Kapitel 4

 

 

 

Da Nico an diesem Tag keine Zeit für Isabel hatte, und sie keinerlei Lust auf die Uni verspürte, entschied sie sich für ein verlängertes Wochenende. Die Vorlesungen an diesem Freitag waren unwichtig, außerdem wollte ihr Kopf keine Ruhe geben. Ihre Gedanken kreisten unentwegt um den verrückten Vorschlag ihres noch verrückteren Freundes. Er hatte ihr genau beschrieben, wo sich das vermeintliche Ziel ihres geplanten Einbruches befinden solle. Isabel begriff nicht so recht, wie ihr der Laden bisher nicht auffallen konnte. Die Straße, die Nico ihr genannt hatte, kannte sie zwar nicht namentlich, dennoch wusste sie genau, dass sie schon in dieser Gegend gewesen war. Sie lag etwas außerhalb der Stadt, in einer Art Niemandsland, von dem keiner so genau sagen konnte, ob es überhaupt zur hiesigen Ortschaft zählte.

Für ein Auto hatte es bei der achtzehnjährigen Studentin bisher nicht gereicht. Genau genommen hatte es nicht einmal zum Führerschein gereicht. Das bisschen Bafög und der bescheidene Lohn ihrer Schwester ließen keine großen finanziellen Sprünge zu. Also schwang sich Isabel auf ihr Mountainbike und machte sich auf den Weg.

Sie brauchte nicht lange fahren. Bereits nach zwanzig Minuten hatte sie ihr Ziel erreicht. Nico hatte mit seiner Beschreibung des Ladens wirklich ins Schwarze getroffen. Nicht nur das Antiquariat, sondern auch der Rest der Straße, ließ bei Isabel den Eindruck entstehen, sie wäre gerade durch einen Zeittunnel gefahren, an dessen Ende jeglicher Fortschritt der Gegenwart zum Erliegen gekommen war. Viele der alten Häuser schienen leerzustehen und wirkten baufällig. Das Licht des Tages hatte sich anscheinend entschlossen, einen Bogen um die Gegend zu machen, denn alles wirkte düster. Weit und breit war keine Menschenseele zu sehen, was diesen Ort noch seltsamer und mysteriöser erscheinen ließ.

Sie hatte sich getäuscht. Hier war sie noch nie zuvor gewesen. Und hätte man ihr ein Bild gezeigt, wäre ihr niemals auch nur die Vermutung gekommen, dass diese unheimliche Gasse sich in ihrer Heimatstadt befinden würde. Sie glich mehr einer Filmkulisse.

Das Antiquariat war auf den ersten Blick kaum auszumachen. Es gab weder Schilder noch sonst ein Augenmerk, das direkt aufgefallen wäre. Erst als sie ein Stück auf dem unebenen Weg mit dem in die Jahre gekommenen Kopfsteinpflaster entlang lief, bemerkte sie das kleine Schaufenster. Wahrscheinlich fiel es ihr auch nur auf, weil ein schwaches Licht hinter dem Fenster zu erkennen war. Alle anderen Fenster in dieser Straße lagen im Dunklen. Die antiken, verschnörkelten Straßenlaternen erloschen erst jetzt, obwohl der Tag bereits einige Stunden alt war. An den Lichtverhältnissen änderte sich dadurch allerdings kaum etwas. Sicher stand die Sonne einfach noch zu tief und wurde von der engen Gasse regelrecht verschluckt.

Isabel blieb dicht vor dem Schaufenster stehen und lugte neugierig hinein. Es war gar nicht so einfach, denn überall auf dem Fenster klebten Reste alter Plakate, die auf unzählige, vergangene Veranstaltungen hinwiesen. Sie zeigten die Überreste mehrerer Lesungen von Autoren, deren Namen sie noch nie gehört hatte. Gleich zwei Werbungen für das jährliche Stadtfest und diversen Konzerten in den größeren Nachbarstädten. Viele waren schon in mehreren Lagen übereinander geklebt worden, und nur an einigen Stellen schimmerte das Licht des Ladens hindurch.

Dieses bunte Chaos erklärte auch, warum nirgendwo ein Name des Ladens zu lesen war. Unter einem zur Hälfte abgerissenen Plakat eines Schlagersängers kamen auf dem Glas die großen in altdeutscher Schrift geschriebenen Buchstaben »A« und »t« zum Vorschein. Mehr war von dem Namen des Ladens nicht übrig geblieben. Wenige Schritte weiter links befand sie sich schließlich vor fünf wenig vertrauenerweckenden Stufen, die hinauf zu einer Glastür führten. Dies war auch die einzige Stelle, die den Namen des Geschäftes offenbarte. »Antiquariat Anton Bender«. Die aufgeklebten Buchstaben waren in einem miserablen Zustand und blätterten schon rundherum ab.

 

Sie zögerte kurz, doch dann gab sie sich einen Ruck und öffnete die Tür. Eine altmodische Glocke erklang, die im Inneren über dem Türrahmen angebracht worden war. Als sie das Geschäft betrat, erfasste sie erneut dieses Gefühl, die Realität hinter sich zu lassen und in eine fremde Welt vorzustoßen. Die Luft war trocken und es roch ein wenig modrig. Staubpartikel schwebten deutlich sichtbar durch die Luft und überall waren Bücher gestapelt. Nicht nur in den Dutzenden von Regalen, die sich entlang der Wände zogen. Sie lagen aufgetürmt auf dem kleinen Tresen, zwischen der steinalten schwarzen Registrierkasse, auf dem Boden und auf den einsortierten Exemplaren, die allesamt eines gemeinsam hatten: sie wirkten sehr alt.

Isabel dachte kurz daran, sich den Spaß zu erlauben, nach dem neuen El James Buch zu fragen, aber als der Mann auf sie zukam, war der Gedanke auch schon wieder in den Weiten des Vergessens verschwunden.

»Einen schönen guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?«

Nicos Beschreibung des Besitzers war meilenweit von der Realität entfernt. Weder handelte es sich hier um einen älteren Mann, noch – oder besser gesagt, schon gar nicht – um einen kauzigen. Isabel empfand ihn als äußerst attraktiv. Er konnte höchstens Ende dreißig sein, hatte kurze schwarze Haare, die verwegen von seinem Kopf abstanden, und einen Dreitagebart. Die unglaublich dunklen Augen fixierten die potentielle Kundin, die, etwas verunsichert durch den Anblick des Verkäufers, leicht errötete und zu stottern begann.

»Ähm, nein danke. Ich bin nur zufällig hier vorbeigekommen und dachte, ich sehe mich mal um.« Sie drehte verspielt an einer ihrer Haarsträhnen und sah den Mann weiter mit großen Augen an.

Dieser lächelte freundlich. »Es ist ungewöhnlich, dass sich so junge Leser hierher verirren. Ich fürchte den neuen El James Roman oder dergleichen können wir Ihnen hier nicht bieten.«

Ach du scheiße ... kann der Halbgott etwa Gedanken lesen?, fuhr es durch sie hindurch und die Gesichtsröte machte einem fahlen Weiß Platz. »Wie kommen Sie denn ...?«

»Ach, wissen Sie, Sie wären nicht die Erste. Vielleicht habe ich aber auch einfach geraten«, flachste der Mann, der in seinem schwarzen Anzug extrem overdressed in dem Laden wirkte.

Und er schien erneut ihre Gedanken zu lesen. Denn sie hatte sich gerade gefragt, was ihn dazu getrieben hatte, seinen gutgebauten Körper so herauszuputzen. Den Staubmilben würde dies sicher nicht auffallen.

»Sehen Sie sich in Ruhe um. Ich muss gleich zu einer Beerdigung und habe noch einiges zu erledigen. Eine halbe Stunde kann ich Ihnen gewähren, bevor ich den Laden schließen muss.«

»Oh, das tut mir leid. Ich kann auch später wiederkommen.« Isabel fühlte sich, als wäre sie gerade in ein Fettnäpfchen getreten.

Aber die tiefe Stimme beruhigte sie. »Es ist schon in Ordnung. Bleiben Sie. Ich kann nicht genau sagen wann, geschweige denn ob, wir wieder öffnen werden.«

»Oh, das ist ja ...«

»Ja, wissen Sie, dieses Antiquariat gehörte meinem Vater Anton. Er ist ganz plötzlich verstorben, und bevor ich sagen kann, wie es mit dem Geschäft weiter geht, muss man erst einmal sehen, was der Gute in seinem Testament verfügt hat.«

Isabel wunderte sich schon ein wenig über die Redseligkeit des Mannes. Vielleicht hatte er ja sonst niemanden, mit dem er reden konnte. »Tut mir sehr leid. Das hat Sie sicher tief getroffen.«

»Um ehrlich zu sein, ich kannte den alten Knaben kaum. Wir hatten nie viel Kontakt miteinander. Er lebte für diesen Laden hier, deshalb möchte meine Frau ihn auch erhalten.«

Natürlich ist er verheiratet! Das sind sie ja immer! Verheiratet, schwul oder pervers! Gab es eigentlich nichts dazwischen? Den Rest seiner Worte hatte sie kaum wahrgenommen, da sie, gefangen in einem Tagtraum, gerade von seinen starken Händen an den empfindlichsten Stellen ihres Körpers berührt wurde. Erst als er von seiner Frau sprach, zerplatzte die Traumblase mit einem verhöhnenden Plopp vor ihrem geistigen Auge und holte sie zurück auf den Boden. »Ähm, ja, also wenn es okay ist, sehe ich mich dann ein bisschen um.«

»Ja natürlich, machen Sie ruhig.« Er wandte sich von ihr ab und begab sich zurück hinter den Tresen, an dem er offenbar irgendwelche Papiere studierte.

 

Isabel blickte hinauf. Der Laden war erheblich größer, als sie es vermutet hätte. Er erstreckte sich über zwei Etagen. An beiden Seiten des Raumes führten geschwungene alte Treppen hinauf. Das Geländer glänzte, als wäre es aus purem Gold gefertigt worden. Was sicherlich nicht der Fall war. Sie betrat die erste Stufe der linken Treppe und ging langsam, ja fast andächtig, nach oben. Diese Ebene zog sich wie ein Balkon einmal rings um den gesamten Raum. Ebenso wie die klassischen Eichenregale, die auch hier prallgefüllt mit staubigen Werken aus der Vergangenheit der Literaturgeschichte waren.

Während sie die Runde einmal ablief und ihre Blicke über die Auswahl streifen ließ, kam ihr der Gedanke an den Einbruch wieder in den Sinn. Nico musste verrückt sein. Wo sollte man hier anfangen zu suchen? Die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen wäre einfacher zu finden gewesen. So würde dies niemals funktionieren, sie brauchte einen Anhaltspunkt. Sie ging wieder hinunter und ihr Weg führte sie schnurstracks zum Tresen. Der Adonis blickte auf.

»Und? Haben Sie etwas gefunden? Oder brauchen Sie Hilfe?«

»Nein, ich ... also ... man wird wirklich erschlagen von Ihrem Angebot. Ich glaube, da reicht die Zeit jetzt doch nicht so ganz.«

»Wenn Sie mir sagen, was Sie suchen, könnte ich vielleicht helfen. Ich habe zwar noch nicht den hundertprozentigen Durchblick, aber ein wenig schon.«

Isabel fing erneut an, nervös an ihrer Strähne zu zupfen. »Ich weiß nicht, ich dachte, ich könnte vielleicht etwas finden, mit dem ich meinen Philosophieprofessor beeindrucken kann.«

»Sie studieren Philosophie?«

Da war es wieder. Dieses Lächeln, dem man, beziehungsweise Frau, sich nicht entziehen konnte. »Ja, ähm nein, eigentlich Betriebswirtschaftslehre, aber wegen meines Freundes besuche ich auch die Philosophievorlesungen.« Im selben Moment hätte sie sich am liebsten auf die Zunge gebissen. Na toll ... nur, weil er verheiratet ist, musst du deine Chancen ja nicht noch weiter minimieren. Dumme Nuss.

»Worüber reden Sie denn gerade in den Vorlesungen?«, wollte er wissen.

»Platos Höhlengleichnis.« War ihre kurze und knappe Antwort.

»Standardprogramm, was? Wie wäre es mit Satre?«

»Vielleicht. Aber da gab es doch noch einen Philosophen, der ähnlich klingt ...«

»Hmmm ... ich muss gestehen, ich bin kein Experte auf dem Gebiet«, erwiderte er.

Diese Augen ... »Also ich erinnere mich nicht genau. Saten..., Sad..., de Sade, ja genau. Das war es.«

»De Sade? Meinen Sie wirklich, das wäre der richtige Stoff für die Uni? Diese Schriften sind über alle Maßen brutal und pervers. Von dem Namen wurde seinerzeit der Begriff Sadismus abgeleitet.«

»Ja, genau den meinte ich. Haben Sie etwas von ihm?«

Das Lächeln des Mannes wich einem Ausdruck, der irgendwo zwischen überrascht und nachdenklich einzuordnen war. Er versuchte es augenscheinlich zu verbergen, doch sein Blick wanderte für einen kurzen Moment zu einem wurmstichigen Schrank, der hinter dem Tresen stand. »Nein, ich fürchte, da müssten Sie schon selber nachschauen. Ob so etwas da ist, weiß ich erst nach der Inventur. Wie gesagt, ich habe noch nicht den Überblick.«

»Das macht nichts. Ich komme noch mal wieder, wenn Sie alles geregelt haben. Es eilt ja nicht.« Ich werde so oft es geht wiederkommen, du lebendig gewordener Traum. Seine Antwort registrierte Isabel gar nicht mehr. Sie war aus dem Laden geeilt und hatte sich auf ihr Fahrrad geschwungen. Nicht nur, dass sie gerade den heißesten Typen der Stadt kennengelernt hatte, nein, der kleine Mann in ihrem Ohr flüsterte ihr zu, dass sie nun genau wusste, wo sie nach dem mysteriösen Buch suchen musste.