Kapitel 22

 

 

 

Für was hielt François ihn? Lass es wie einen gewöhnlichen Verkehrsunfall aussehen. Ja, Nico war ein Adrenalinjunkie und schreckte auch vor keiner Schlägerei zurück. Letztendlich war die Jagd nach dem nächsten Kick der Motor, der Nico stets angetrieben hatte. Selbst der Überfall auf die nervtötende Schwester seiner Freundin hatte ihn in gewisser Weise aufgeputscht. Er konnte die neugierige Ziege nie leiden und wusste genau, dass sie Isabel stets vor ihm gewarnt hatte. Dass sie damit goldrichtig lag, tat für ihn nichts zur Sache. Er hatte es genossen, ihr an dem Waldweg eins überzubraten und ihren Roller zu zerlegen. Aber jetzt sollte er sie umbringen. Körperverletzung ist eine Sache. Eine Sache, wegen der Nico bereits vorbestraft war. Aber Mord? Er war nicht wie François. Zwar hatte auch er eine ausgeprägte sadistische Ader, jedoch war er kein eiskalter Killer wie der Mann, den er ebenso bewunderte, wie fürchtete. François hatte ihm einmal versichert, dass man mit allen Taten durchkommen kann, wenn man nur clever genug ist. Obendrein könne man die Polizei in Deutschland nur bedingt ernst nehmen. Mit zwei Staranwälten im Rücken und ausreichend Geld wäre alles zu regeln, selbst wenn es mal richtig aus dem Ruder läuft. Trotzdem war Nico nicht wohl dabei gewesen.

 

Er träumte des Nachts von dem grausamen Begräbnis dieser Linda. Wie lange hatte sie sich wohl quälen müssen, bevor sie in ihrem Sarg erstickt war? Ihre Freundin, der François eiskalt die Kehle durchgeschnitten hatte, musste ebenfalls verschwinden. Glücklicherweise sterben eine Menge Menschen in einem Ort, der nicht gerade von der Jugend beherrscht wurde. Der Altersdurchschnitt lag hier eher in der Liga eines Kurortes. Nico hatte das Mädchen auf demselben Friedhof begraben. Diese Idee seines Meisters zeugte wirklich von kriminalistischem Genie. »Ein Friedhof, so paradox das auch klingen mag, ist der letzte Ort, an dem die Polizei eine Leiche suchen würde. Dieser Gedanke ist viel zu naheliegend, um auch nur in Erwägung gezogen zu werden. Und wo kein Opfer, da kein Täter.« François hatte ihm diese Sache erzählt, als ob es eine ganz natürliche Angelegenheit wäre – ein Spiel. Die Arroganz und Selbstverständlichkeit in seinen Worten imponierte Nico anfangs. Doch seitdem er seiner ersten Entsorgung beiwohnte, wie François es immer nannte, war zu der Bewunderung des kranken Genies und Mentors auch eine Furcht hinzugekommen, die sich schwer in Worte fassen ließ. Wenn man sah, wozu die selbsternannte Wiedergeburt des Marquis de Sade imstande war, sobald er Lust verspürte, mochte man nicht darüber nachdenken, zu was er alles fähig sein würde, wenn ihn erst Zorn antrieb. Zumindest war Nico nicht sonderlich scharf darauf, es herauszufinden. Einen Vorgeschmack hatte er bereits erhalten, als er den Nagelstab bei dieser Katja falsch angesetzt und dem Meister sein Spielzeug zerstört hatte. Es stand außer Frage, dass François die Drohung wahrgemacht und Nico für seine extremen Gelüste missbraucht hätte, wäre er nicht bereit gewesen, einen Ersatz heranzuschaffen.

 

Wie dem auch sei. Er musste handeln und sich auf die Worte seines Mentors verlassen. Bisher gab es keinen Anlass, daran zu zweifeln. Niemand war ihm bisher auf die Spur gekommen. Niemand, außer Dorothea Sander, die heute sterben sollte.

Ein Auto zu klauen war keine große Sache für Nico, und es war auch nicht das erste Mal. Er entschied sich für einen uralten Ford Fiesta, der in einer kleinen Seitenstraße, abseits aller neugierigen Blicke, auf ihn zu warten schien. François sagte, dass Doro ihm nachgegangen sei, Eile war angebracht. Ohne Werkzeug waren seine Optionen begrenzt. Ein umherliegender, größerer Stein wurde kurzerhand zum Türschlüssel. Er wickelte ihn in seine alte Baseballjacke, um die Geräusche einzudämmen. Dann schlug er zu. Es klappte nicht sofort, aber beim dritten Schlag zersprang das Fenster der Fahrertür endlich. Er öffnete die Tür, warf den Stein weg und fegte mit seiner Jacke die Scherben vom Sitz. Mit nahezu routinierten Griffen schloss er die Zündung kurz und der Motor startete.

Nico fuhr nicht zurück, sondern umrundete schnell die Gegend um das Antiquariat herum, um sich seinem potentiellen Opfer von hinten zu nähern. Als er sie schließlich erblickte, stand sie wie eine Zielscheibe vor einem alten, baufälligen Lagerhaus auf dem linken Gehweg. Sie stand mit dem Rücken zu ihm und schien zu telefonieren. Er zögerte einen Moment. Seine Augen verengten sich zu wild entschlossenen Schlitzen und er trat das Gaspedal durch.

 

***

 

»Okay, vorbestraft wegen Diebstahl, Körperverletzung und Drogenbesitz. Und jetzt die guten Nachrichten, Carsten.« Doro war stehen geblieben, als ihr Handy klingelte und der Name des Redakteurs auf dem Display erschien.

»Das waren die guten Nachrichten, Doro. Du lagst richtig bei diesem kleinen Punk.«

»Ach, und das soll mich jetzt beruhigen, dass ich recht hatte? Der Typ hat irgendetwas mit meiner Schwester gemacht. Ich hatte eigentlich gehofft, von dir zu hören, dass ich mich getäuscht habe. Dass ich mir umsonst Sorgen mache und Isabel einfach nur irgendwo auf dieses Arschloch wartet.«

»Tut mir sehr leid, aber du wolltest es wissen, Doro.«

»Was ist mit der anderen Sache?«

»Das ist etwas seltsam. Sagtest du mir nicht, dieser Nico wäre in den Laden gegangen? In dieses Antiquariat?«

»Ja, warum?«

»Nun, der Besitzer, Anton Bender, wurde in dieser Woche beigesetzt. Außerdem ist heute Sonntag, falls dir dies entgangen ist. Der Laden dürfte also gleich aus zwei Gründen gar nicht geöffnet haben. Die wenigsten, außer wir, sind so blöd, am Sonntag zu arbeiten«, flachste er.

»Dass Anton Bender gestorben ist, weiß ich schon. Und ja, der Laden müsste geschlossen sein, aber sein Sohn macht wohl gerade eine Inventur, um das Antiquariat zu übernehmen.«

»Sein Sohn?«

Carsten Wittke klang plötzlich sehr irritiert und Doro hakte nach. »Was ist denn los? Du wirkst so verwirrt.«

»Anton Bender lebte allein. Seine Frau ist vor zehn Jahren gestorben und die beiden hatten weder Kinder, noch andere lebende Verwandte. In diesem Laden stinkt etwas ganz gewaltig. An deiner Stelle würde ich ...«

Just in diesem Moment schreckte Doro das Geräusch quietschender Reifen hinter sich auf. Sie fuhr wie von der Tarantel gestochen herum, ließ ihr Handy fallen und starrte voller Entsetzen dem roten Ford entgegen, der genau auf sie zu gerast kam.

 

***

 

Wie lange Isabel, einem verschnürten Postpaket gleich, dagelegen hatte, vermochte sie nicht zu sagen. Aufgrund der Taubheit in all ihren Gliedern hätte sie auf mehrere Tage getippt. Ihre Einsamkeit wurde nur dreimal kurz unterbrochen. Abwechselnd waren François und seine Helfer, einzeln zu ihr gekommen und hatten sich auf brutalste Weise an ihr vergangen. Die Schmerzen in ihrem Unterleib waren kaum zu ertragen. Irgendetwas stimmte nicht. Bereits nach der zweiten Vergewaltigung lief das warme Blut ihre Schenkel entlang. Das größte Leid allerdings ging auf das Konto des Marquis. Er hatte ihr schlimmste Verletzungen im Anus zugefügt und Isabels Qualen waren kaum auszuhalten. Das Seil, welches ihre Arme an den Oberkörper fixierte, schnitt unbarmherzig in die offenen Wunden, welche die Peitsche des Geistesgestörten zurückgelassen hatte. Der schlimmste Sonnenbrand war nicht vergleichbar mit dem grausamen Brennen, das sich über Isabels ganzen Körper erstreckte. Die Tränenkanäle schienen die letzten Reserven ausgeschüttet zu haben und waren bereits vor Stunden versiegt. Ihre Augen blickten starr und leer in die Dunkelheit. Sie spiegelten den mentalen Zustand Isabels geradezu perfekt wieder. Sie fühlte sich leer, erniedrigt, beschmutzt und ohne Hoffnung. Mit ihren dunklen Empfindungen erstarb alles, was die junge Frau einst ausgezeichnet hatte. Ihr Gesicht zeichnete das Bild eines seelenlosen Zombies in die Düsternis. Sie lag apathisch da. Auch als das Licht wieder eingeschaltet wurde und François zusammen mit seinen beiden Assistenten vor ihrem Käfig auftauchte, war keine Regung zu spüren.

»Okay holt sie da raus«, befahl er in ungewohnt ruhigem Ton.

»Einen Moment, Meister. Mein Telefon.« Der Maskierte sprach kaum ein Wort in das Gerät, sondern hörte nur zu. Er beendete das Gespräch schließlich mit einem einzigen Satz: »In Ordnung. Sagen wir in etwa zwei Stunden, ich bin noch unterwegs.« Er drückte das Gespräch weg und steckte das Gerät wieder ein.

François sah ihn fragend an. »Eine Beerdigung?«

»Ja, übermorgen.«

»Dann sollten wir die restliche Zeit mit unserer Kleinen genießen.«

»Tut mir leid, Meister, Sie haben ja gehört, ich muss weg.«

»Selbstverständlich, Thomas, regle das. Wir kommen schon klar. Unsere süße, kleine Isabel wird uns sicher keine Probleme bereiten, nicht wahr?«

Sie reagierte in keinster Weise. Ihr Verstand schien ebenso gebrochen, wie ihr Kampfgeist und der Lebenswille. Der andere Helfer zog sie aus ihrem Gefängnis und löste die Fesseln an den Beinen. Selbst als er das Klebeband von ihrem Mund entfernte, war nichts als der leere Blick. Thomas verabschiedete sich und trottete gemächlich um die Steinwand herum in Richtung Treppe. Zeitgleich hob der andere Handlanger Isabel auf die Beine.

Und schlagartig war sie wieder da. Ihre Hände und Arme waren nach wie vor gefesselt, doch das hielt sie nicht von einer überdrehten Kurzschlusshandlung ab. Von einem unkontrollierten Adrenalinschub getrieben, drängte sie den Lakaien mit der Schulter zur Seite und rammte François den Kopf in die Magengrube. Dann rannte sie hysterisch schreiend los. Durch den Tumult überrascht, drehte sich Thomas noch einmal um und sah die verzweifelte junge Frau auf sich zu laufen. Er breitete die Arme aus, um ihr den Weg zu versperren, doch Isabel rannte blindlings weiter. Der Aufprall riss beide zu Boden und der viel schwerere Mann schlug hart mit dem Kopf auf. Schnell fing er sich wieder und wollte aufstehen. Sein Kopf war genau neben dem ihren. Sie zögerte nicht eine Sekunde, schnellte mit dem Mund an sein rechtes Ohr und biss, wie ein tollwütiges Tier, ein Stück ab. Der Mann schrie laut auf und hielt sich die Hand an die Wunde. Innerhalb weniger Sekunden quoll das Blut durch seine Finger hindurch. Er krümmte sich vor Schmerzen, während Isabel vergebliche Versuche unternahm, wieder auf die Beine zu kommen.

Plötzlich stand François neben ihr. »Mächtiger Fehler, Miststück. Mächtiger Fehler.«