Kapitel 15
Kommissar Bölder tobte vor Wut. »Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen, Henschel? Was soll das heißen, Sie haben sie verloren?«
Der Beamte am anderen Ende des Telefons wurde immer kleinlauter. »Sie ist, wie ausgemacht, in das Krankenhaus gegangen. Als es mir zu lange dauerte, bin ich hinterher. Nachdem ich nach ihr in der Notaufnahme gefragt hatte, stellte sich heraus, dass sie nie dort war. Sie muss durch einen anderen Ausgang verschwunden sein.«
»Mann, Henschel! Man merkt, dass sie keine Frau haben. Natürlich ist sie abgehauen. Sie ist nicht nur Journalistin, sondern auch noch in Sorge um ihre Schwester. Was meinen Sie denn wohl, warum ich Sie mitgeschickt hatte? Sie sollten Frau Sander im Auge behalten.«
»Es tut mir leid, ich bin davon ausgegangen, dass es Ihnen nur darum ging, sie im Anschluss an den Tatort zu chauffieren ...«
»Wo sind Sie jetzt, Henschel?«
»Na, ich stehe noch vor dem Krankenhaus.«
»Meine Güte, muss ich Ihnen erst eine Zeichnung machen? Bewegen Sie Ihren nutzlosen Arsch zur Wohnung von Frau Sander. Und zwar schnell.«
Guido Henschel startete, begleitet von einem gehetzten »okay«, den Wagen und fuhr mit quietschenden Reifen vom Parkplatz des Krankenhauses. An der Ausfahrt schaltete er das Martinshorn ein, setzte den Blinker, um nach links abzubiegen, und im selben Moment krachte es. Ein Kleintransporter erwischte den über Rot gefahrenen Polizeiwagen am Kotflügel. Der Passat drehte sich zur Hälfte um die eigene Achse und krachte mit der anderen Seite gegen die Fußgängerampel. Aus der Motorhaube wurde eine Art Spitzdach und der Winkel des Rades verkündete eine gebrochene Vorderachse. Wie die Kotflügel aussahen, konnte Henschel nur erahnen, denn er sah sie nicht mehr am Wagen. Er atmete tief durch, gab sich alle Mühe, den Schock wieder unter Kontrolle zu bekommen.
Ein besorgter Passant kam herbei geeilt. »Oh mein Gott! Ist alles in Ordnung mit Ihnen?«
Henschel starrte den älteren Mann aus weit aufgerissenen Augen an. »Ich glaube …«
»Mann, da hatten Sie aber eine ganze Armee an Schutzengeln auf Ihren schmalen Schultern, was? Ich versuche die Tür aufzumachen. Können Sie aus dem Fahrzeug aussteigen?«
»Sieht ganz so aus«, stotterte Henschel.
»Und Sie sind wirklich unverletzt? Ich rufe jetzt Ihre Kollegen, damit die sich um alles weitere kümmern können.«
Während der Mann mit seinem Handy die Notrufnummer wählte, grummelte Henschel vor sich hin: »Na prima, jetzt macht mich der Alte endgültig einen Kopf kürzer.«
***
Untersuchen lassen, wegen einer kleinen Beule. Der spinnt doch. Dorothea war auf Krawall gebürstet. Wie konnte dieser sture Kerl von ihr erwarten, dass sie sich seelenruhig ins Krankenhaus setzte und wahrscheinlich stundenlang auf den flüchtigen Blick eines jungen Arztes, der gerade erst den Schnuller über den Zaun geworfen hatte, wartete? Nur um ihr dann die Empfehlung zu geben, die Beule zu kühlen und sich auszuruhen. Pah, was bildet der sich ein. Ich möchte ihn mal sehen, wenn seine Tochter verschwunden wäre. Doros Kämpferherz hatte sie, obgleich des längeren Fußmarsches, relativ schnell zu ihrer Wohnung geführt. Sie hatte kurz aus sicherer Distanz die Lage gecheckt. »Keine Bullen. Gut, dann schnell jetzt«, spornte sie sich an. Sie ging eilig in die Wohnung und schaute sich zunächst um. »Isabel?« Keine Antwort. Noch einmal der Blick auf den Block, um sicherzugehen, dass sie den Namen richtig behalten hatte. Dann schaltete sie ihren Computer ein. Während das Gerät langsam hochfuhr, blickte sie immer wieder prüfend aus dem Fenster. Aber bisher war alles ruhig. Dass dies nicht so bleiben würde, spürte sie ganz deutlich. Endlich war der Rechner bereit. Sie rief den Browser auf und tippte den Namen Bender in die Suchmaschine ein. Über siebenundsechzigtausend Ergebnisse halfen ihr nicht wirklich weiter, aber nach der zusätzlichen Ortsangabe, sah dies schon ganz anders aus. »Antiquariat Anton Bender. Ein alter Buchladen in der Nähe des Friedhofes. Wusste ich doch, dass ich den Namen schon mal gehört hatte. Aber wieso? Was wollen Isabel und Nico da?«, flüsterte sie im Monolog.
Just in diesem Moment knallte eine Autotür vor dem Haus zu. Scheiße. Die Bullen. Nichts wie weg, Doro. Ihr werdet mich nicht daran hindern, meine Schwester zu suchen. Es klingelte. Wie naiv kann man sein? Meint ihr wirklich, ich türme aus dem Krankenhaus, um euch dann einfach hier hereinzubitten? Doro schaltete den Computer aus, schnappte sich schnell ihre Tasche und rannte zur Wohnungstür.
Die beiden gutgläubigen Beamten waren noch unten vor der Haustür.
Es gab zwei Möglichkeiten. Entweder durch den Keller zur Hintertür raus oder aber, und das schien ihr in diesem Moment die bessere Variante: zuerst ein oder zwei Etagen nach oben und warten. Wer weiß, ob sie nicht jemand genau in dem Moment ins Haus lassen würde, wenn Doro an der Tür entlang in Richtung Keller lief. Also eilte sie schnell die Treppen hinauf und vernahm schon den Summer und das Aufspringen der Haustür.
Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen. Unten wäre Doro ihnen direkt in die Arme gelaufen. So aber konnte sie aus sicherer Deckung heraus ihre Ohren spitzen und in aller Ruhe ausharren, bis die Beamten den Flur wieder verlassen hatten. Die unzähligen Klingel- und Klopfversuche hatten immerhin zehn Minuten angedauert. Doro war sich im Vorfeld nicht sicher, ob man ihr die Tür aufbrechen wird. Jetzt erschien ihr dieser Gedanke naiv und dumm. Sie war schließlich Opfer und kein Täter. Als unten die Tür ins Schloss fiel, rannte sie sofort in den Keller. Noch einen vorsichtigen Blick aus der Hintertür, dann eilte sie hinaus. Schnell war sie durch die Gärten der angrenzenden Häuser verschwunden und außer Sichtweite.
Doro hatte jetzt ein Ziel, aber dummerweise nicht die geringste Ahnung, wo sie es finden konnte. Die Lösung dieses Problems war einfach. Als sie am Vortag aus dem Haus gegangen war, hatte sie zum ersten Mal in ihrem Leben vergessen, ihr Handy einzustecken. Doch heute hatte sie daran gedacht.
Es hätte alles so einfach sein können, wenn ihre Schwester ebenfalls ein Mobiltelefon dabei gehabt hätte. Allerdings gehörte Isabel der aussterbenden Rasse von Handyhassern an. Da sie keinen großen Freundeskreis hatte, sah sie es nicht für nötig an, sich zum Sklaven der Technik zu machen. Sie hasste dieses Bild, das sich ihr tagtäglich an der Haltestelle und im Bus bot. Niemand redete mehr miteinander. Alle starrten nur noch wie Zombies auf das nervtötende Ding in ihrer Hand und tippten sich die Finger wund. Doro wollte ihr schon mehrfach eines schenken, aber Isabel wehrte sich vehement.
Für Doro war dieses kleine Stückchen Technik gerade jetzt mehr als nützlich. Sie überlegte kurz und tippte dann eine Nummer ein. Es klingelte nur zweimal, als auch schon die Stimme erklang: »Taxi Rekarda.«