Kapitel 18
François hatte mit seinen beiden Schergen den Dachboden verlassen und Nico begann, seine Freundin von allen Haaren zu befreien. Und der Meister hatte nicht nur von denen des Schambereiches gesprochen. Er sah es als große Demütigung an, seinen Opfern auch das Haupthaar zu entfernen.
Als Nico ein letztes Mal das Rasiermesser ansetzte, liefen Isabel bittere Tränen über das Gesicht. Diese Prozedur verfehlte auch bei ihr die erwünschte Wirkung nicht. Die Probleme, die sie ausgezogen verspürte, steigerten sich um ein Vielfaches, denn nun war sie wirklich nackt. Sie schämte sich unglaublich und fühlte sich auf eine Art gepeinigt, die ihr tiefe Narben ins Herz schnitt.
»Nico. Wie kannst du das nur tun? Was hat dieser Mensch mit dir gemacht? Was für einer Gehirnwäsche hat er dich ausgesetzt?« Ihre Worte waren kaum zu verstehen, zwischen dem Schluchzen und dem ständigen Nase hochziehen.
Ihr Freund wischte das Rasiermesser ab, klappte es zusammen und steckte es weg. »Mir bleibt keine Wahl, Isabel. Das habe ich dir doch schon erklärt. Ich habe für dich getan, was ich konnte.«
Der verständnislose Blick, der ihn zu durchbohren drohte, machte ihre Antwort fast überflüssig. »Was hast du denn getan? Ich meine, außer mich in die Falle zu locken und mir meine verdammten Haare abzuschneiden?«
Mit jedem Wort wurde Isabel lauter und Nico wütender.
Er packte ihr Kinn, näherte sich ihrem Gesicht und fauchte sie an. »Ich habe dafür gesorgt, dass du das hier überleben wirst.« Stummes Entsetzen spiegelte sich in ihren verweinten Augen, als er fortfuhr. »Du hast wirklich keine Ahnung, was hier abgeht, oder? Glaubst du, François würde dich im Normalfall lebend gehen lassen? Diese Marquis-de-Sade-Nummer ist kein Spleen, er glaubt wirklich, dass er die Wiedergeburt dieses Psychopathen ist. Und bei der Auslebung seiner extremen Neigungen lässt er nie Zeugen zurück. Ich habe mit meinem Leben dafür gebürgt, dass du niemals über deine Zeit hier reden wirst.« Er bückte sich, nahm die Wasserschüssel und bewegte sich auf den Treppenaufgang zu. »Mehr kann ich für dich nicht tun. Füge dich, tu alles, was er von dir verlangt, oder wir gehen beide drauf.« Dann löschte er das Licht, sperrte die Tür von außen zu und war verschwunden.
Isabel war allein. Die Schwärze hatte fast etwas Friedvolles, wären da nicht die unzähligen Gedanken, die ihr ein grausames Martyrium aufzwangen. Aus Gedanken wurden Emotionen. Und diese durchliefen alles, was der menschliche Geist zu erschaffen imstande war. Angst, Trauer, Wut, Hass und Panik bildeten dabei nur die Eckpfeiler. Isabel befürchtete, ihren Verstand zu verlieren. Ihre Arme schmerzten unglaublich und schliefen immer wieder ein. Doch niemand machte Anstalten, sie zu befreien. Es schien sich allgemein keiner mehr mit ihr befassen zu wollen. Stunde um Stunde verging, ohne dass die Tür zum Dachboden sich wieder öffnete. Was, wenn nie wieder jemand kommen würde? Sie malte sich aus, was wohl der schlimmere Tod sein würde. Verhungern? Oder verdursten? Oh ja, der vermeintliche Marquis hatte Nico sein Wort gegeben, dass Isabel hier nicht sterben würde. Aber wenn das, was Nico erzählt hatte, wirklich der Wahrheit entsprach, dann war es das Wort eines sadistischen Mörders. Was konnte so ein Versprechen wert sein? Isabel musste zum ersten Mal erfahren, was wahre Todesangst bedeutete.
***
Doro hatte sich eine Querstraße weiter absetzen lassen. Die Gegend erschien ihr so fremd, als wäre sie in einem anderen Ort und obendrein zu einer anderen Zeit aus dem Taxi gestiegen. Sie bezahlte den Fahrer und ging vorsichtig um das Haus herum, das die Sicht auf ihr Ziel versperrt hatte. Was für eine traurige Gegend. Spiele ich hier gerade die Hauptrolle in der Twighlight Zone? Einem inneren Impuls folgend, nahm sie ihr Handy aus der Tasche und wählte die Nummer ihres Redakteurs aus der Liste. Sie brauchte nicht lange zu warten, bis ein gestresst wirkender Carsten Wittke sich meldete.
»Doro. Was in Gottes Namen ist los bei dir?«
Sie nahm das Gerät kurz vom Ohr und starrte es verdutzt an, als ob sie dem Mann dadurch ins Gesicht sehen könnte. »Ähm, wieso? Was ist ...«
Ihr aufgebrachter Chef ließ sie nicht weiter zu Wort kommen. »Die Polizei war gerade hier und hat nach dir gefragt.«
»Ähm ...« Doro kicherte etwas verlegen. »Ja ... die Polizei ist eingeweiht, das wolltest du doch. Carsten, du hast gesagt, wenn es brenzlig wird, soll ich die Kavallerie benachrichtigen.«
»Willst du mich auf den Arm nehmen? Es heißt, du wärst nach einem Überfall aus dem Krankenhaus geflohen.«
»Ähm, ja, da war was.« Dorothea war nie eine gute Lügnerin gewesen. Ihre Wangen und die Nasenspitze bekamen postwendend einen gesunden Rotton. Wer sie besser kannte, wusste diese Anzeichen genau zu deuten. »Chef, ich bin da einer großen Sache auf der Spur.«
»Was ist mit dem Überfall? Geht es dir gut? Vielleicht solltest du ja doch zunächst ins Krankenhaus.«
»Carsten, jetzt fang nicht auch noch an. Alles zu seiner Zeit. Es gibt Wichtigeres. Isabel ist verschwunden.«
»Was? Oh mein Gott. Und deiner Stimme nach zu urteilen glaubst du, es besteht eine Verbindung zu den anderen Fällen?«
»Ja, leider spricht mein Bauchgefühl da eine ganz deutliche Sprache. Darum brauche ich deine Hilfe.«
»Was kann ich tun?«
»Du musst für mich einen Nico oder Nicholas Menges überprüfen. Außerdem brauche ich alles, was du über den Namen Bender herausfinden kannst. Ich bin hier an einem alten Buchladen, einem Antiquariat, das einem Anton Bender gehören soll.«
»Wonach soll ich denn genau suchen?« Carsten Wittke schien leicht überfordert zu sein.
»Nach einfach allem. Ich melde mich wieder. Da ist jemand.« Doro drückte das Gespräch hastig und ohne sich zu verabschieden weg. Wie in Trance ließ sie das Handy zurück in die Tasche gleiten. Habe ich gerade einen Geist gesehen? Was macht der denn hier? Nico kam gerade aus der anderen Richtung die Straße entlang gelaufen. Im ersten Moment dachte sie, er käme direkt auf sie zu, doch dann schwenkte er nach links und betrat den Laden. Na also Spürnase. Wenn das ein Zufall ist, darf mich ab heute jeder Dorothea nennen.