Kapitel 29

 

 

 

Sein Helfer kam so ungestüm durch die Tür gejagt, dass François um ein Haar Isabel vor Schreck hätte fallen lassen.

»Bist du verrückt? Ich dachte schon, die Bullen stürmen das Haus.«

»Was ist los mit dir? Hast du nicht immer groß rumgetönt, dass es kein Problem wäre, wenn so was geschieht.«

»Es muss trotzdem nicht sein. Oder bist du etwa scharf darauf?«

»Ganz sicher nicht«, erklang es unter der Kapuze.

François klopfte ihm auf die Schulter und deutete auf das Treppenhaus. »Lass uns Gas geben. Thomas hat sich nicht gemeldet.«

»Und du gehst davon aus, dass sie ihn hochgenommen haben?«

»Entweder das oder Schlimmeres. Ansonsten wäre er längst zurück. Auf alle Fälle hätte er Bescheid gegeben.«

»Okay, dann lass uns das hier entsorgen. Das Grab ist bereit und es wird auch schon dunkel. Da draußen treibt sich niemand mehr rum. Zumindest habe ich keine Menschenseele mehr gesehen.«

Die beiden Männer gingen hinunter. Am Ende der Stufen stand bereits der Rollwagen mit einem standardmäßigen Eichensarg bereit. Isabel war noch nicht wieder zu sich gekommen. François bettete sie in die schwere Holzkiste.

 

Als sie das Haus verließen, stand die Sonne bereits so tief, dass die Dunkelheit die Oberhand gewann. Sie mussten einen halben Kilometer zum anderen Ende des Friedhofs zurücklegen, aber François gab ein gutes Tempo vor und so gelangten die beiden Mönche schnell an ihr Ziel. Es war nicht einfach, den Sarg zu zweit in die Tiefe gleiten zu lassen und es kostete sie große Anstrengung. Danach sprang François in das obere Grab. Sein Gefährte war clever genug gewesen, ein größeres Loch auszuheben und somit innerhalb des ersten Grabes einen Rand zu lassen, auf dem man sich bewegen konnte. Mittig befand sich praktisch das Grab im Grab, in welches sie Isabel hinuntergelassen hatten.

»Ich komme erstmal klar hier. Du musst etwas tun.« François schaute sehr entschlossen, mit einem Anflug von Besorgnis in den Augen. »Geh zum Haus und vernichte alle Beweise. Es wird höchste Zeit, weiterzuziehen. Wenn sie Thomas geschnappt haben, ist es nur eine Frage von Stunden, bis sie auch hier auftauchen werden.«

»Was stellst du dir vor, François? Die Abrissbirne?«

»Ja, geh in den Keller. Dort habe ich mehrere Benzinkanister eingelagert. Fackel das ganze Gemäuer ab. Sicher ist sicher. Wenn du das erledigt hast, kommst du wieder her. Ich werde die Schlampe schnell zuschütten und dann verschwinden wir aus der Stadt.«

»Ich kann hier nicht einfach verschwinden. Was ist mit meinem Job? Und was ist mit deinem Versprechen, François?«

»Manchmal ändern sich die Dinge eben. Man kann sich den Umständen anpassen oder draufgehen. Wir können es jetzt nicht ändern. Es ist, wie es ist. Und jetzt geh! Beeil dich!«

Die schwarze Kutte verschwand in der Dunkelheit, welche sich gegen die letzten Sonnenstrahlen durchgesetzt hatte.

François blickte auf seine Mumie. »Wach auf, Miststück. So bringt mir das nichts.«

Sie regte sich nicht. Also kletterte er hinunter und schlug ihr leicht gegen das eingewickelte Gesicht. Erst beim dritten Mal öffnete sie ihre Augen.

»Ah, na endlich. Ich dachte schon, du verpasst die Show.«

 

Trotz des Medikamentes klärte sich ihr Blick schnell. Die Augäpfel bewegten sich hektisch von einer Seite zur anderen. Der Wahnsinn, der sie zuvor angetrieben hatte, war aus ihrem Blick verschwunden, dafür zeichnete sich blankes Entsetzen darin ab. Fassungslos registrierte sie die Lage, in der sie sich befand. Ihr ganzer Körper fühlte sich wie in Beton gegossen an. Es war ihr nicht einmal möglich, den Kopf zu schütteln, geschweige denn, sich zu artikulieren.

Die Grausamkeit dieses Mannes kannte keinerlei Grenzen. Selbst ihren letzten Gang beabsichtigte er, zu einem seiner kranken Spiele zu machen. Ihr Abscheu und ihre Panik waren seine Leidenschaft. Dieser Anblick, diese unbeschreibliche Folter, brachte ihn erneut auf Hochtouren. Er griff sich in die Hose und begann an sich herumzuspielen. Immer darauf bedacht, ihren Schmerz, den sie durch ihre Iris hinausschrie, in sich aufzusaugen. Er hatte mit Isabel sein Meisterwerk erschaffen, denn noch nie kam er so schnell zum Höhepunkt. Er spritze seine feurige Saat auf ihren Körper und griff nach dem Sargdeckel.

Isabels Gedanken rasten mit ihrem Herz um die Wette. Innerlich schrie sie immer wieder »Nein! Nein! Bitte!« Dann wurde es dunkel. Ihr Atem ging schwer und ungleichmäßig. Zahlreiche Bilder erschienen im schnellen Wechsel vor ihrem inneren Auge. Bilder ihrer verstorbenen Eltern, von Doro und von Nico. Und wie in einer Endlosschleife spulte ihr Gehirn den Moment ab, in dem sich der Sargdeckel herabsenkte. Sie war unfähig, zu begreifen, was hier geschah. All die Schmerzen, die das Klebeband auf ihren Wunden im Normalfall ins Unermessliche verstärkt hätte, die Verletzungen an ihren Geschlechtsorganen, all dies trat in den Hintergrund. Der Schmerz wich dem einzig noch existenten Gefühl. Der blanken Todesangst. Jeder Erdhaufen, der auf den Deckel über ihr aufschlug, verstärkte dieses Gefühl. Dann wurde es ruhiger und schon bald blieb nichts mehr außer der Stille der Ewigkeit. Das sollte es also gewesen sein. Lebendig begraben. Diese Worte in ihrem Inneren stachen unerbittlich auf sie ein. Schlimmer, viel schlimmer, als es eine Klinge aus Stahl je vermocht hätte, quälten sie Isabel auf eine Art und Weise, die nur als unmenschlich zu bezeichnen war. Wie lange würde sie diesen Schrecken erleiden müssen, bis ihr die Luft ausging und sie endlich in die Arme des Todes erlöste? Eine Stunde? Einen Tag? Ihre letzte Hoffnung war die auf ein schnelles Ende.