Kapitel 32
Hauptkommissar Bölder hatte endlich seinen Willen bekommen. Dorothea Sander war zusammen mit Ihrer Schwester ins Krankenhaus eingeliefert worden. Als die Rettungssanitäter die grausam verklebte Frau aus dem Grab geholt hatten und der erschütternde Schrei nicht mehr verstummen wollte, übermannten Doro die Ereignisse und sie erlitt endgültig einen Zusammenbruch.
Am nächsten Tag erwachte sie im Krankenzimmer neben dem schnarchenden Kommissar. Dieser schreckte fast im selben Moment von seinem Stuhl hoch. Doro versuchte sich zu orientieren, dann brach all der Schrecken wieder über ihr zusammen und sie erinnerte sich. Sie begann bitterlich zu weinen und drehte ihr Gesicht in das Kissen. Nach einigen Minuten hatte sich Doro wieder etwas gefangen. »Isabel?«, fragte sie den übernächtigt wirkenden Mann an ihrer Seite.
Bölder stand auf, griff nach ihrer Hand und streichelte sie beruhigend. »Sie lebt.«
»Oh mein Gott, was hat dieses Schwein ihr nur angetan? Kann ich sie sehen?«
»Frau Sander, das halte ich für keine gute Idee. Sie braucht jetzt viel Ruhe.«
Plötzlich überkam Doro erneut ein Anflug von Hysterie. »Ich will sie sehen, bringen Sie mich sofort zu ihr!«
»Okay, aber ich muss Sie warnen. Sie müssen stark sein.«
»Was? Wieso? Was ist mit ihr?«
»Die Ärzte haben sie in ein künstliches Koma versetzt. Sie würde die Schmerzen sonst nicht ertragen können.«
»Bringen Sie mich sofort zu ihr.«
Bölder war nicht wohl bei dem Gedanken, aber er konnte auch nicht Nein sagen. Er sprach mit den Ärzten und diese gestatteten einen sehr kurzen Besuch auf der Intensivstation. Als Doro endlich ihre Schwester erblickte, war sie es die schrie. Das Bild was sich ihr bot, war ein Albtraum. Unzählige Schläuche und Kabel mündeten vom Körper ihrer Schwester in Monitore und andere Geräte. An dem Ständer neben ihrem Bett hingen mehrere Infusionsbeutel. Isabel war kahlgeschoren. Ihr Gesicht war grün und blau. Über den Wangenknochen und dem Jochbein war das Gesicht extrem angeschwollen. Überall waren blaue Flecken zu erkennen. Am Kopf, an den Händen und vermutlich noch einige mehr in den Regionen, die unter der Decke ruhten.
Doro weinte hemmungslos und die Tränen tropften auf den sterilen Boden. »Was ist ...?« Sie wollte ihre Frage an den behandelnden Arzt stellen, der die beiden begleitet hatte, aber sie brachte die Worte nicht heraus. Der Schock saß so tief, dass die Angst vor den Antworten ihre Frage im Keim erstickte.
Der Chefarzt verstand sie dennoch und nahm sie zur Seite. »Frau Sander, Isabel geht es den Umständen entsprechend. Sie hat unzählige Hämatome am ganzen Körper. Außerdem muss ich Ihnen mitteilen, dass sie massiv missbraucht wurde. Die dabei entstandenen inneren Verletzungen werden leider Gottes zur Folge haben, dass ihre Schwester keine Kinder mehr bekommen kann. Des Weiteren haben wir einen Darmriss und eine Blutvergiftung behandelt. Was uns Sorge macht, ist ihr Rücken. Der Täter hatte das Klebeband auf offene Wunden geklebt, die vermutlich von einem Stock, einer Peitsche oder Ähnlichem herrühren. Es ist nicht verwunderlich, dass diese Verletzungen sich entzündet haben.«
Doro griff sich an den Kopf und wirkte überfordert mit den vielen, grausamen Informationen. »Was soll das alles bedeuten?«, schrie sie den Arzt an.
»Das bedeutet in erster Linie einmal, dass ihre Schwester nun ganz viel Ruhe braucht.
»Aber sie wird doch wieder ganz gesund?« Verzweifelt schaute sie den Arzt an. Ihre Hände zitterten und die Beine waren kurz davor, nachzugeben.
»Hören Sie, Frau Sander. Ihre Schwester braucht Sie jetzt. Sie hat einen schweren Schock erlitten. Sie müssen stark sein, für sich und vor allem für Isabel. Kommen Sie erst einmal selbst wieder zur Ruhe. Erholen Sie sich.«
Bölder hatte sie gewarnt. Das Gehörte und der Anblick ihrer Schwester überstieg ihre Kraft. Sie sackte in sich zusammen und eine schwarze Wand zog sich vor ihren Augen auf. Dann verlor sie das Bewusstsein. Der Arzt reagierte schnell genug und fing ihren Sturz ab. Erst Stunden später kam sie in ihrem Bett wieder zu sich. Bölder war noch immer an ihrer Seite. Sie setzte sich so schnell auf, dass ihr schwindelig wurde. Schmerzverzerrt hielt sich Doro den Kopf.
»Langsam, Frau Sander. Sie haben eine Gehirnerschütterung. Ich sagte ja mehrfach ...«
»... dass ich mich durchchecken lassen soll, ja, Herr Kommissar.«
»Und ich habe Sie auch gewarnt, was Ihre Schwester angeht.«
Doro sah den Mann traurig an und nickte. »Isabel ... mein Gott, dieses kranke Schwein. Bitte sagen Sie mir, dass Sie ihn erwischt haben.«
»Ich fürchte nein. Und leider habe ich auch noch mehr schlechte Nachrichten. Carsten Wittke ist noch vor Ort seinen Verletzungen erlegen.«
»Carsten. Ich kann es einfach nicht glauben. Da meint man Menschen zu kennen und dann stellt sich heraus, dass sie die totalen Psychopathen sind.«
Der Kommissar nahm ihre Hand. »Ich glaube allerdings, dass er seine Taten zum Schluss ernsthaft bereut hat. Nachdem wir nur durch seine Hilfe ihre Schwester retten konnten, erzählte er mir von einem weiteren Grab. Ich habe heute Morgen die Exhumierung angeordnet. Es sieht aus, als ob auch der Tod von Anton Bender auf das Konto von diesem François oder Paul, oder wer auch immer er wirklich ist, geht. Man muss schon fast den Hut ziehen, vor seinen makabren Einfällen. Scheinbar hat er immer wieder junge Frauen zwischen achtzehn und zwanzig Jahren entführt, sie fast zu Tode gefoltert und anschließend lebendig begraben. Erinnern Sie sich, was Wittke gesagt hatte? Dass wir nicht wüssten, mit wem wir es zu tun haben? Das Grab von Anton Bender enthielt eine Art Doppelsarg. Eine Spezialanfertigung. In ihm fanden die Kollegen von der Spurensicherung den Leichnam von Bender und die grausam entstellte Leiche von Linda Steg. Dieser kranke Bastard hat sie zusammen mit einer Leiche begraben. Außerdem sollen Spermaspuren gefunden worden sein. Was ja wohl bedeuten dürfte, dass er sich an dem Todeskampf der Frauen ...«
»Ja Kommissar, ist schon gut, Sie brauchen nicht ins Detail zu gehen. Ich weiß schon, dass der Typ ein richtiger Wichser ist. Wie geht es jetzt weiter? Sie sagen, er ist entkommen.«
»Weiter? Es ist vorbei. Das BKA hat den Fall übernommen. Sie warten derzeit auf die Ergebnisse der DNS-Analyse. Die Spurensicherung hat im Haus Dutzende von Hinweisen gefunden, die auf über fünfzig weitere Morde im ganzen Land deuten. Dieses Arschloch ist immer davon gekommen, weil man nie eine Leiche gefunden hatte. Es ist schon ein kranker, pietätloser Geniestreich, Leichen auf einem Friedhof zu verstecken. So zog er wohl, auf der Suche nach diesem schwarzen Buch, das sein schizophrener Verstand erschaffen hatte, quer durch Deutschland und hinterließ nicht eine Spur. Nun aber, da das BKA die Schritte seiner gespaltenen Persönlichkeiten zurückverfolgen kann, kommt alles ans Licht.«
Doro atmete schwer aus. »Ich hoffe, die erwischen dieses Monster, bevor noch mehr Menschen leiden müssen.«
»Frau Sander, das hoffe ich auch.«
Doro rang sich ein kleines Lächeln ab. »Jetzt hören Sie schon mit diesem Frau-Sander-Quatsch auf. Nach allem, was wir durchgemacht haben. Doro, einfach: Doro.«
»Nur, wenn Sie mich künftig Joachim nennen.«
Für einen kleinen Moment verdrängte Doro den ganzen Schrecken und die Sorge um ihre so grausam zugerichtete Schwester. Der Kommissar nahm sie tröstend in den Arm und versicherte ihr, dass die Zeit auch die schlimmsten Wunden zu heilen vermochte. Nur zu gerne hätte Doro seinen Worten Glauben geschenkt.