagte leise: «Ich bin der junge Mann aus dem Norden.»
«Ich weiß», sagte sie, ohne zu verstehen, was er meinte. «Ich weiß genau, wer Sie sind. Ich weiß nur nicht, was Sie von mir wollen.»
Reuben dachte einen Moment nach. Wieder sah sie sich verzweifelt nach einem Kellner um, aber immer noch war keiner zu sehen. Sie wollte aufstehen und sagte: «Gut, dann gehe ich eben woanders mittagessen.» Sie bebte vor Wut.
«Warte, Laura!» Reuben griff nach ihrer Hand.
Widerstrebend setzte sie sich wieder und sah ihn misstrauisch an. «Woher kennen Sie meinen Namen?»
«Ich war gestern bei dir», sagte er sanft. «Fast die ganze Nacht, bis kurz vorm Morgengrauen.»
Noch nie hatte ihn jemand so fassungslos angesehen. Wie versteinert starrte sie ihn an. Er sah das Blut in ihren Wangen pulsieren. Ihre Unterlippe zitterte, aber sie sagte nichts.
«Ich heiße Reuben Golding», sagte er. «Da oben im Norden hat alles angefangen, in jenem Haus.»
Sie atmete tief durch, und Schweißperlen traten ihr auf Stirn und Oberlippe. Reuben hörte ihr Herz klopfen. Dann entspannten sich ihre Züge, und Tränen stiegen ihr in die Augen.
«Großer Gott», flüsterte sie und sah auf seine Hand, die immer noch auf ihrer lag. Dann hob sie den Blick und sah ihm ins Gesicht. Sie musterte ihn aufmerksam und stammelte: «Aber wer …? Wie …?»
«Ich weiß es nicht», sagte er ehrlich. «Ich weiß nur, dass ich hier verschwinden muss. Ich gehe in den Norden zurück. Das Haus in Mendocino gehört jetzt mir, das Haus, in dem alles anfing. Dahin muss ich zurück. Hier kann ich nicht bleiben, nicht nach der letzten Nacht. Kommst du mit?»
Er hatte es ausgesprochen. Aber er erwartete nichts. Oder besser: Er erwartete, dass sie ihn abwies, ihre Hand zurückzog und irgendwo außerhalb seiner Reichweite hinlegte. Sie musste erst einmal verdauen, dass die wilde Kreatur, die sie liebte, gar keine wilde Kreatur war.
«Ich weiß ja, dass du deine Arbeit hast, deine Naturführungen, deine Kunden …», begann Reuben.
Aber sie unterbrach ihn. «Es ist Regenzeit», sagte sie leise. «Zurzeit gibt es keine Führungen. Eigentlich habe ich gar nichts zu tun.»
Ihre Augen waren ganz glasig. Noch einmal atmete sie tief durch. Dann umklammerte sie seine Hand.
«Oh …», sagte er so überrascht, dass es dümmlich klang. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Schließlich fragte er: «Du kommst also mit?»
Es war unerträglich, auf ihre Antwort zu warten.
«Ja», sagte sie schließlich und nickte. «Ich komme mit.» Sie sah ihn entschlossen an, wirkte aber immer noch wie benommen.
«Ist dir klar, was das bedeutet?», fragte er.
«Egal. Ich komme mit», sagte sie.
Reuben kämpfte mit den Tränen. Er hielt ihre Hand und sah aus dem Fenster auf die verregnete Throckmorton Street, wo die Menschen vor den kleinen Läden mit Regenschirmen hin und her eilten.
«Reuben», sagte Laura und drückte ihm die Hand. Sie hatte sich von dem Schreck erholt und wurde ganz ernst. «Lass uns keine Zeit verlieren.»
Als er den Porsche auf den Panoramic Highway lenkte, musste sie lachen. Sie konnte gar nicht wieder aufhören. Eine ungeheure Anspannung schien sich zu entladen.
Reuben sah sie fragend an. «Was gibt’s da zu lachen?»
«Du musst zugeben, dass es nicht unkomisch ist», sagte sie. «Sieh dich doch nur an!»
Reuben war wie vor den Kopf gestoßen.
Plötzlich hörte sie auf zu lachen. «Tut mir leid», sagte sie mit ehrlichem Bedauern. «Ich hätte nicht lachen sollen. Aber … wie soll ich sagen? Du bist einer der bestaussehenden Männer, die ich kenne.»
«Oh», sagte er verblüfft. Er konnte sie nicht ansehen. Wenigstens hatte sie ihn nicht Sonnyboy genannt. «Ist das gut oder schlecht?»
«Fragst du das im Ernst?»
Er zuckte mit den Schultern.
«Es ist nur sehr überraschend», sagte sie. «Tut mir wirklich leid, dass ich gelacht habe, Reuben.»
«Schon gut. Ist nicht so wichtig.»
Sie erreichten die Schottereinfahrt zu Lauras Haus. Reuben beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Sie schien immer noch ein schlechtes Gewissen zu haben. Er grinste und versicherte ihr, dass alles in Ordnung sei. Augenblicklich hellte sich ihre Miene auf.
«Es ist wie im Froschkönig», sagte sie. «Bloß ohne Frosch.»
«Nein», sagte Reuben. «Das hier ist eine andere Geschichte, eher die von Dr. Jekyll und Mr. Hyde.»
«Nein, überhaupt nicht», widersprach Laura. «Auch nicht Die Schöne und das Biest. Es ist eine ganz neue Geschichte.»
«Stimmt», sagte er. «Es sei denn, der nächste Satz lautet: Verschwinde aus Dodge, diese Stadt ist zu klein für uns beide!»
Laura beugte sich vor und küsste ihn – ihn, nicht den fellbedeckten Wolfsmenschen.
Er nahm ihr Gesicht in die Hände und küsste sie zärtlich. Es fühlte sich ganz anders an als in Wolfsgestalt, und er genoss es in vollen Zügen.