EPILOG
Das Haus in der Prospect Street hatte ein steinernes Fundament, das ein erfahrener Maurer vor über einhundert Jahren angelegt hatte. Das hatte Faith im Februar herausgefunden, als sie vor der Kellertür Schnee geschaufelt hatte. Bis dahin hatte sie dem Fundament kaum Beachtung geschenkt, aber jetzt sprang die Symbolik sie förmlich an. Als sie die Schneewehen beseitigt und dabei den Übergang zwischen dem Sandstein und den kirschroten Ziegelsteinen erstmals bewusst wahrgenommen hatte, war ihr eine Idee gekommen.
Heute früh war Faith von einem atemberaubenden Sonnenaufgang geweckt worden, aber diesmal war sie nicht beunruhigt, da sie dieses Omen auf Anhieb hatte deuten können. Ja, etwas Großes würde sich ereignen, und sie konnte es kaum erwarten.
Die Frühlingssonne schien auf den neu gestalteten Garten und wärmte sie und ihre Familie, die sich in ihm versammelt hatte, und Faith reichte ihrer Mutter einen schlanken Meißel und einen Holzhammer.
„Wirklich, Faith, du meinst, das geht so?“ Lydia hatte ihren Vornamen bereits mit Kreide auf die Stelle geschrieben, die sie gemeinsam ausgesucht hatten: zwei Meter neben der Tür. Bald würden Kamelien die Stelle umrahmen; die neuen Pflanzen standen schon in ihren Bottichen zum Einpflanzen bereit.
Faith hatte schon erläutert und demonstriert, was geschehen sollte. „Ich habe es ausprobiert: Der Stein ist weich genug. Versuch es. Es wird schon gehen. Du musst ja Michelangelo keine Konkurrenz machen.“
Lydia, die noch immer das himbeerrote Kostüm trug, das sie heute früh für Davids erste Predigt angezogen hatte, bückte sich, setzte den Meißel an und fing an, mit dem Hammer darauf zu schlagen.
„Hast du einen Fotoapparat?“ fragte Karina ihre Schwester.
„Oh, das hätte ich fast vergessen.“ Faith winkte Alex heran, der Jeremy durch den Garten jagte. „Ihr zwei, tretet nicht auf die Osterglocken.“
Die beiden Jungen kamen zu ihnen, und Faith bat Alex, die Kamera herzubringen. „Warum kann Remy das nicht tun?“ beschwerte er sich.
„Sie holt gerade Dottie Lee ab.“ Faith warf einen Blick zum Nachbarhaus und entdeckte die alte Frau, die sich – mit Titi auf dem Arm – gerade durch die Hecke zwängte. Mit Jodys Hilfe hielt Remy die Zweige zur Seite, so dass DottieLee hindurchschlüpfen konnte.
Alex murmelte irgendetwas über Sklavenarbeit und ging zur Kellertür.
Faith spürte Pavels Arme, die von hinten ihre Taille umfingen, und lehnte sich an ihn. „Vielleicht hätten wir ein Zelt aufbauen sollen“, flüsterte er ihr ins Ohr. „Mit einem Büfett.“
„So lange wird es nicht dauern. Wir beschränken uns auf den Vornamen. Außer Karina: Sie hat zwei.“
„Karina Hope“, sagte Karina. „Klingt nicht gerade sexy, aber es geht.“
Pavel zog auch sie an sich und hielt die beiden Frauen links und rechts im Arm, und die Schwestern schauten ihrer Mutter zu, die sich mit dem Meißel abmühte. Alex kam zurück und machte ein Foto.
„Violet hat es auch geschafft“, meinte Faith, als Lydia leise über die Plackerei zu schimpfen begann. „Und der Mühlstein ist aus Granit.“
„Ich begreife nicht, warum wir nicht einfach mit einem wasserfesten Stift eine Schlafzimmerwand signieren können.“
„Doch, du weißt es.“
Lydia murrte, klopfte aber weiter. Als Jeremy seine Hilfe anbot, umarmte sie ihn und zeigte ihm, wie er den Hammer halten musste.
„Das ist ein ziemlich erhebender Moment“, sagte Pavel.
Faith stimmte ihm zu. Es war erhebend.
Sie waren eine ganz andere Familie als noch vor einem Jahr. Faith’ und Davids Scheidung war rechtsgültig geworden, und Lydias und Joes war auf dem Weg dahin. Letzte Woche hatte Lydia den Kaufvertrag für ein Haus in Alexandria unterzeichnet, und jetzt war sie dabei, einzuziehen und Kisten auszupacken. Karina und ihre Kinder, die gerade Osterferien hatten, waren mit dem Auto von Kanada angereist, um ihr zu helfen.
Das Happy End von Hope Hustons Geschichte hatte, wie erwartet, viel Aufsehen erregt. Hams Exklusivbericht, in dem aber Teile der Wahrheit ausgelassen worden waren, hatte den Anfang gemacht.
Es gab keine Enthüllungen über Hopes wahren Vater, und die Trennung von Joe und Lydia wurde als einvernehmliche, wenngleich schmerzliche Auflösung einer Ehe dargestellt, die dem immensen emotionalen Druck nicht standgehalten hatte. Wenn irgendjemand sich wunderte, warum Joe sich nie mit seiner wiedergefundenen Tochter fotografieren ließ, würde ihm das halt für immer ein Rätsel bleiben.
Joe hatte angekündigt, sich mit dem Ende der laufenden Amtsperiode aus dem Senat zurückzuziehen. Zwar weigerte er sich noch immer, Faith zu treffen, aber in einem knappen Telefonat hatte er ihr mitgeteilt, dass er sich in Süd-Virginia niederlassen wollte, wo er seine Wurzeln und zudem Verbindungen hatte. Sie wusste von Lydia, dass er bereits wegen eines Beraterpostens verhandelte.
Die Polizei und das FBI hatten die Familie ausgiebig vernommen, aber bis jetzt hatten die spärlichen Angaben über Sandor Babin alias Alec den Tonnenmann, die Faith und Pavel preisgegeben hatten, nicht zu dessen Ergreifung geführt. Faith und Pavel hofften, dass er seine letzten Jahre in Frieden verleben würde.
„Ich sehe, dass ihr ohne mich angefangen habt“, sagte Dottie Lee.
„Hör mal, du kannst das gern alles selbst übernehmen, wenn dich das glücklich macht.“ Lydia stand auf. „Okay, der Anfang ist gemacht.“
Faith warf einen Blick auf das Fundament. „Mutter, du hast den Stein kaum angekratzt.“
„Mein Name ist gut genug zu lesen. Ich habe später reichlich Zeit, ihn für die Nachwelt noch tiefer einzumeißeln. Wir machen mit Karina weiter.“ Lydia reichte ihrer älteren Tochter das Werkzeug.
Karina lachte. Faith liebte diesen Klang. Diese Schwester, dieses Phantom, das sie ihr Leben lang verfolgt hatte, war warmherzig, witzig, intelligent und stand mit beiden Beinen im Leben. Faith freute sich darauf, sie besser kennen zu lernen. Für den Frühsommer hatten sie eine Kreuzfahrt gebucht: nur die beiden Schwestern und Lydia.
„Ich will ja nicht klagen“, meinte Karina, „aber ich habe mehr zu meißeln als die anderen.“
„Vergiss die Linie zwischen Mutters Namen und deinem nicht.“ Die drei Frauen hatten beschlossen, ihre Namen zu verbinden. Sie waren lange genug getrennt gewesen.
„Ich war mir absolut sicher, dass ich diesen Tag noch erleben würde“, seufzte Dottie Lee.
Lydia ging zu ihr hinüber. „Du hast deinen Teil dazu beigetragen, dass er gekommen ist“, räumte sie widerwillig ein.
„Wow, Lyddy, das klang beinahe wie ein Lob.“
„Streich dir den Tag im Kalender an. Wann bist du schon mal von einer Frau gepriesen worden?“ Die alten Freundinnen guckten einander an und lächelten.
Von der Kellertreppe klangen Schritte herüber, und David und Ham traten aus dem Haus. David hatte noch seinen Anzug an, Ham ein Sportsakko und Jeans. „Haben wir den großen Augenblick verpasst?“ fragte David.
„Kommt in zehn Jahren wieder: Dann sind wir vielleicht fertig“, erwiderte Faith. „Es wird ein Weilchen dauern, bis die Rillen tief genug sind. Aber es ist ein Anfang.“
Remy und Alex nahmen ihren Vater in die Mitte, und er legte ihnen je einen Arm auf die Schulter. Die vier Bronsons hatten eine dreimonatige Familientherapie hinter sich, und so anstrengend sie auch gewesen war, sie hatte bei ihnen allen spürbare Erfolge gezeigt.
Remys Verhalten war zwar nicht makellos, aber wenn Faith Probleme mit ihrer Tochter hatte, suchte sie gemeinsam mit David nach einer Lösung. Die Berichte aus der Schule klangen ermutigend, und Remy lernte wieder ernsthaft und mit Freude Klavier spielen.
„Ich danke euch allen, dass ihr heute früh gekommen seid“, sagte David. „Das hat mir viel bedeutet.“
Faith war stolz auf David. Er machte ein Praktikum in einer Kirche in der Innenstadt, und heute hatte er zum ersten Mal auf der Kanzel gestanden. Seine Predigt hatte sich um Vergebung gedreht und war sowohl inspiriert als auch inspirierend gewesen. David hatte seine Berufung gefunden.
Ihre Blicke trafen sich, und sie lächelte. „Du warst großartig.“ Sie strahlte auch Ham an. „Findest du nicht?“
Ham grinste. „So gut, dass ich in zwanzig Jahren gern noch mal mitkomme, um zu prüfen, ob er es dann noch besser kann.“
„Wir wollten euch von den Kindern erlösen“, meinte David. „Aber wir haben Zeit.“
Karina, die die ganze Zeit gemeißelt hatte, stand auf. „Okay, okay. Es ist schwieriger, als es aussieht. Aber wenn man genau hinschaut, erkennt man schon, dass es mal richtig gut wird. Faith, du bist dran. Und schafft uns diese Kinder vom Hals.“
Faith nahm den Meißel. Wie Lydia hatte Karina nur die Oberfläche etwas angekratzt, aber sie hatten reichlich Zeit, ihr Werk zu vollenden. Faith hatte sich nicht aus Boshaftigkeit für Stein entschieden. Das Medium erschien ihr perfekt. Es war die Mühe wert: Ihre Namen würden auf ewig hier stehen. Auf ewig vereint.
Faith kniete sich hin, fügte ihren Namen hinzu und verband ihn mit Karinas. Wie die anderen plagte sie sich ab und brauchte viel Zeit, aber die hatte sie auch.
Als sie sich schließlich aufrichtete, applaudierten alle. Dann zerstreuten sie sich. David und Ham nahmen Remy und Alex mit. Lydia schloss sich Karina und deren Kindern an. Dottie Lee verschwand durch die Hecke.
Schließlich blieb Faith mit Pavel allein.
„Na, war das nichts?“ fragte sie ihn mit glänzenden Augen. „Ich hätte nie gedacht, dass es einen solchen Tag für uns geben würde.“
„Ein Neuanfang.“
In den Monaten, seit sie Karina gefunden hatten, hatte Pavel geduldig dazu beigetragen, dass alle in ihre neuen Rollen hineinwuchsen, und seine Medienkontakte spielen lassen, um der Familie eine faire Berichterstattung zu garantieren. Er hatte viel Zeit bei „Scavenger“ verbracht, um dort geordnete Verhältnisse zu hinterlassen und herauszufinden, ob und wie er künftig noch in die Geschäfte eingebunden sein wollte. Wie alle anderen hatte auch Pavel sich durch die Geschehnisse verändert.
Faith wartete, aber er fuhr nicht fort. Pavel hatte alle ihre Vorhaben unterstützt, aber sie waren selten zu zweit, und obwohl er sich sehr einfühlsam verhalten hatte, waren sie die ganze Zeit nicht miteinander im Bett gewesen. Sie hoffte seit Monaten auf ein Zeichen, dass er mehr wollte. Aber offenbar erwartete er dieses Signal von ihr.
„Ja?“ meinte sie schließlich. „Was für ein Neuanfang?“
„Ich schätze, das bestimmst du.“ Er wippte auf seinen Absätzen.
Faith hatte mehr als ein Jahr damit zugebracht, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Sie war stolz auf alles, was sie erreicht hatte – und auf alles, was sie hinter sich gelassen hatte. Es gab einiges in ihrem alten Leben, auf das sie gut verzichten konnte.
Der Mann vor ihr gehörte nicht dazu.
Sie streckte ihre Hand aus, und er ergriff sie. „Wolltest du beweisen, wie geduldig du sein kannst?“ erkundigte sie sich. „Manchmal warst du so rücksichtsvoll und zurückhaltend, dass ich mich schon gefragt habe, ob du der vielen lieben Menschen in deinem Leben vielleicht schon überdrüssig bist. Zu viel des Guten.“
„Ja, ich bin ein Großmeister der Zurückhaltung, nicht? Ich sollte einen Orden bekommen. Und einen für Vertrauenswürdigkeit.“
„Ich weiß, dass wir uns trauen können, Pavel.“
„Komisch, dass du es so ausdrückst. Eines Tages könnte ich dich genau darum bitten.“
Sie lachte ihn an. Eigentlich hatte sie gedacht, dass ihr heute schon genug Glück zuteil geworden war, aber Pavels Liebe bedeutete ihr mehr als alles andere. Sie war das Maß ihres Glücks.
Das wusste sie nun ganz sicher.
„Du willst mich, mit all meinen Schwächen und Fehlern?“ „Im Moment würde es mir vollauf genügen, dich mit zu mir zu nehmen, bis die Kinder zurück sind. Kommst du mit?“
Sie drückte seine Hand so fest, dass es wehtat. „Ich wollte dir ein Abendessen anbieten, eine echte, selbst gemachte Mahlzeit. Nur für uns beide. Ich muss doch endlich das Versprechen einlösen, das ich dir gegeben habe, als du mein Klavier gerettet hast.“
„Du kannst bei mir kochen.“
„Wir essen spät?“
Er zog sie an sich und küsste sie. Das war die Antwort, die sie ersehnt hatte.
– ENDE –