Kapitel 30

 

 

 

Bölder erwies sich dieses Mal als cleverer. Nicht nur er und seine Leute hatten auf Blaulicht und Sirenen verzichtet, er hatte auch die Verstärkung angewiesen, unauffällig anzurücken. Insgesamt zwölf Polizisten versammelten sich hinter dem Haus des Totengräbers, welchen sie mit einem Beamten im Streifenwagen zurückließen.

Bölder ermahnte Doro, dass es langsam an der Zeit wäre, sich im Krankenhaus behandeln zu lassen. »Mit einer Gehirnerschütterung ist nicht zu spaßen«, wiederholte er sich schon zum dritten Mal.

»Sobald wir Isabel gefunden haben, werde ich Ihnen diesen Lebenstraum erfüllen. Sie dürfen mich höchstpersönlich im Krankenhaus abliefern – wenn das hier vorbei ist.«

Ihr zu widersprechen, hatte er längst aufgegeben. Der Kommissar schaute in die Runde. Seine Leute waren bereit. Ohne weiter zu zögern, gab er das Zeichen. In Sekundenbruchteilen hatten die Polizisten die Eingangstür aufgebrochen und stürmten lautlos in das Haus, wo sie ausschwärmten. Die Hälfte von ihnen eilte direkt die Treppen hinauf. Ihr Ziel war der Dachboden.

Doro ging langsam dem Hauptkommissar hinterher. Nach ihrem Zusammentreffen mit Thomas, mahnte der kleine Mann im Ohr sie zu etwas vorsichtigerem Handeln. Davon abgesehen hegte sie große Zweifel daran, dass ihr Kopf noch einen weiteren Schlag verkraften würde.

 

Die Männer hatten ihr Ziel schnell erreicht. Einer von ihnen trat ohne zu zögern die Tür zum Dachboden ein und stürmte mit der entsicherten Waffe im Anschlag hinein. »Polizei! Stellen Sie die Kanister ab und drehen Sie sich langsam um.« Die anderen kamen hinzu und richteten ebenfalls ihre Pistolen auf den Verdächtigen in der Mönchskutte. Die unheimliche Gestalt folgte den Anweisungen langsam und mit Bedacht.

»Hauptkommissar, hier oben, wir haben ihn«, rief einer der Beamten in den Flur hinein. »Treten Sie von den Kanistern weg und legen Sie die Hände hinter Ihren Kopf.«

Langsam trat der Mönch zur Seite. In diesem Moment erreichten Doro und Bölder den Dachboden. Die Uniformierten wurden nur für den Hauch eines Augenblicks durch die Ankömmlinge abgelenkt. Genau diesen Moment passte der Unheimliche ab. Er trat gegen die Benzinkanister und zog ein Zippo aus seiner Kutte, das tatsächlich beim ersten Versuch eine Flamme spendete.

Den Polizisten war ein nicht unerhebliches Detail entgangen. Die Kunststoffbehälter mit ihrem hoch entzündlichen Inhalt waren bereits geöffnet. Das Gemisch verteilte sich rasend schnell auf dem ganzen Boden und in null Komma nichts standen sie inmitten einer riesigen Lache.

»Na los! Erschießt mich doch, ihr Schwachköpfe. Aber dann gehen wir hier alle drauf!«, sagte der Unbekannte. Seine Stimme klang verstellt und heiser. Er hielt das brennende Feuerzeug so, dass es unweigerlich in die Pfütze gefallen wäre, sollte ein übereifriger Polizist auf den dummen Gedanken kommen, seine Waffe zu benutzen.

Aber das taten sie nicht. Dies hier stellte für die Beamten eine Situation dar, welche sie selbst nur aus Filmen kannten, jedoch so noch nie erlebt hatten. Sie wichen vorsichtig und langsam zurück.

»Wusste ich doch, dass keiner von euch scharf drauf ist, mit mir in die Hölle zu fahren. Und jetzt bleibt gefälligst, wo ihr seid. Legt die Waffen auf den Boden und nehmt die scheiß Hände über den Kopf.« Während er sprach, schob er sich vorsichtig und wachsam an ihnen vorbei zur Treppe.

»Tun Sie etwas!«, flüsterte Doro dem Kommissar zu.

Dieser zuckte nur mit den Schultern. Er war mit der Situation ebenso überfordert, wie seine Leute. Der Mönch ging rückwärts zur ersten Stufe hinter der Tür. Niemand unternahm einen Versuch, ihn aufzuhalten.

Doro trieb dies zur Weißglut. »Was seid ihr hier nur für Waschlappen? Es ist nur ein Mann. Und sieben andere trauen sich nichts, weil er ein verdammtes Feuerzeug in der Hand hat? Ihr verdammten Hinterwäldler! Möchtegern-Bullen!«

 

Der Fremde, dessen Gesicht nach wie vor unter der großen Kapuze nicht zu erkennen war, holte aus. Doro begriff sofort. Er wollte das Feuerzeug werfen. Sie dachte nicht länger nach, sondern reagierte instinktiv. Sie sprang auf den Kuttenträger wie eine Wildkatze zu und riss ihn von den Füßen. Die beiden polterten laut schreiend und fluchend den ersten Treppenabsatz hinunter. Doro hatte Glück. Sie landete weich auf dem Bauch des Mannes und zog sich nur ein paar Kratzer zu. Er hingegen schien ziemlich benommen und lag in einer unnatürlichen Position unter ihr.

Dorotheas Wut war noch nicht verklungen. »So, Bender, oder wie immer du Arschloch auch heißt. Das Spiel ist aus. Wo zur Hölle ist meine Schwester?« Im selben Atemzug riss sie ihm die Kapuze vom Kopf und sprang schockiert auf. »Also doch! Ich hatte bis zuletzt gehofft, dass ich falsch liege.«

»Es tut mir leid, Doro. Das musst du mir glauben. Ich hatte keine Ahnung, dass er sich deine Schwester greifen würde. Als Nico sie dann in die Falle lockte, war es zu spät. Der Marquis hätte mich umgebracht, wenn ich nicht mitgezogen hätte.«

Kommissar Bölder kam dazu und glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Auf dem Boden lag Carsten Wittke, Doros Redakteur.

 

***

 

Was macht dieser Idiot denn nur? François starrte in die Richtung des Hauses. Keine Spur von Feuer oder Rauch. Und keine Spur von Carsten. Mit Hilfe des kleinen Baggers hatte der Marquis das untere Grab schnell aufgefüllt. Er schaute auf die Uhr seines Handys. Wie lange genau Carsten fort war konnte er nicht sagen, jedoch lange genug, um Ungeduld und Misstrauen zu wecken. Er wollte das Gerät gerade wieder einstecken, als Carstens Nummer im Display auftauchte. Er drückte auf das Symbol mit dem grünen Hörer.

»Carsten? Was ist los? Warum dauert das so lange?«

»Hey, François. Es ist alles in Ordnung. Thomas hat sich gerade gemeldet. Er bringt die Reporterin. Ich schätze, wir brauchen ein weiteres Grab.«

François konnte kaum glauben, was er gerade hörte. »Und mit ihm ist alles in Ordnung?«

»Ja, alles bestens, er ist in ein paar Minuten hier. Soll ich den Laden immer noch abfackeln?«

Der Marquis musste lachen. »Nein, selbstverständlich nicht, du Witzbold. Ich bin gleich bei dir. Die Beerdigung ist erledigt, bereiten wir uns mal auf noch eine vor. Ein guter Tag.«

Er steckte das Handy ein und machte sich auf den Weg. Dabei spielte seine Fantasie schon die nächste Grausamkeit durch. Diese Journalistin hatte ihm ziemlich zugesetzt, dafür sollte sie eine Spezialbehandlung bekommen.

 

***

 

»Er hat es geschluckt. Ihre Männer brauchen ihn nur noch unten in Empfang nehmen.«

Bölder nahm Carsten das Handy vom Ohr und steckte es in einen Beutel für Beweismittel. »Sie haben uns sehr geholfen, Herr Wittke. Ich werde das vor Gericht lobend erwähnen.«

Der Redakteur schüttelte nur den Kopf und lachte gekünstelt. »Ich werde keinen Gerichtssaal von innen sehen. Wenn François begreift, was ich gerade getan habe, ist mein Leben keinen Cent mehr wert. Und nicht mal die Polizei des ganzen Landes wird ihn davon abhalten können.«

»Das ist doch Unsinn. Sie sind bei uns in Sicherheit. Los, Henschel. Führen Sie den Mann ab.«

Doro kam dazwischen. »Einen Moment noch. Weißt du, wo meine Schwester ist?«

»Sie ist tot. Es tut mir unendlich leid.« Sein Blick war gequält und die Stimme vibrierte. Ehrliches Bedauern machte sich in ihm breit.

Zornig schüttelte Doro den Kopf und schrie ihn an: »Das glaube ich dir nicht! Du lügst! Wo ist dann ihre Leiche? Ich will es mit eigenen Augen sehen!«

»Doro, du hast keine Ahnung, mit wem du es hier zu tun hast. Der Mann ist ein Geist, ein Zauberkünstler und ein abgrundtiefer Sadist. Was er verschwinden lässt, das taucht nie wieder auf.«

»Das klingt, als ob du diesen Mistkerl bewunderst.«

»Aber natürlich tu ich das. Hätte ich mich ihm sonst angeschlossen?«

»Da steckt sicher mehr dahinter, als die bloße Bewunderung.« Doro war mittlerweile am Ende ihrer Kräfte. Die Aussage, dass ihre Schwester bereits tot sein sollte, ging an ihrem Verstand vorbei, ohne den Zündfunken zur Akzeptanz. Sie ignorierte es einfach. Solange sie Isabel nicht gesehen hatte, lebte sie weiter.

»Selbstverständlich. Dorothea Sander bleibt ja nichts verborgen. François versprach mir Schlagzeilen, die unsere Zeitung in ganz neue Sphären erheben würde.«

Doro lachte freudlos. »Na, das hat ja wunderbar funktioniert.« Noch ehe sie weitersprechen konnte, hörte sie über das Funkgerät die Meldung: »Er kommt.«

Kommissar Bölder, Doro, ein weiterer Beamter und der mit Handschellen gefesselte Carsten gingen die letzten Stufen hinunter und hinter der Tür in Deckung. François kam zügig angerannt und wollte direkt ins Haus. Da schnappte die Falle zu. Die Uniformierten stürzten aus allen Ecken und Büschen in nächster Nähe und bildeten einen Halbkreis um ihr Ziel. Ehe er sichs versah, hatten sie François überwältigt und ihm ebenfalls Handschellen angelegt.

 

Bölder trat mit Doro ins Freie und erlebte die nächste Überraschung. »Ich kenne diesen Mistkerl. Sie sind doch dieser Privatschnüffler. Kenny, Kennedy, nein, Kenzie – genau, das war es, MacKenzie.«

Doro bedachte den Kommissar mit einem Blick, der vermuten ließ, sie würde an seinem Verstand zweifeln. »Hallo? Das ist das verdammte Arschloch, das wir suchen. Der angebliche Sohn von Anton Bender.«

François krankes Lachen schallte durch die Dunkelheit. »Da liegt dann wohl eine Verwechslung vor, meine Herren. Oh Verzeihung, meine Dame und meine Herren.«

Doro schäumte vor Wut. Sie betonte jedes einzelne Wort, als wolle sie es ihm vor die Füße spucken. »Wo … ist … meine … Schwester?«

»Aber Mademoiselle, Sie verwechseln mich. Ich habe keine Ahnung, wovon Sie sprechen.«

Sein arroganter Blick trieb sie in den Wahnsinn. »ISABEL! Was hast du ihr angetan, du kranker Bastard?«

»Ich kann Ihnen nicht helfen. Gestatten Sie, dass ich mich erst einmal vorstelle? Sie haben sicher schon von mir gehört. Mein Name ist Donatien Alphonse François, Marquis de Sade. Es ist mir eine Ehre, Sie kennenzulernen.«

Doro sprang dem Mann an die Kehle und würgte ihn. »Hör endlich mit dieser Scheiße auf, du gestörter Wichser! Und sag mir, wo meine Schwester ist!«

»Oh ho. Normalerweise weiß ich ein solches Temperament bei Frauen durchaus zu schätzen, doch es ist, wie ich annehme, ein etwas unglücklich gewählter Zeitpunkt für derlei Intimitäten.«

»Ich bring ihn um! Ich bringe das Schwein um, wenn er nicht sofort mit der Sprache rausrückt!«

Der Marquis lachte nur. Dafür trat Carsten aus dem Flur und ging unter strenger Bewachung eines Beamten auf François zu.

»Es ist vorbei. Wir haben verloren, François. Und vielleicht ist es auch richtig so.«

»Du warst immer ein Feigling, Carsten. Dabei hätte etwas Großes aus dir werden können. Ich habe dich schon fast als gleichwertigen Partner angesehen, bei allem was wir durchgemacht haben. Übrigens ... War es deine Idee, mich hierher zu locken? Oder war es der Einfall dieser Schlampe hier?«

»François, wirklich – du bist krank. Deine Schizophrenie nimmt langsam Formen an, die niemand mehr kontrollieren kann. Vor allem du selbst nicht. Weißt du eigentlich noch, wer du wirklich bist?«

François hob die Nase und presste die Luft in seine Brust, um sie stolz wie ein eitler Gockel hervorzuheben. »Aber selbstverständlich. Ich bin François, Marquis de Sade. Und sobald ich das schwarze Buch gefunden habe, das diese Huren mir gestohlen haben, kann ich dies auch beweisen.«

»Mann, du bist völlig übergeschnappt. Es gibt dieses Buch nicht. Das hat sich eine deiner vielen Persönlichkeiten ausgedacht. Dieses Hirngespinst treibt dich an. Damit rechtfertigst du deine Taten. Die Huren, die es dir gestohlen haben, liefern dir den Grund, alle Frauen zu bestrafen, die im selben Alter wie diese mutmaßlichen Prostituierten sind. Dein Verstand hat dieses mysteriöse Buch erschaffen, damit deine Persönlichkeit des Paul MacKenzie Detektiv spielen kann und alle beseitigt, die etwas über dieses ominöse Buch wissen könnten, oder besser gesagt, eben nicht wissen könnten. Denn der Mythos muss gefüttert werden. Muss am Leben erhalten werden. Niemand kennt das Buch, weil es jeden um den Verstand bringt, der es wagt, einen Blick hineinzuwerfen – natürlich! Deshalb wurde es Jahrhunderte lang vor der Welt verborgen?«

François Augen hatten sich verengt. Der blanke Hass prasselte aus ihnen auf Carsten hernieder. Urplötzlich hatte er sich aus den Handschellen befreit und zog einen Dolch unter seiner Kutte hervor. »Danke für Ihre Ausführungen, Herr Doktor, Ihre Sprechzeit ist um!« Er rammte Carsten die Waffe bis zum Anschlag in den Bauch. Es folgten zwei irrwitzig schnelle Bewegungen, mit denen er den beiden Beamten, die ihn in Schach halten sollten, das Genick brach. Und noch ehe die anderen realisieren konnten, was geschah, war François auch schon im Schutze der Nacht verschwunden.