Kapitel 1
Die Empörung in Isabels Gesicht mischte sich mit einem Ausdruck der Verständnislosigkeit. »Spinnst du? Warum sollten wir in einen Buchladen einbrechen?« Sicher, Nico hatte schon viele schräge Ideen aus dem Hut gezaubert, und sie war auch bei vielen Aktionen des Adrenalinjunkies zugegen oder hatte gar mitgemischt. Doch dieser Vorschlag klang nun wirklich zu unsinnig.
»Das ist ein Antiquariat, kein normaler Buchladen, wie du so salopp zu sagen pflegst.«
»Oh, entschuldige. Also warum sollten wir in einen so besonderen Buchladen einbrechen? Wenn du Altpapier brauchst, gibt es einfachere und vor allem legalere Wege.«
Die blauen Augen des Zwanzigjährigen glänzten wie Sterne am Nachthimmel und bombardierten Isabel regelrecht mit Euphorie. Doch bei ihr prallte diese Emotion momentan gegen eine Mauer aus undurchdringlichem Stahlbeton.
»Baby, du verstehst nicht. In diesem Laden gibt es Bücher, für deren Wert du dir eine Villa bauen könntest. Und bis Sonntag lagern dort ein paar besonders seltene Stücke, für eine Ausstellung in der nächsten Woche.«
»Woher willst du das denn Bitteschön wissen?« Isabels Blick zeugte davon, dass sie sich konsequent weigerte, die Worte ihres Freundes ernst zu nehmen.
Aber er ließ sich nicht bremsen. »Mein Onkel hat in dem Haus neue Wasserleitungen verlegt. Vor zwei Wochen konnte er ein Gespräch mithören, in dem es um diese Ausstellung ging. Der Besitzer des Ladens ist ein verrückter, alter Kauz. Du müsstest ihn mal sehen. Der sieht aus, als ob er geradewegs aus einem der Zauberläden in der Winkelgasse in London entsprungen wäre.«
Isabel rümpfte die Nase. »Und das macht ihn und seinen Laden zum perfekten Opfer für deinen bescheuerten Plan?«
Nico schlug sich die Hand vor die Stirn und atmete tief ein und aus. »Es macht es einfacher. Der Laden hat nicht mal eine Alarmanlage. Der Typ ist irgendwo im letzten Jahrhundert hängen geblieben. Und der Laden wirkt ebenfalls wie aus einer alten, längst vergessenen Zeit. Es wird ein Kinderspiel sein, dort einzusteigen.«
Isabel legte warnend den Zeigefinger auf die Lippen. »Pssst! Nicht so laut. Du weißt doch, wie dünn die Wände hier sind.«
»Ist deine Schwester etwa zu Hause? Ich dachte, wir wären alleine?!«
»Du hast nicht gefragt. Du kamst hereingeschossen und hast mich direkt mit deiner beknackten Idee überfahren.«
Isabel lebte seit dem Tod ihrer Eltern in einer Wohngemeinschaft mit ihrer sieben Jahre älteren Schwester Dorothea, die diesen Namen allerdings gar nicht mochte. Sie bestand energisch darauf, »Doro« genannt zu werden. Nach ihrem Journalismus-Studium hatte sie durch einen alten Freund der Familie schnell eine Anstellung in der hiesigen Lokalzeitung gefunden. Seitdem führte sie sich wie ein Kommissar auf. Doro war stets auf der Jagd nach einer guten Story. Immer mit der Nase tief in irgendwelchen Recherchen vergraben, als wolle sie sich mit dem ultimativen Sensationsbericht in ihrem regionalen Käseblatt den Pulitzerpreis holen.
Für Isabel war diese Karrieregeilheit nicht nachvollziehbar. Sie selbst war eher die Art von Mensch, der in den Tag hineinlebte, und bisher konnte sie keine großen Ziele an ihrem persönlichen Sternenhimmel ausmachen. Das BWL-Studium, das sie im letzten Jahr begonnen hatte, diente als eine Art Alibi ihrer Schwester gegenüber und war definitiv keine wahre Berufung. Doro hatte sie mehr oder minder dazu gedrängt. Und da Isabel keine Alternative einfiel, ließ sie sich leicht überreden. Irgendetwas musste man ja schließlich machen. Obgleich Nico dies vehement abstritt.
Wenn Doro das Engelchen auf ihrer Schulter darstellte, so bildete Nico grundsätzlich den teuflischen Gegenpart. Er war der klassische Anarchist, für den keinerlei Regeln der Gesellschaft irgendeine Bedeutung zu haben schienen. Einer dieser Typen, die man nur als unberechenbar bezeichnen konnte. Er tat grundsätzlich das Gegenteil von dem, was andere an Erwartungen auf ihn projizierten.
Auch Nico war eine Art Alibi-Student. Entsprechend seiner Vorliebe und der ohnehin schon naturgegebenen Fähigkeit, andere Menschen leicht manipulieren zu können, hatte er sich für die Psychologie entschieden. Seine vielschichtigen Interessen hatten Nico und Isabel schließlich bei einer Vorlesung zusammengeführt.
Er war Isabel durch seine cleveren Fragen aufgefallen, die den Professor an jenem Tage fast zur Weißglut getrieben hatten. Als Nico dem älteren Mann gegenüber dann auch noch frech wurde und seine Kompetenz als Dozent infrage gestellt hatte, bat dieser ihn nachdrücklich, die Vorlesung zu verlassen. Isabel hatte dies mächtig imponiert. Sie war ihm gefolgt und schließlich kamen sie ins Gespräch.
Doro behauptete stets, dass Nico den Verstand ihrer Schwester mit seinen »Spinnereien« vergiften würde. Isabel sah dies selbstverständlich ganz anders, denn es hatte nicht lange gedauert, bis sie sich in den cleveren Chaoten verliebt hatte. Aus der Freundschaft wurde eine Beziehung, die nun seit einem halben Jahr andauerte und ihrer Schwester ein absoluter Dorn im Auge war. »Dieser Typ ist nicht gut für dich!«, hatte sie mehr als einmal betont. »Er wird dich irgendwann mächtig in Schwierigkeiten bringen.« Allerdings, was sollte sie schon tun? Isabel war volljährig und musste ihre eigenen Erfahrungen machen.
Kommissarin Doro Sander war immer auf der Lauer. Sie behielt Nico genau im Auge und hoffte auf den entscheidenden Fehler, der ihrer kleinen Schwester endlich die Augen öffnete. Sie war sich sicher, dass dieser Nico Dreck am Stecken hatte, und sie befürchtete, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis er Isabel in diesen Dreck mit hineinzöge. Und tatsächlich, sie hatte richtig gelegen. Die Worte »... dort einzusteigen.« waren zwar nur Bruchstücke, die sie vom Zimmer ihrer Schwester nebenan mitbekommen hatte, als sie konzentriert vor ihrem Laptop über einem halbfertigen Artikel brütete. Jedoch hatten die Worte ausgereicht, um sie hellhörig werden zu lassen. Selbstverständlich war es bereits zu spät. Das Einzige, was sie noch hören konnte, war das Geräusch der Wohnungstür, die ins Schloss fiel.
Nachdem Nico erfahren hatte, dass Isabels neugierige Schwester daheim war, hatte er sie gedrängt, draußen weiterzureden. Er zerrte sie die zwei Etagen hinunter, als ob ihrer beider Leben davon abhängen würde. Als sie das Haus verließen, hatte die Dämmerung bereits eingesetzt und die für September viel zu heißen Sonnenstrahlen verdrängt. Sie liefen ziellos durch die Gegend, während Nico von seinen Plänen berichtete.
»Also, noch mal zu dieser Ausstellung. Es geht da wohl um ein geheimnisvolles schwarzes Buch, das lange als verschollen galt.«
»Ah, ja. Klar. Wir brechen also in einen Buchladen ... ich meine selbstverständlich in ein Antiquariat ... ein und suchen ein schwarzes Buch. Natürlich. Dürfte kein Problem sein. Ist ja eine recht exotische Farbe, die nur selten für Buchcover genutzt wird.« Isabel musste nun wirklich lachen.
»Belle ... jetzt hör' erst mal zu. Marquis de Sade. Das sagt dir sicher etwas?«
»De Sade? Oh, reichen dir unsere sexuellen Experimente nicht mehr? Brauchst du neue Anregungen? Bist wohl noch perverser, als du bislang offenbart hast, oder wie soll ich das verstehen?« Ein neckisches Grinsen umspielte ihre Lippen, während sie antwortete.
»Nein, darum geht es jetzt nicht, Baby. Soviel ich weiß, wurden einige oder sogar alle seiner Schriften post mortem veröffentlicht. Und dieses schwarze Buch soll eines sein, das erst jetzt entdeckt wurde. Bisher waren es nur Gerüchte oder Mythen. Es wurde nie gefunden. Wie und wo es dann schlussendlich doch aufgetaucht ist, kann ich dir nicht sagen. Aber es soll unglaublich wertvoll sein und angeblich sexuelle Praktiken aufzeigen, die einen Menschen komplett in den Wahnsinn treiben können. Genau aus diesem Grunde soll es so lange verschollen gewesen sein. Es wäre gefährlich, heißt es.«
Isabel sah Nico für einen Moment ausdruckslos an und dachte augenscheinlich nach, bevor sie antwortete. »Das würde natürlich erklären, warum ihn viele seiner Zeit für verrückt gehalten hatten. Möglicherweise hatten sie ja recht.«
Nicos Miene erhellte sich, wie die eines Mannes, der gerade im Begriff war, eine große Verschwörung aufzudecken. Er packte Isabel an den Schultern und sprach weiter: »Siehst du? Darum brauche ich dich dabei. Du bist der Bücherwurm von uns beiden. Ich selbst würde mir einen Wolf suchen. Für mich ist ein Buch dem anderen gleich, aber du wirst es finden. Wir können reich werden. Nur durch dieses bescheuerte Ding. Das ist eine sichere Sache. Ich brauche das Geld. Wir brauchen es. Wir könnten zusammen abhauen. Weit weg von deiner nervigen Schwester und der ganzen Scheiße hier.«
Die verwirrte junge Frau sah ihren Freund an und nickte automatisiert. Diese extremen Emotionen waren bei Nico nichts Neues. Er brannte stets lichterloh für seine verrückten Ideen. Doch nun war plötzlich etwas in seinem Gesicht, in seinem Ausdruck, das sie nicht einordnen konnte, und von dem sie auch nicht wusste, ob sie es näher herausfinden wollte. Sie blickte ihm tief in die Augen und erwiderte: »In Ordnung. Tun wir es. Wenn du recht behältst bin ich sehr gespannt, was wir dort finden werden.« Isabel hätte schwören können, dass seine Augen für einen winzigen Moment die Farbe gewechselt hatten. In diesem einen Moment, den sie nicht imstande war zu deuten, war aus dem leuchtenden Blau ein unheimliches, bedrohliches Schwarz geworden. Aber möglicherweise hatte die Fantasie ihr auch nur einen merkwürdigen Streich gespielt.