Kapitel 19
Isabel hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Stunden erschienen ihr wie endlose Tage. Wie lange sie bereits an das Kreuz gefesselt war, vermochte sie nicht zu erahnen. Arme und Beine waren steif und schmerzten unsagbar. Die Augen hatten sich zwar an die Dunkelheit gewöhnt, aber spielten ihr immer wieder Streiche. Vorbeihuschende Schatten, Musik aus weiter Ferne und Stimmen, die dicht neben ihren Ohren flüsterten. Nichts davon war real. Isabel beschlich das Gefühl, dass der Wahnsinn nicht weit entfernt auf sie wartete und in absehbarer Zukunft von ihr Besitz ergreifen würde. Die Hoffnung auf ein Wunder war bereits gestorben, als Nico sich enttarnt hatte. Wie konnte sie nur so dumm gewesen sein, an die Liebe dieses Psychopathen zu glauben? Warum hatte sie nicht auf ihr flaues Gefühl im Magen gehört? Jener Stimme, die es gut meint, die der Seele entspringt und immer auf den richtigen Weg führt. Stattdessen hatte sie sich von ihrem Kopf beeinflussen lassen, der mit seinen vergifteten Gedanken ihre Ängste geschürt und mit den Konsequenzen gespielt hatte. Isabel hatte nicht ihrem Bauchgefühl vertraut. Das Ergebnis dessen belehrte sie nun eines Besseren. Sie schwor sich, diesen Instinkt nie wieder zu ignorieren, und betete inständig dafür, dass sie dazu noch die Gelegenheit bekäme.
Ihre Grübelei wurde jäh unterbrochen, als sich die Tür endlich wieder öffnete. Die Lampe wurde eingeschaltet. Obgleich ihrer schwachen Leistung, wurde Isabel geblendet. Mit zusammengekniffenen Augen beobachtete sie die beiden Handlanger von François. Dieses Mal hatten sie die Mönchskutten gegen schwarze Armeekleidung und Skimasken getauscht.
»Bitte helft mir, ich spüre meine Arme nicht mehr, es tut so weh.«
Einer kam mit schnellen Schritten auf sie zu und schlug ihr ins Gesicht. »Du sprichst nur dann, wenn der Meister dich dazu auffordert.«
Die Stimme des Mannes klang jünger als die von François, aber nicht minder entschlossen. Der andere kam hinzu und zog eine Spritze aus der Jackentasche. Isabel war noch benommen von der heftigen Ohrfeige und registrierte die Nadel erst, als das dünne Metall bereits in ihre Haut eindrang.
»Was ...?« Weiter kam sie nicht. Der zweite Schlag war um einiges stärker und ließ sie Sterne sehen.
»Sie begreift es einfach nicht, was?«
Sein Partner beantwortete die Frage lediglich mit einem »Grmpf«. Er war definitiv der Schweigsamere dieser psychotischen Truppe.
Isabels Wange erstrahlte in einem kräftigen Zinnoberrot. Die Wärme, die sich darin ausbreitete, wurde nur noch von dem schmerzhaften Pochen übertrumpft. Unter Tränen entschied sie sich, ab sofort den Mund zu halten - einen weiteren Schlag würde sie nicht ertragen.
Es dauerte eine Weile bis das Mittel, das man ihr verabreicht hatte, anfing, seine Wirkung zu entfalten. Dass ihr etwas schwummerig wurde, führte sie darauf zurück, dass sie ihr Gesicht dummerweise in der Flugbahn der schlagwütigen Hand geparkt hatte. Sie sah, dass die Peiniger sie beobachteten und miteinander tuschelten. Ihre Stimmen wurden immer tiefer und langgezogener, während die Körper sich mehr und mehr verzerrten. Isabel hatte das Gefühl, aus Watte zu bestehen. Alles um sie herum rückte in weite Ferne. Wenige Momente später war sie eingeschlafen.
Die Männer wurden sofort aktiv, hatten sie doch voller Ungeduld auf diesen Moment gewartet. In Windeseile lösten sie die Ledermanschetten und nahmen das Mädchen vom Kreuz. Sie legten ihren Körper auf den Bauch und fesselten ihre Handgelenke mit einer massiven Kette und einem Vorhängeschloss auf den Rücken. Zusätzlich wurden ihre Oberarme mit einem Seil ober- und unterhalb der Brust fest an den Körper gebunden, sodass sie diese nicht mehr bewegen konnte. Dann betätigte einer der beiden eine elektrische Seilwinde, deren Schalter neben der Tür angebracht war. Eine um einiges dickere Kette senkte sich herab. An ihrem Ende befand sich eine Stange aus Metall mit schweren Manschetten für die Fußgelenke. Ein paar geübte Handgriffe später zogen sie die junge Frau gut einen Meter kopfüber in die Höhe. Zu guter Letzt klebten sie ihr den Mund mit schwarzem Panzerband zu. Jetzt war sie bereit für den Marquis.
***
Doro hatte gewartet und den Laden aus sicherer Entfernung beobachtet. Nico war der einzige Kunde, der das Geschäft betreten hatte. Es hatte keine zehn Minuten gedauert, als er auch schon wieder hinauseilte und in derselben Richtung verschwand, aus der er zuvor gekommen war. Um zu bemerken, dass hier etwas oberfaul war, musste man weder Detektiv noch Journalist sein. Doro war sich sicher, dass ihre Schwester mit diesem zwielichten Typen losgezogen war. Doch nun sah sie ihn allein. Als er endlich außer Sicht war, ging sie auf das Antiquariat zu. Ein kurzer Blick auf das verklebte Fenster stärkte den Eindruck, den sie von der ganzen Straße hatte. Was für eine abgefuckte Gegend. Isabel ... ich komme. In was dieser kleine Penner dich da auch reingezogen hat, ich hole dich raus. Ohne weiter zu zögern, ging sie hinauf zum Eingang und öffnete die Tür.
Die Glocken schreckten François auf. Noch über seine Unterlagen gebeugt sagte er: »Wir haben eigentlich ...« Mitten im Satz erblickte er die fast einen Meter achtzig große Schönheit mit dem goldblonden Haar. Ihre energische und selbstsichere Art sprach François an. »... aber treten Sie ein. Ich kann ja mal eine Ausnahme machen.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Herr?«
»Bender. Meinem Vater gehörte bis vor kurzem dieser Laden. Ich trete sozusagen gerade sein Erbe an.«
»Oh, mein Beileid.«
»Nein, ist schon gut. Er war alt und wir pflegten auch kein gutes Verhältnis. Was kann ich denn für Sie tun, hübsche Lady?«
Doros Blick verengte sich prüfend. Dieser extrem gut aussehende Mann war viel zu freundlich. Ihr Misstrauen war geweckt. Sie ging bis zum Tresen und starrte dem Schönling in die dunklen Augen, als hätte sie gerade ihren internen Lügendetektor eingeschaltet.
Und tatsächlich hatte Doro diesbezüglich eine ausgeprägte Gabe. Sie erkannte nicht alle Lügner, jedoch gestaltete es sich in der Regel ziemlich schwierig, sie zu täuschen. Ihre Schwester und auch einige Kollegen bei der Zeitung hatten ihr schon mehrfach gesagt, dass sie bei der Polizei besser aufgehoben wäre. Doch ihre Meinung zu den Staatsdienern war nicht gerade die Beste. Allgemein war sie auf Vater Staat und die Politik nicht gut zu sprechen, allerdings ließ sie sich dies nur selten anmerken. Zu ihren Uni-Zeiten hatte sie sich viel mit Themen befasst, die in die Schublade Verschwörungstheorien gepackt wurden. Dass die meisten dieser angeblichen Verschwörungen heute bittere Realität waren, das wollten immer noch die wenigsten wahr haben. Diesem Interesse für die Wahrheit war es letzten Endes zuzuschreiben, dass sie bei der Zeitung anfing. Sicher, es handelte sich nur um ein regionales Käseblättchen, dennoch war Doro anfangs tatsächlich der Ansicht, auch hier etwas bewegen zu können. Das hier – diese Story, dieser Fall – stellte jedoch ihr erstes bedeutsames Ereignis in ihrer Laufbahn dar. Dass sie, durch das Verschwinden ihrer Schwester und dem vermuteten Zusammenhang, nun selbst involviert war, machte das Ganze im doppelten Sinne zu einer Feuertaufe.
»Mein Name ist Sander. Ich arbeite für die hiesige Lokalpresse und recherchiere zum Thema Jugendkriminalität. Der junge Mann, der kurz vor mir aus dem Laden kam, kennen Sie ihn?«
François fasste sich nachdenklich ans Kinn. »Sie sind Reporterin? Also, nein. Ich glaube, ich habe ihn heute zum ersten Mal gesehen. Wie gesagt, ich übernehme das Geschäft gerade erst. Ursprünglich komme ich nicht aus der Gegend.«
Doro achtete peinlich genau auf jede Gesichtspartie und insbesondere auf die Augen des Mannes. Er war gut, so viel stand fest. Aber er sagte dennoch nicht die Wahrheit, dessen war sie sich ganz sicher. »Was wollte er hier? Dieser Junge scheint mir kein besonders belesener Typ zu sein.«
Bender lachte verkrampft. »Ja, wissen Sie, ich habe genau dasselbe gedacht, als er vorhin hier hereinschneite und doch allen Ernstes nach einem Kamasutra fragte.«
»Er kam mit leeren Händen aus Ihrem Laden.«
»Ja natürlich. Ich dachte, der Punk will mich auf den Arm nehmen. Ich sagte ihm, dass ich nicht weiterhelfen kann. Außerdem habe ich noch keine Übersicht über den Buchbestand. Eine Inventur steht noch aus. Eigentlich haben wir ...«
»... geschlossen. Ja, das erwähnten Sie schon. Sie können mir also nichts über Nicholas Menges erzählen?«
»Über wen?«
Doro zog leicht genervt die Augenbrauen hoch, da das Schauspiel des Fremden an Qualität abnahm. »Na, den Punk.«
»Ich fürchte nicht. Tut mir sehr leid.«
Mit einem halbherzigen Dankeschön verabschiedete sie sich und verließ zügig den Laden. Vielleicht konnte sie ihn ja noch einholen und auf diesem Wege etwas herausfinden. Das Antiquariat und dieser Bender waren jedenfalls nicht koscher, das stand schon mal fest. Sie hoffte darauf, dass Carsten vielleicht etwas in Erfahrung bringen konnte. Aber zunächst folgte sie Nico.
Sie hatte den Laden gerade erst verlassen, als François wutschnaubend sein Handy hervor kramte. Er wählte eine Nummer und musste eine ganze Weile warten, bis endlich die Stimme von seinem Anwärter erklang.
»Ja, was gibt’s, Meister?«
»Hast du mir nicht mehrfach versichert, dass keine Spur zu uns führt? Und hast du mir nicht hoch und heilig versprochen, dass diese Dreckschlampe aus dem Spiel ist?«
»Meister? Wovon reden Sie? Ich kann Ihnen nicht folgen.«
»Von der Schwester natürlich. Von der verdammten, scheißneugierigen Schwester. Du hast gesagt, du hättest ihr eine Lektion verpasst, die sie uns vom Hals halten würde.«
»Ja, ich hab’s ihr richtig besorgt. Wahrscheinlich liegt die immer noch mit gewaltigen Kopfschmerzen im Wald und fragt sich, ob eine Dampfwalze sie überrollt hat.«
François wurde puterrot im Gesicht und brüllte lautstark in den Hörer. »Nein, das tut sie nicht, du verfluchter Versager. Zufälligerweise war sie vor ein paar Minuten im Laden und hat sich nach dir erkundigt. Ich wusste, ich hätte mich nicht mit so einem heruntergekommenen Penner abgeben sollen.«
»Aber Meister, ich verstehe das nicht. Ich habe wirklich ...«
»Hör mir jetzt gut zu, Junge. Das war deine zweite Verfehlung in wenigen Tagen. Nur dass uns deine neuerliche Inkompetenz alle den Kopf kosten kann.«
»Was soll ich tun? Was kann ich tun?«
François atmete tief durch und dachte eine Sekunde nach, bevor er in bedrohlich ruhigem Ton antwortete: »Leg die Schlampe um. Und lass es wie einen gewöhnlichen Verkehrsunfall aussehen.«