Epilog

Ein Jahr später

 

 

Dorothea Sander saß in ihrem neuen Büro und warf einen letzten Blick auf die Artikel der kommenden Ausgabe. Nach dem Tod von Carsten Wittke war die Wahl des neuen Chefredakteurs auf sie gefallen. Anfangs hatte sie den Job etwas widerwillig angenommen, aber mittlerweile fühlte sie sich wohl in ihrer neuen Rolle.

Auf ihrem Schreibtisch lag ein altes Exemplar einer großen, deutschen Tageszeitung. Immer wieder musste Doro auf die Schlagzeile der Titelseite starren. »De-Sade-Killer noch immer auf freiem Fuß.« Sie hatten dem Monster einen Namen gegeben. Die Medien hatten sich bis vor ein paar Monaten um das Thema gerissen, doch dann wurde es ruhiger. Die DNS-Analyse hatte seiner Zeit zu keinem brauchbaren Ergebnis geführt. Weder das BKA, noch Interpol konnten eine Übereinstimmung mit ihren vorhandenen Daten finden. Auch die sichergestellten Fingerabdrücke im Haus des Totengräbers brachten keine neuen Erkenntnisse. Dieser François schien tatsächlich so etwas wie ein Geist zu sein, und seine Spur verlor sich bereits vor Monaten irgendwo im Süden Frankreichs.

 

Hauptkommissar Bölder hatte es damals sicher gut gemeint, doch seine tröstenden Worte bestätigten sich nicht. Ja, die Zeit hatte die körperlichen Wunden heilen können, die seelischen allerdings hatten tiefe Narben hinterlassen. Isabel war nie wieder die alte geworden. Nach ihrer körperlichen Genesung musste Doro der Einweisung in eine psychiatrische Klinik zustimmen. Das schwere erlittene Trauma ihrer Schwester sorgte dafür, dass sie entweder apathisch dasaß und ins Leere starrte oder aber wie am Spieß schrie, sobald sie sich in zu engen, geschlossenen Räumen aufhielt.

Die Ärzte vertrösteten Doro mit dem gleichen Spruch wie einst Bölder: »Die Zeit wird alle Wunden heilen.«

 

Nicht einmal für Joachim Bölder selbst schien diese Aussage Geltung zu haben. Er hatte nur zwei Monate nach den Ereignissen auf dem Friedhof, seinen vorzeitigen Ruhestand angetreten, da er sich nicht mehr imstande fühlte, solche Erlebnisse mental zu verarbeiten. Er und Doro blieben dennoch Freunde. Sie trafen sich hin und wieder, tranken Tee und diskutierten die selten gewordenen Berichte über den de-Sade-Killer.

Dorothea selbst hatte seit den Geschehnissen von damals mit schweren Depressionen und Schlafstörungen zu kämpfen. Die Medikamente, die sie nahm, hielten dies aber einigermaßen unter Kontrolle.

 

»Hallo? Sie müssen den Empfang quitiiieren.«

Doro schreckte aus ihren Tagträumen auf. Sie hatte gar nicht wahrgenommen, dass jemand in ihrem Büro stand. Der Junge mit der scheußlich schrillgelben Baseballkappe hatte das letzte Wort so lang gezogen, dass Doro davon ausgehen musste, nicht zum ersten Mal zur Unterschrift aufgefordert worden zu sein. Wo war sie nur wieder mit ihren Gedanken gewesen, dass sie den Boten nicht hat reinkommen sehen? Sie unterzeichnete den Lieferschein und nahm einen kleinen, dickeren Umschlag entgegen.

»Dankeeeeschöön, Dornröschen.«

Auch noch frech werden, aber was soll's, er hat ja nicht ganz unrecht, mich mit der schlafenden Prinzessin zu vergleichen. Der freche Bengel verschwand wieder und Doro schaute sich den Umschlag an. Hmmm ... komisch, kein Absender? Sie riss das braune Papier an der Seite auf und hielt die Öffnung nach unten. Als der Inhalt auf ihren Schreibtisch fiel, traf sie fast der Schlag. Schweißperlen sammelten sich auf der Stirn und ihre Hand zitterte, wie die eines Süchtigen auf Entzug, als sie das Objekt umdrehte. Das konnte unmöglich wahr sein. Sie glaubte, ihre Sinne würden ihr einen bösen Streich spielen. Kurzerhand fuhr sie hoch und rannte aus dem Büro.

Die Sekretärin im Vorraum blickte sie irritiert an. »Was ist denn los, Frau Sander? Kann ich Ihnen helfen?«

»Dieser Junge ...«

»Welcher Junge?«, erwiderte die verwirrte Frau.

»Na, dieser Bote, der gerade aus meinem Büro gekommen ist ...«

»Geht es Ihnen gut, Chefin? Es ist niemand außer Ihnen selbst aus dem Büro gekommen.«

Doro versuchte, ihre Gedanken zu sortieren. Vielleicht hatte Frau Kriest den Bengel einfach übersehen. Er war ja ziemlich klein und die Rezeption relativ hochgebaut. Außerdem, wer konnte schon sagen, wo die Sekretärin gerade war? Vielleicht hatte sie mal wieder Solitär gespielt. »Schon gut vergessen Sie's.«

Doro ging zurück ins Büro, ließ sich in den Chefsessel fallen und starrte fassungslos auf den Inhalt des Umschlages. Dann näherten sich ihre zittrigen Finger dem schwarzen Buch mit den kleinen, kaum lesbaren, goldenen Initialen MDS. Das konnte doch nur ein Albtraum sein. Es konnte einfach nicht real sein, denn was hier vor ihr lag, war nur ein Mythos. Erdacht von einem schwergestörten Menschen. Sie zögerte, dachte an die Worte, die sie immer wieder gehört hatte. »Dieses Buch soll die Macht besitzen, jeden in den Wahnsinn zu treiben, der einen Blick hineinwagt.« Hin und her gerissen zwischen Neugier und Furcht war sie unfähig, eine Entscheidung zu treffen. Sollte sie es aufschlagen?

 

Was würden Sie tun?

 

ENDE