Kapitel 16
Isabel begriff noch nicht, was sich ihr soeben offenbart hatte. »Nico? Oh mein Gott, haben sie dich etwa auch ...«
François trat neben ihren Freund und legte seinen Arm um dessen Schultern. »Ist sie nicht süß in ihrer Naivität? Komm schon Kumpel, sag es ihr. Erzähl ihr die ganze, traurige Wahrheit.«
Nico konnte seiner Freundin nicht in die Augen schauen. Scheinbar war noch ein Funke Gewissen in seinem verräterischen Geist vorhanden.
Nur langsam lichtete sich der Schleier, der Isabel die Sicht auf die Wahrheit vernebelt hatte. »Nico? Bitte sag mir, dass du nichts mit dieser Sache hier zu tun hast.«
Den Blick gen Boden geneigt und mit zitternder Stimme, blieb ihm nichts anderes übrig, als sich dieser Konfrontation zu stellen. Er hatte sie in diese Situation gebracht und nun musste er dazu stehen. Doch es war eine Sache, sie in diese Falle zu locken, aber eine ganz andere, sich nun als das zu präsentieren, was er nun einmal war. Er hatte sich diesen Moment leichter vorgestellt. Wider Erwarten geriet er in einen Konflikt. Einerseits war er froh gewesen, sich vor seinem neuen Mentor als würdig erweisen zu können. Andererseits war Isabel ihm nicht so gleichgültig, wie er es sich selbst eingeredet hatte, um diesen Plan wirklich durchzuziehen. Immerhin hatte François ihm hoch und heilig versprochen, dass sie nur ein paar Tage ihren Spaß mit ihr haben wollten und dass Isabel danach eine so hörige Sklavin für Nico sein würde, dass er seinem Meister auf Knien dafür danken würde. Sie würde nach wenigen Tagen in den Händen von François für alle Zeiten dafür sorgen, dass keine von Nicos noch so extremen Fantasien unerfüllt blieben.
»Isabel, ich ... also ... es tut mir leid.«
Ihre tränengefüllten Augen verengten sich zu bösartigen Schlitzen. Nico schaute kurz nach oben, konnte ihrem Blick aber nicht standhalten. Es wirkte auf ihn, als ob er direkt seinem vorwurfsvollen Gewissen ins Antlitz schaut.
»Du elendes Schwein. Warum habe ich nicht auf meine Schwester gehört. Sie hat mich immer vor dir gewarnt, du mieses Stück Scheiße.« Sie schrie und schluchzte im Wechselspiel der überschäumenden Emotionen. Es war zu viel, was auf sie einströmte.
Aber auch Nico schien gerade ein Gefühlschaos zu durchleben. Er hob plötzlich seinen Kopf, ließ das Rasiermesser in die Wasserschale fallen und starrte sie mit einem Blick, irgendwo zwischen Schmerz, Wut und Verzweiflung an. Dann donnerte es brachial aus ihm heraus: »Du hast ja keine Ahnung, du dumme Göre. Weißt du, wie es ist, nie irgendwo dazuzugehören? Was es mit einem Menschen macht, wenn selbst die eigenen Eltern einen nicht haben wollen? Wenn sie dich weggeben, ohne dass du jemals den Grund dafür erfahren wirst.«
»Oh, mir kommen gleich wieder die Tränen. Wahrscheinlich haben sie geahnt, was für eine falsche Missgeburt aus dir werden wird.«
François klatschte Applaus und stimmte sein krankes Gelächter an. »Ja, lasst eurem Hass freien Lauf. Endlich kommt Leben in die Hütte.«
»Nico, was stimmt nicht mit dir? Ich dachte du liebst mich? Warum tust du mir das an?«
»Ich musste es tun. Und ja, ich schätze schon, dass ich dich irgendwie liebe.«
Isabels Angst hatte dem Zorn nun endgültig das Ruder überlassen. Sie deutete mit den Augen auf die Fesseln an ihren Handgelenken und schrie ihn weiter an: »Das hier nennst du Liebe? Ich hatte dich erst vor Kurzem gefragt, ob dir unsere sexuellen Experimente nicht ausreichen. Du erinnerst dich?«
»Es hat sich einiges verändert. Das kannst du nicht nachempfinden. Nur der Marquis versteht es.«
François lachte noch immer und wirkte stolz, als er die Worte vernahm.
»Der Marquis? Was soll dieser Quatsch nun schon wieder?«
»François de Sade. Ich vergaß offenbar, mich korrekt vorzustellen.«
»Nico? Wo bin ich hier? Ist das die städtische Klapsmühle? Was hat dieser kranke Typ dir für eine Gehirnwäsche verpasst?«
»Dieser kranke Typ, wie du so schön sagst, ist der erste Mensch, der mich so akzeptiert, wie ich bin. Der mich in seinen Kreis aufnehmen wird, wenn wir deine Umerziehung abgeschlossen haben.«
Sicher hätte Isabel sich in diesem Moment an den Kopf gefasst, doch die stramm sitzenden Lederriemen hinderten sie daran. »Was sollte dann der ganze Schwachsinn mit dem mysteriösen Buch? Du hättest mich bestimmt auch einfacher hierher bekommen.«
François antwortete selbst auf diese Frage. »Oh Liebes, das war kein Schwachsinn. Unserem kleinen Nico hier fehlt es etwas an Fantasie, deshalb hat er einfach das aufgegriffen, was ich ihm erzählt habe. Ich suche dieses Buch schon sehr lange, aber das ist für dich nicht weiter von Belang.« Der Meister deutete Nico, dass er fortfahren solle.
Der nickte und wandte sich wieder an seine Freundin. »Wir mussten sichergehen, dass du alles dafür tun wirst, dass niemand erfährt, was du in dieser Nacht vorhattest. So brauchten wir uns keine weitere Mühe machen. Du hast uns praktisch die Arbeit abgenommen und uns einigen Aufwand erspart. Niemand weiß, dass du hier bist. Also wird dich auch niemand an diesem Ort suchen.«
Erst in dieser Sekunde wurde Isabel die wahre Tragweite ihrer Situation bewusst. Diese Monster hatten recht. Niemand, nicht einmal ihre Schwester, hatte auch nur die geringste Ahnung davon, wo sie war. Ihre ganze Hoffnung hatte auf Nico gelegen, der sie hierhergeführt hatte.
François konnte es in ihren Augen lesen. Die Wahrheit verbannte den Zorn und die Furcht gewann wieder die Oberhand. Es waren jene Gefühle, die seine Leidenschaft darstellten. Je extremer die Emotionen seiner Opfer waren, desto mehr sexuelle Erfüllung bescherten sie ihm.
Der Kampfgeist in Isabel schien von einer Sekunde zur anderen erloschen zu sein. Erfüllt von lähmender Resignation fragte sie: »Und was soll dieser Marquis-Quatsch?«
Nico schaute zu François hinüber, der zustimmend nickte. »Der Meister ist die Reinkarnation des Marquis de Sade.«