Restlaufzeit?
WIE VIELE UND WAS FÜR JAHRE BLEIBEN MIR
NOCH?
Jeder, der fünfzig wird, stellt sich irgendwann
mal diese Frage. Verständlich, aber gänzlich für den Arsch, um es
mal deutlich zu sagen. Denn, wenn man sich zu oft, zu intensiv mit
dieser Frage beschäftigt, muss man zwangsläufig schlecht drauf
kommen. Mir als Zwangscharakter und neurotisches Nervenbündel ist
das selbstverständlich passiert. Ich malte mir aus, dass es ab
jetzt nur noch bergab gehen wird, sah mich schlurfend und sabbernd
im Altenheim herumtapern und stellte mir vor, ich würde als
Alzheimerpatient jeden Tag neue Leute kennenlernen - nämlich meine
Familie. Es war grauenhaft. Man muss das lassen. Ganz konsequent
verdrängen, so was. Ich versuche das jetzt auch. Geht irgendwie
immer besser. Denn mir wurde sozusagen kürzlich der Kopf
gewaschen.
»WIE WÄR’S ZUR ABWECHSLUNG MAL MIT EIN WENIG
DANKBARKEIT«, SAGTE MIR ZU DIESEM PROBLEMFELD EIN GUTER FREUND, DER
NOCH ÄLTER IST ALS ICH.
»Denk doch mal dran, was du alles schon erlebt
hast. Du hast ‘ne tolle Frau und zwei gesunde Söhne. Du bist - mal
abgesehen von deiner grundsätzlichen Vollklatsche - gesund. Hast
einen guten Job. Was willst du denn noch vom Leben?«
»Dass es immer so weitergeht«, sagte ich.
»Das wäre total ätzend«, antwortete er. »Stell dir
vor, du und deine Lieben, ihr wäret unsterblich. Dann wäre alles
irgendwie egal. Alles könnte man auch morgen noch machen. Der
Augenblick, der glückliche Moment, wäre nichts mehr wert. Nur weil
wir sterblich sind, und das immer bewusst oder unbewusst ›wissen,
können wir die Dinge wirklich schätzen. Unsterblichkeit würde uns
das alles nehmen.
ALSO MACH DEINEN FRIEDEN DAMIT, DASS DU EINES
TAGES VON DIESER ERDE VERSCHWINDEN MUSST. IST EH NICHT GENUG PLATZ
DA.«
Ich fand das etwas krass formuliert. Aber im
Grunde hatte er ja Recht. Mir ging es gut. Klar, mir schien nicht
jeden Tag die Sonne aus dem Arsch. Aber so insgesamt - was die
echten »basics« betrifft, die wirklich wichtigen Dinge - war alles
in Butter. Ich hoffe, dass es noch lange so weitergehen wird. Aber
immer geht eben nicht. Alles ändert sich: meine Familie und meine
Freunde, die Welt, und ich selbst ändere mich, und am Ende ist das
ja auch okay so. Hauptsache, es ändert sich nicht immer nur zum
Schlechten. Aber daran kann man ja (mit-)arbeiten.
Und dann gab mir mein alter Kumpel noch etwas auf
den Weg: »Ich bin jetzt 57«, sagte er und goss sich einen Whisky
ein. »Und glaub mir, in diesem Alter sieht man vieles so viel
lockerer als mit fünfzig.
Man hat einiges hinter sich und hoffentlich noch einiges vor sich.
Aber die Weisheit ist da. Vor allem, wenn es um Sachen geht, über
die man sich früher geärgert hat.
WEISST DU, EINER DER UNTERSCHÄTZTEN VORTEILE
DES ALTERS IST, DASS MAN SICH IN KRISENSITUATIONEN SOZUSAGEN
INNERLICH ›UMDREHEN UND ZURÜCK-SCHAUEN KANN. MAN KANN SICH FRAGEN:
HEY, WIE OFT IN DEINEM LEBEN WARST DU SCHON IN EINER SOLCHEN ODER
EINER ÄHNLICHEN SITUATION?
Was hast du damals gedacht und gemacht? Was hast
du dir alles ausgemalt, und wie wichtig hast du das damals alles
genommen? Und was war dann wirklich vier Wochen später los? War das
alles wirklich so wichtig? Gab es Grund zur Aufregung? Musstest du
gleich handeln? Sofort mit dem Holzhammer los auf die Baustelle?
Oder hätte man das Ganze auch gelassener angehen können? War das
alles wirklich ein so großes Problem?« Ich nannte diesen, meinen
älteren Kumpel, von diesem
Tag an Dalai Lama. Eigentlich hätte ich ihn Horst
Lama nennen müssen, weil er so heißt, aber das hätte den wirklich
spirituellen Wert seiner Einlassungen geschmälert. Denn er hatte
verdammt Recht. Ich habe dieses »Umdrehen« und Zurückschauen
mehrfach in Krisensituationen ausprobiert - und es hat
geholfen.
WEITERSAGEN!