Kapitel 31

 

 

 

Doro reagierte als Erste. »Carsten. Mein Gott, Bölder. Nehmen Sie ihm die Handschellen ab und rufen Sie einen Krankenwagen.« Trotz allem, was war, zeigte sie echte Bestürzung.

»Hey, Dorothea. Es ist okay. Ich habe es nicht anders verdient. Ich habe schlimme Dinge getan und mich sogar daran aufgegeilt. Was soll ich sagen? Man kann den Menschen nur vor den Kopf gucken.«

Er spuckte bereits Blut beim Sprechen und die Wunde in seinem Bauch, dessen war er sich völlig bewusst, würde sein Ende bedeuten. Seine Worte kamen immer schwerfälliger und leiser über die blutverschmierten Lippen.

»Doro. Such ein frisch ausgehobenes Grab am anderen Ende des Friedhofes.«

»Was? Willst du mir sagen, dass Isabel wirklich ...«

Der Kommissar fiel ihr ins Wort. »Lassen Sie den Mann reden, um Himmelswillen. Carsten, sprechen Sie weiter.«

Sein Atem wurde immer schwerer und er hatte sichtlich mit großen Schmerzen zu kämpfen. »Unter diesem Grab findest du deine Schwester. Ihr müsst euch aber beeilen, wenn ihr sie noch retten wollt.«

Doro hatte den letzten Satz gar nicht mehr vollständig gehört, denn sie war bereits losgerannt. Woher sie die Kraft noch nahm, war ihr ein Rätsel, aber sie lief wie der Teufel. Dicht gefolgt von zwei Polizisten, die allerdings ihr Tempo nicht halten konnten.

Carsten wandte sich noch einmal an Bölder. »Sie sollten auch einen Blick in das Grab von Anton Bender werfen, dort werden Sie eines der vermissten Mädchen finden.«

»Das werde ich. Wissen Sie auch, wo wir die andere finden können, Herr Wittke? Hallo? Herr Wittke?« Bölder vernahm just in diesem Moment das Martinshorn des Rettungswagens. Aber für Carsten Wittke kam dieser zu spät.

 

Doro fand das besagte Grab schneller, als sie zu hoffen gewagt hätte. Sie sah nur den Minibagger. »Hey, Jungs, hierher. Beeilt euch! Könnt ihr mit dem Ding umgehen?«

»Das wird so schwer nicht sein. Mein Vater ist Bauunternehmer und ich ...«

»Verdammte Scheiße, hören Sie auf zu quatschen und kurbeln Sie das Ding an. Meine Schwester ist da unten und sie lebt noch. Ich spüre es. Ich weiß es!«

Der Polizist schwang sich in das Gefährt und startete es tatsächlich nach kurzer Zeit. Für Doro dauerte alles zu lange, sie sprang in das Loch und grub zusätzlich mit den Händen. Da die Erde erst aufgeschüttet worden war, erwies sie sich als sehr locker, was die ganze Prozedur unheimlich beschleunigte. Doro warf so große Erdhaufen aus dem Loch, wie sie greifen konnte. Im Gegensatz zu der Menge, die vom Bagger ausgehoben wurde, war es nur ein winzigster Teil, doch sie konnte einfach nicht tatenlos danebenstehen. Schon bald stießen sie auf etwas Hartes.

»Kommen Sie, kommen Sie hier runter, wir haben es. Wir haben sie gefunden!«

Schnell befreiten sie den Sargdeckel von der restlichen Erde.

»Isabeeel, Isabeeeel, ich bin da, wir holen dich da raus!« Die Worte glichen mehr einem hysterischen Kreischen.

Schließlich fanden sie die Verriegelung der Kiste und öffneten diese. Sie klappten den Deckel hoch und starrten schockiert hinein.

Doro begann am ganzen Körper zu zittern. Sie stand kurz vor einem Zusammenbruch. Unter Tränen flüsterte sie: »Isabel? Mein Gott, oh mein Gott, was haben sie dir nur angetan?«

Einer der Beamten reagierte sofort und orderte über Funk den Krankenwagen zur Westseite des Friedhofes.

»Helfen Sie mir, wir müssen sie da rausholen. Isabel?« Sie kletterte in den Sarg und versuchte vorsichtig das Klebeband von der Mundpartie zu entfernen.

Isabel starrte nur mit weitaufgerissenen Augen ins Leere. In ihrem Blick lag das Leid der ganzen Welt. Schmerz, Furcht, Hoffnungslosigkeit und nicht zuletzt ein gehöriger Anteil Wahnsinn. Aber sie schien zu leben. Dann öffnete sie ihren Mund und schrie. Und schrie und schrie, dass es einem durch Mark und Bein fuhr.